- 62. LUST, Oktober/November 00
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- Zwischen allen Stühlen?
Schwul in der gewaltfreien Bewegung, gewaltfrei
in der Schwulenbewegung
von Andreas Speck
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- Als schwuler Mann in der gewaltfreien Bewegung
aktiv zu sein, ist nicht immer ganz einfach. Ebenso ist es nicht
unkompliziert, als Gewaltfreier sich in der Schwulenbewegung
zu engagieren, oder sich gar in der schwulen Szene "zu Hause"
zu fühlen. Es scheint, als liessen sich diese beiden Facetten
meiner Persönlichkeit nur schwer miteinander vereinbaren.
Das Gefühl stellt sich ein, »zwischen allen Stühlen«
zu sitzen und nirgendwo richtig dazu zu gehören, nirgendwo
mit der ganzen Persönlichkeit akzeptiert zu werden.
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- Mit diesem Artikel will ich genau diese Fragen
zur Diskussion stellen. Es muss doch mehr Schwule in der gewaltfreien
Bewegung geben, denen die gleichen Fragen unter den Nägeln
brennen (geht man von den üblichen 5 - 10% aus, dann müssten
z.B. bei X-tausendmal quer im Wendland 1997 ca. 225 - 450 Schwule
dabei gewesen sein. Wo sind sie?)? Es muss doch mehr Gewaltfreie
in der Schwulenbewegung geben (übliche Prozentzahlen gibt
es hierzu nicht), die in der Schwulenbewegung/Szene so ihre Probleme
haben? Trotzdem sind diese Fragen nirgends Thema.
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- Schwul in der gewaltfreien Bewegung
Die gewaltfreie Bewegung hat sich in der Theorie die Bekämpfung
von direkter und struktureller Gewalt und damit auch von Heterosexismus
und antischwuler Gewalt auf die Fahnen geschrieben. Trotzdem
fällt auf, dass schwule Themen in der Praxis der gewaltfreien
Bewegung keine Rolle spielen, und auch in den Medien der Bewegung
(Graswurzelrevolution, antimilitarismus information, illoyal,
FriedensForum, etc...) eigentlich keine Rolle spielen.
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- Auch beim Thema Alltagsgewalt wird Gewalt
gegen Schwule in der Regel nicht wahrgenommen, gedacht wird an
rassistisch motivierte Gewalt, an Gewalt im Stadtteil, an (Jugend)Kriminalität.
So weit, so schlecht. Darüber hinaus wird in der Bewegungskultur
die Existenz von Schwulen schlicht nicht wahrgenommen. Heterosexismus
ist in der gewaltfreien Bewegung Alltag (nicht mehr als in der
'normalen' Bevölkerung aber auch nicht weniger); offene
Homophobie dagegen gibt es zum Glück selten.
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- Als Heterosexismus wird ein System bezeichnet,
nach dem Heterosexualität die angenommene Norm darstellt.
Heterosexismus ist weit verbreitet und häufig schwer auszumachen.
Heterosexismus zwingt Schwule und Lesben permanent gegen ihre
Unsichtbarkeit zu kämpfen, was es erschwert, eine positive
sexuelle Identität zu entwickeln (Blumenfeld/Raymond, 1988:
244).
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- Beispiele:
gewaltfreies Aktionscamp
Im Rahmen eines Camps einer grösseren gewaltfreien Aktion
irgendwann in den letzten Jahren gab es am Öko-Produkte-Stand
lobenswerter Weise auch Kondome. Die OrganisatorInnen hatten
also durchaus mit sexuellen Wesen auf dem Aktionscamp gerechnet.
Allerdings nur mit Heterosexuellen. Weder gab es spezielle Kondome
für Schwule, noch wurde an Gleitgel gedacht. Homosexuelle
Bedürfnisse gab es wohl in den Vorstellungen der (wohl Heterosexuellen)
Stand-OrganisatorInnen innerhalb der gewaltfreien Bewegung nicht.
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- Männerseminar in einer gewaltfreien
Bildungseinrichtung
Auf einem Seminar zum Thema Männlichkeitsvorstellungen ging
es natürlich am Rande auch um Beziehungen, die allerdings
zunächst ebenfalls als Beziehungen zu Frauen gedacht waren.
Das Thema 'Männerfreundschaft' hingegen wurde nur entsexualisiert
gedacht. Mit der Anwesenheit von Schwulen auf einem solchen Männerseminar
wurde scheinbar nicht gerechnet. Warum eigentlich nicht?
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- Ignoranz bei der Organisation einer Konferenz
Im Rahmen der Organisation einer internationalen Konferenz wurden
von den örtlichen OrganisatorInnen in einem Land der südlichen
Hemisphäre Bedenken gegen die Einbeziehung von schwulen
und lesbischen Themen geäußert, da mit fundamentalistischen
Angriffen gerechnet wurde. Die ersten Rückmeldungen aus
dem internationalen Vorbereitungskomitee lauteten mehr oder weniger
einstimmig »canceln, falls dies vor Ort gewünscht
wird«. Nicht nur wurde die Präsenz von Schwulen und
Lesben im Vorbereitungskomitee ignoriert, sondern es wurde auch
deutlich, dass dem Thema keine Bedeutung zugemessen wurde.
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- Hiermit reicht es. Andere können wahrscheinlich
zahlreiche Beispiele ergänzen. Gerade im mehr oder weniger
'privaten' Bewegungsalltag wird dies noch deutlicher. Es ist
mir noch nie begegnet, dass eine Person nicht automatisch davon
ausgegangen wäre, dass ich heterosexuell bin. Das Gegenteil
muss immer erst deutlich gemacht werden (und zwar sehr deutlich),
sonst wird es schlicht ignoriert. Gewaltfreie (Männer) sind
Heteros, und nix anderes! Ignoranz gegenüber Schwulen ist
in der gewaltfreien Bewegung an der Tagesordnung, die gewaltfreie
Bewegung, eine heterosexistische Bewegung?
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- Gewaltfrei in der Schwulenbewegung. Diese
Probleme gibt es natürlich in der Schwulenbewegung oder
der Schwulenszene nicht. Hier stellt Schwulsein die Norm dar,
hier kann ich meine schwule Identität ausleben. Doch dafür
tauchen andere Probleme auf, die mit meiner gewaltfreien Identität
zusammenhängen. Und damit meine ich nicht, dass die Schwulenbewegung
gewaltsame Aktionsformen propagiert (dazu ist sie viel zu bieder),
nein, es geht mir um Politikkonzepte, aber auch um Szenealltag.
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- Beispiele:
- CSD, (nicht nur) in Oldenburg
Im Zusammenhang mit dem "Christopher Street Day" ist
in diesem Jahr in Oldenburg die Diskussion ziemlich hoch her
gegangen. Es ging im wesentlichen um die Frage der Beteiligung
von schwulen/lesbischen PolizistInnen und den UniformfetischistInnen
der "Green Berets". Als Gewaltfreier stand ich hier
vor dem Problem, entweder meine antimilitaristischen Positionen
für diesen Tag zu vergessen, zu Hause zu bleiben, oder mein
Unbehagen deutlich zu machen. Ich entschied mich für letzteres,
indem ich eine Fahne "Auch schwule Soldaten sind Mörder"
mitführte, sozusagen eine Demonstration in der Demonstration.
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- Schwule Anti-Gewalt-Arbeit
Die Arbeit gegen antischwule Gewalt, wie sie z.B. vom Lesben-
und Schwulenverband Deutschland (LSVD) betrieben wird, setzt
auf eine enge Kooperation mit der Polizei. Nicht nur wird die
Geschichte ignoriert, in der Schwule selbst oft Opfer polizeilicher
Massnahmen waren, sondern die Polizei als Gewaltinstitutionen
wird nicht thematisiert. Hilfe in der Arbeit gegen antischwule
Gewalt wird von "härterem Durchgreifen" der Polizei
erwartet und damit wird letztlich repressiven "zero-tolerance"-Konzepten
innenpolitischer Hardliner in die Hände gespielt.
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- Schwule zum Bund?
Im Rahmen der Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung steht
»Schwule in die Bundeswehr« häufig weit oben.
Während natürlich die vorhandenen Diskriminierungen
von Schwulen in der Bundeswehr nicht ignoriert werden dürfen,
wird aber die Frage nach den Zielen von schwuler Emanzipation,
und nach dem Charakter von Militär als Institution zur Produktion
heterosexueller Männlichkeit, nicht thematisiert. Es reicht
auch hier. Auch hier können andere wahrscheinlich zahlreiche
Beispiele ergänzen, und wenn es um die "Szene"
geht, dann wird es erst recht schwierig. Auswege?
Gibt es Auswege aus dieser Situation, die den permanenten Spagat
zwischen den Stühlen beenden können? An die gewaltfreie
Bewegung möchte ich zumindest die Forderung formulieren,
ihren Heterosexismus und ihre hinter Toleranz versteckte Homophobie
zu reflektieren. Nach Riddle (1985) gibt es vier Marker, die
darauf hinweisen können, ob Homophobie reduziert wurde:
- Unterstützung - die Bereitschaft, für die Rechte
von Schwulen und Lesben einzutreten, wie dies auch für andere
Minderheiten selbstverständlich ist;
- Wertschätzung - Anerkennung, dass es erheblicher Stärke
und erheblichen Mutes bedarf, offen schwul oder lesbisch zu leben;
- Würdigung - Schwule und Lesben werden für ihren Beitrag
zur Vielfalt in der Bewegung/Gesellschaft gewürdigt;
- Anerkennung - Schwule und Lesben werden als unverzichtbarer
Teil der Bewegung/Gesellschaft angesehen.
Wie sieht's da mit der gewaltfreien Bewegung aus?
- Ähnlich lässt sich an die Schwulenbewegung
die Forderung formulieren, sich mit ihrer Verstrickung in gesellschaftliche
Gewaltstrukturen auseinanderzusetzen. Wo trägt die Schwulenbewegung
durch ihre Politikformen zur Stabilisierung dieser Gewaltstrukturen
bei? Wo grenzt die Schwulenbewegung andere Minderheiten (auch
aus den eigenen Reihen) aus ImmigrantInnen, Behinderte, Punks,
Menschen, die nicht den Normen des schwulen Lebens entsprechen
(wollen)?
Ich fürchte, es ist noch ein weiter Weg, bis »schwul
und gewaltfrei« nicht mehr nur als Balanceakt zwischen
zwei Stühlen gelebt werden kann.
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- Literatur:
Albrecht-Heide, Astrid und Holzkamp, Christine, 1998: Lebensformen
und Sexualität. Vielfalt quer zu patriarchalen Leitbildern
Dialogreferat. In: Hartmann, Jutta, u.a. (Hrsg.): Lebensformen
und Sexualität. Herrschaftskritische Analysen und pädagogische
Perspektiven. Bielefeld, Kleine Verlag Blumenfeld, Warren und
Raymond, Diane, 1988: Looking at Gay and Lesbian Life. Boston,
Massachusetts, Beacon Press Riddle, Dorothy, 1985: From Opening
Doors to Understanding and Acceptance: A Facilitator's Guide
for Presenting Workshops on Lesbian and Gay Issues. Boston. Speck,
Andreas, 1996: 'Nebenwiderspruch' Homosexualität. Auch der
Anarchismus hatte so seine Probleme mit dem Laster. Graswurzelrevolution
Nr. 220, Sommer 1996
Andreas Speck
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- mailto:Andreas.Speck@gmx.net
Meine neue website: http://people.freenet.de/ask (deutsch)
My new website: http://people.freenet.de/ask/e_index.html (english)
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- Liebe Leute,
wer hat denn auch behauptet, dass die "Gewaltfreien"
bessere Menschen seien? Wir sinds ja auch nicht und daran glauben
sie vielleicht selbst nicht mal. Das Verhältnis linker Heten
zu Schwulen und Lesben ist hinlänglich bekannt und aufgearbeitet.
- Die heterosexuelle Identität ist in
Wirklichkeit eine anti-homosexuelle Identität wie die männliche
Identität in Wirklichkeit eine anti-weibliche Identität
ist. Daran leiden linke Heten genauso wie rechte, die (einschl.
rechter Lesben und Schwulen) uns allerdings gefärlicher
sind. Das dürfen wir nicht vergessen! (js)
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