62. LUST, Oktober/November 00
Zum Gründungstreffen eine "bundesweiten Schwulen- und Lesben-organisation" (Köln, 26.10.1985)
 
Bewegung und Strategie
von Rüdiger Lautmann
Die Soziologie - so heißt es - ist die Wissenschaft von dem, was auf der Hand liegt und ohnehin allen klar ist; sie sagt es nur etwas geschraubt und verfremdet. Das meiste von dem, was ich als Soziologe hier erzählen will, wird jedem/jeder bekannt vorkommen. Nehmt es als Bestandsaufnahme unserer Lage und der uns berührenden Entwicklungen. Ich will sehr vorsichtig analysieren; aber als Teilnehmer und Betroffener habe ich auch einiges zu empfehlen. Die Geschichte hierzulande und die Erfahrungen aus anderen Ländern legen da einiges nahe.
 
Der gesellschaftliche Ort der Homosexuellen
Wir, die Schwulen und die Lesben, befinden uns auf dem Weg von der "Peripherie" zum "Zentrum" der sexuellen Szene. Wir bewegen uns aus dem Privaten zum Öffentlichen, aus der Sub- hin zur Hauptkultur. Zwar werden die Homosexualitäten in absehbarer Zeit nicht in den Kernbereich gelangen können;
aber sie befreien sich aus dem absoluten Verdikt.
 
Graduelle Stufen von Diskriminierung und Etablierung bestehen nebeneinander. Das verwirrt manchmal den Blick, je nachdem was gerade im Vordergrund des Erlebens steht.

Das Verhältnis zwischen "Normalsexualität" und den "Varianten" ist nicht (mehr) bipolar aufgespalten, nicht als ja/nein, entweder/oder, gut/schlecht vorzustellen, sondern als Kontinuum, als Gefüge konzentrischer Kreise mit abnehmender Legitimität: "Kernzone" = das in Liebe gebundene Paar aus Mann und Frau; "Toleranzbereiche" = z.B. Onanie, Pornokonsum, Singlepromiskuität, weiter außen der Prostituiertenkontakt. "Absolute Ablehnung" = Pädo- und Inzestsexualität; früher auch Homosex.

Dem entsprechen die Stufen des homosexuellen Selbstverständnisses. So wie ich meine soziale Lage deute, bestimme ich meine Handlungsziele. Typischerweise korrespondieren miteinander: (siehe Kasten)
 
Stufen des Sozialstatus bei Abweichung:
 soziale Lage  ausgeschlossen  Toleranz  Akzeptanz
 Definition der Situation:  "Rechtsbrecher"  "Randgruppe"  "Stigma-Umkehr"
 Verhaltensziele:  sich schützen  bedürfnisorientierte Subkultur aufbauen  in Gesellschaft offensiv hineinwirken
 Verantwortung:  "Ich bin schuld"  Niemand ist schuld  Die anderen sind schuld
 politische Ziele:  wohl keine  leben lassen
 Emanzipation
(= Aotonomie und/oder Integration)
 Strategie von Analyse und Aktion:  naming = leiden  blaming = beklagen

 clayming = einfordern

In Stufen vollzieht sich auch die homosexuelle Gruppenbildung. Im Stadium des Ausgeschlossenseins gibt es nur individuelle Kontakte und gelegentliche Treffpunkte. Erst die geduldete Subkultur bietet eine Grundlage für weitergehende Gesellung. Wir befinden uns heute irgendwo zwischen beziehungslosem Nebeneinander (Anomie) und der Konstitution als Gruppe.

Als Homosexuelle leben wir weitgehend in Anomie: die herkömmliche, verdeckte Subkultur bietet nur rudimentäre Begegnungsformen an. Sie regelt nur die Gelegenheitsstruktur, d.i. einen Markt des unmittelbaren sexuellen Austauschs, das Zueinanderkommen und das problemlose Voneinanderwegkommen.

Daher flüchten sich Homosexuelle zu allen Zeiten und Orten ersatzweise in die üblichen Formen wie Herkunftsfamilie, Junggesellenstatus, sogar Eheschließung.

Den Homosexuellen fehlt weiterhin das Wir, d. i. das Band einer Solidarität. Die traditionelle Subkultur zerstückelt die ·Beziehung: hier kommunizieren bloß einzelne für die kurze Zeit eines sexuellen Kontakts. (Dieser Kontakt ist in sozialer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht atomisiert.) "Am Anfang war die Bar" - ja, aber auch nur am Anfang. Gesellschaftlich, politisch handlungsfähig werden wir erst auf anderer Grundlage: jede/r Homosexuelle ist einbezogen, und das Interesse ist außersexuell, d.h. es bezieht sich auf die Person und nicht auf ihre sexuellen Qualitäten.

Erst mit einer "kollektiven Identität" wird eine Gruppe organisations- und bewegungsfähig. Inwieweit also summieren sich bei uns die Einzelorientierungen zu einem Gruppenbewusstsein? Immerhin sind die westlichen Gesellschaften der Gegenwart historisch erstmals der Schauplatz einer weitergehenden Gesellung (freiwillige Vereinigungen aller Art; Begegnungsstätten; Wohngemeinschaften; dauerhafte Beziehungen; manchmal sogar Stadtteile; und als Übergangsform von herkömmlicher Subkultur zu neuer Organisation etwa die touristischen Orte, die von Homosexuellen frequentiert werden).Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
 
Eine soziale Bewegung bilden wir nämlich nicht. Was als Schwulen- und Lesbenbewegung vor zwölf Jahren begann, ist heute ein ältliches Kind. Wir segeln im Windschatten anderer Bewegungen (von Jugend- über Studenten- und Frauen- bis zur Friedens- und Umweltbewegung). Vorsichtig und mit zeitlichem Abstand vollziehen wir gesellschaftliche Entwicklungen nach. Allenfalls steht an, ein "kommunikatives Netzwerk" zu schaffen, wie es eine wirkliche Bewegung voraussetzen würde.

Die Homosexuellen werden fast nie genannt, wenn von den neuen sozialen Bewegungen die Rede ist. Damit ist ihnen beinahe eine kollektive Identität implizit abgesprochen. Aber das wäre zu einfach: die Homosexuellen haben hundert Jahre kollektiver Außendefinition hinter sich, in denen ihnen stets, neben der einheitlichen Abartigkeit des individuellen Wesens, auch ein Zusammenhalt wie Pech und Schwefel zugeschrieben worden ist: die berühmte Cliquentheorie, d.h. wo eine/r ist, zieht er/sie andere nach. Vielleicht werden unsere Zeitdiagnostiker nur deshalb nicht auf die Homosexuellen aufmerksam, weil die nur eine "alte Randgruppe" und keine "neue soziale Bewegung" sind.

Ich glaube: was wir an kollektiver Identität haben, verdankt sich tatsächlich der Verachtung und Verfolgung. Im guten wie im schlechten ist es vom Randstatus geprägt. Wir haben Formen der Kommunikation und des Austauschs entwickelt, insoweit es nötig war, um in den eng gesteckten Grenzen zu leben und zu überleben. Wir haben allerdings kein Wir-Gefühl und keine Gruppenstruktur in dem Sinne entwickeln können, dass wir ein solidarisches und in sich selbst einiges Kollektiv bildeten.

Das ist kein Pessimismus, auch kein Zweckpessimismus. Was nicht ist, kann ja noch werden. In der Tat! Aber es muss nicht, denn es ist keineswegs eine notwendige Bedingung für unsere Selbstorganisation.

Erstes Resümee: Sozial und historisch gesehen befinden wir uns zwischen Subkultur und Bewegung (aber keineswegs zwischen allen Stühlen - eher im Gegenteil).
 
Die Politik einer Homosexuellen-Organisation
Aus der Übergangssituation folgt für mich eine gewisse Bescheidenheit, was unsere Zielsetzung anlangt. Eine "Politik der Homosexualität" soll es geben, aber als Kunst des Möglichen.

"Was wir brauchen ist Macht"? Dieser Satz ist leider entweder banal oder leer. Macht hat oder gebraucht man, aber redet sie nicht herbei. Und wer ist denn "wir"? Das einzige Körnchen Wahrheit steckt in dem Eingeständnis, dass wir offenbar keine Macht haben.
Realistisch ist (wenn auch für manche unerträglich), die Homosexuellen als Minderheit zu betrachten.
 
Damit wende ich mich gegen die Illusion, unsere Eigenaktivität und WIR allein würden in Bewegung setzen können, was wir als Ziel, als würdige Lebensbedingungen anstreben oder hätten in den vergangenen Jahren das "erkämpft", was sich für uns getan hat. Vielmehr stehen wir als eher schwache Akteure in einem Feld wahrhaft übermächtiger Kräfte. Der einzige Trost: auch keine andere Gruppe, kein Verschwörer steuert das Geschehen. Vielmehr profitieren wir von den Entwicklungen, und wir leiden unter ihnen. Was wir können ist: die Abläufe erkennen, durchschauen und nutzen.

Es kann sehr nützlich sein, die Homosexuellen als Minderheit darzustellen. In einem Staat, der die Vielfalt seiner Mitglieder erkennt (vgl. Art. 3 GG für ethnische/religiöse usw. Pluralität) ist dieser Status rechtlich abgesichert ("Minderheitenschutz"). Die Homosexuellen haben bislang nicht einmal diesen Status erworben! Daraus folgt das Politikziel: von der (bloß abweichenden) "Randgruppe" zur (kulturell und politisch etablierten) Minderheit, die es gibt, die weder vernichtet noch verhindert werden kann, die nicht diskriminiert werden darf. Das niederländische Vorbild weist deutlich in diese Richtung.

Als Randgruppe genossen wir noch die Hilfe von Fürsprechern, von sog. Advokaten. Diese Entwicklungsphase dürfte beendet sein. Sie begrenzt sich ohnehin auf eine Starthilfe, und meist geht ihr nach einiger Zeit der Atem aus.

Fürsprecher werden allenfalls noch im Rahmen ihrer eigenen Selbstdarstellung tätig und werden dann auch dazu gebeten, vgl. Starauftritte wie Inge Meysel u.a. Homosexuelle werden heute nicht mehr als sprachlose, hilflose Randgruppe betrachtet. Wir sind nicht die Hungernden in Äthiopien, keine handlungsunfähigen Fixer, keine Eingeschlossenen in Anstalten jeglicher Art, keine artikulationsunfähigen Ausländer und Asylanten.

Wenn wir nun auf eigenen Füßen zu stehen haben und selbständig laufen müssen - wie ist es um unsere Politikfähigkeit bestellt? Hier steht eine schwer zu beseitigende Hürde im Weg, denn das Sexuelle gilt vielen als unpolitisch. Diese Definition behindert die Gegenwehr all derer, die aus Gründen ihrer Sexualität gesellschaftlich diskriminiert werden.

Schwule, Lesben, Pädophile, Prostituierte, Pornokonsumenten usw. deuten sich in ihrem Stigma als privat, nicht aber als politisch abweichend. Organisationsversuche müssen scheitern, solange die Betroffenen darin bloß einen Markt sehen können, auf dem sie etwas bessere Chancen für die Befriedigung ihrer höchstpersönlichen Neigung zu finden hoffen. Die subjektiven Deprivationserfahrungen allein motivieren nicht ausreichend für einen Zusammenschluss. Homosexuelle finden offenbar immer irgendeine Form der Befriedigung. Noch in der extremen Repression des Dritten Reiches passte man die G1ückserwartung an die vorhandenen Möglichkeiten an. Die innere Organisationsfähigkeit ist also begrenzt.

Im Verhältnis nach außen wird verlangt, noch im Protest und im Kampf um Veränderung nicht das reale Machtgefälle aus den Augen zu verlieren. Das Verhältnis zur offiziellen Politik, zum Staat strategisch wie immer - zu bestimmen, heißt politikfähig zu werden und bleiben. Wie aber sind die Akzente einer Homosexuellen-Politik zu setzen?

Unsere Meinungen hierzu bewegen sich zwischen zwei Polen:
- Protest, dessen Ziel undefiniert bleibt, nur "anders" muss es werden;
- Akquisition sozialer Chancen, mit einigermaßen genauen Vorstellungen, was im einzelnen möglich sein muss. Meist geht es darum, Zustände zu eröffnen (Bildung, Beruf, Medien usw.) und Sanktionen abzuwehren.

Auch der absolute Protest kann sehr nützen, zumindest als Gründungseruption. Allerdings fehlen in Deutschland die heroischen Phasen einer "Homosexuellenbewegung".

Abgesehen von dem frühen und in jeder Hinsicht erstaunlichen Karl Heinrich Ulrichs (der überhaupt erste Mensch, der das Lebensrecht der Homosexuellen offen und politisch einforderte) gab es nicht das bedingunslose Aufbegehren, nicht den Kampf gegen Übermacht, nicht die Visionen von Freiheit und Gleichheit für die homosexuellen Lebensweisen. Ganz anders etwa in den Vereinigten Staaten, deren Gründungsimpulse - individuelle Freiheit und Gleichheit der Rechte - noch leben und immer wieder politische Kräfte einer Veränderung mobilisieren.

Uns fehlen die Symbole einer Revolte (wie Stonewall/Christopher Street), fehlen starke Personen aus schweren Anfangsjahren (wie Franklin Kameny oder Barbara Gittings unter vielen anderen). Wir müssen Ideen und ihre Strahlkraft importieren (wie es bereits die Bewegungen der Studenten, der Frauen u.a. taten). Bekanntlich gilt das für unsere gesamte politische Kultur; eine bürgerliche Revolution hat in Deutschland nicht stattgefunden.

Jede minoritäre Selbstorganisation muss sich dieser Schwachstelle unseres öffentlichen Lebens bewusst sein, um kein Übermaß der Erwartungen zu decken. Dennoch hat eine Selbstorganisation den Stellenwert eines Saatbeets: sie geht den größeren Ereignissen wie einer Revolte oder einer sozialen Bewegung voraus (ohne sie notwendig zu erzeugen). Stonewall etwa geschah 1969 keineswegs aus einem Nichts; davor lagen fast 20 Jahre blühenden Vereinslebens (das wir - politische hochfliegend - so gern belächeln).

Welche eigenen Symbole haben wir hervorgebracht? Der rosa Winkel signalisiert Opfer sein, Ohnmacht und Leid. Für die optimistische Seite unserer Selbstbehauptung stehen (dann doch wieder) historische Figuren wie Ulrichs, Hirschfeld oder damalige Gruppen. Deren Rang lässt sich nur dann richtig· ermessen, wenn man sie vor dem wilhelminischen Hindergrund sieht.

Nun konkreter über unsere Ziele. Schon alle bisherigen Gruppen arbeiteten daran, die gesellschaftliche Sichtbarkeit der homosexuellen Existenz zu steigern. Ganz einfach, ob exotisch oder angepasst - jeder Auftritt als lebensfähig steigert das Lebensrecht. Dass wir damit dem bürgerlichen Ruhebedürfnis auf die Nerven gehen, versteht sich und kostet zunächst auch etwas.

Das Ghetto hatte Schutz und Raum geboten, um die homosexuellen Lebensformen zu entwickeln und zu genießen. Seine Bedeutung, seine positiven Seiten dürfen nicht unterschätzt werden. Aber die Entwicklung im Ghetto, wenn voll ausgereift, stößt irgendwann an dessen Mauern. (d. i. an strukturelle Grenzen). Die Kunst besteht darin, die Mauern zu überwinden, ohne sich den Rückzug zu verbauen.

Über Coming-out und Going-public hinaus lautet die Devise: Coming-out-all-over (John Kitsuse). Das heißt: die Abweichenden kommen so vehement aus ihrer Ecke heraus, dass es damit aus und vorbei ist. Was uns an negativer Bewertung zugeschrieben worden ist, bewerten wir nun selber und weisen es zurück. Negative Identität wird in eine positive transformiert - gerade durch die Gegenkritik. Indem wir die anderen mit ihren miesen Bildern von uns konfrontieren, verlassen wir unsere Randposition.

Manch eine/r wird bezweifeln, ob es denn dazu einer nationalen Organisation bedürfe. Ist das Größenwahn? Ist das die "Bundesverband-der-Speiseeishersteller"-Mentalität? Eine Vielzahl kleiner, ortsbezogener und aufgabenspezifischer Gruppen ist sicherlich wichtiger als eine "nationale Großoffensive". In der Form des Entweder-oder würde dieser Vergleich aber in die Irre führen: die Gruppen auf den verschiedenen Ebenen erfüllen verschiedene Aufgaben, es gibt kein Entweder-oder. Für eine landesweite Organisation bleiben einige Dinge, die kommunal nicht getan werden können, darunter etwa:
- die Beeinflussung der Rechtssetzung (Strafrecht, öffentliches Dienstrecht, Seuchenrecht usw.),
- Anstöße zu weiteren politischen Entscheidungen: ohne Artikulation von Seiten einer Interessengruppe kommt vieles nicht in Gang; wir leben in einer Anmelde-Demokratie.
- Repräsentanz in den landesweiten Medien. Anstöße für außenpolitische Initiativen (etwa bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern).
- Auch gibt es einige Koordinationsaufgaben zwischen den berufs- und richtungsspezifischen Gruppen.

Schließlich lassen sich einige Adressaten·von der Fassade einer landesweiten Einigung beeindrucken: sie glauben dann, wir wären eine soziale Bewegung. Das gilt von potentiellen Spendern in den eigenen Reihen über allerlei Sympathisanten in unserer Nähe bis hin zu den politischen Gegnern. Kurz: für alle Leute, die in Kategorie von Menge und Größe, m. a. W. die machiavellistisch denken. Das bloße Vorhandensein einer Organisation hat einen gewissen Machtwert in sich selbst, denn sie macht konfliktfähig. Unsere politischen Verhältnisse sind nun einmal so beschaffen: wer immer es versteht sich an den Trog zu drängen, wird etwas Futter abbekommen. Aber drängeln muss er.

Im Grunde allerdings geht es hier weniger um's politische Kalkül und vielmehr um Präsenz. Auch eine wenigstens auf den Briefkopf GROSSE Organisation steigert unsere Sichtbarkeit. Sie produziert Nachrichten (kaum zu überschätzen, in einer so medienorientierten Gesellschaft) und wird zu Kenntnis genommen.

Wenn unser schlimmstes Manko seit je die Unsichtbarkeit war, dann wird dem hier abgeholfen. Vielleicht können wir dann auch endlich darauf verzichten, uns mit übertriebenen, unbeweisbaren und ganz dubiosen Mengenangaben unglaubwürdig zu machen - jene abenteuerlichen Rechnungen von 4 bis 10 % ("zwei Millionen Menschen der Bundesrepublik sind homosexuell"). Ich halte es für hilflos, wenn wir uns mit Begriffen der 5-Prozent-Klausel hoffähig machen wollten.

Eine Politik der Homosexualität wird nie ein Ruhekissen sein. Vielmehr hat sie stets darauf zu gefasst zu sein, dass unvorhergesehene Ereignisse, also Krisen auftreten. Es gibt wohl kaum einen Politikbereich, der ähnlich störanfällig wäre. Unser Dauerthema ist geradezu die "Wende"; sie wartet stets vor der Tür und ist doch nicht erwartbar.

In diesem Jahrhundert waren das in Deutschland: die Eulenburg-Harden-Affäre 1907; die Konzentrationslager 1933; die Krankheit AIDS 1984.

Die Krisen finden uns bislang stets sprachlos. Sie vernichten große Teile der Innenorganisation. Angst zerschlägt den Zusammenhalt. Rette-sich-wer-kann gilt statt eines Nun-erst-recht. Nicht zuletzt für den Fall des Notstandes wird eine Organisation gegründet.
 
Massenorganisation, Elite, oder?
Immer wieder wird gefragt: wie kann eine Interessengruppe stark werden? Die scheinbar so naheliegende Antwort durch eine große Zahl an Mitgliedern - lässt uns dann schlucken und grübeln.
Auf die weiteren möglichen Antworten kommt man dann erst später:
- durch die Art der Mitglieder,
- durch deren Aktivierung,
- durch Aktivitäten der Organisation selbst.

Dabei stöhnen doch alle freiwilligen Vereinigungen von Außenseitern oder sozial Schwachen über einen Mitgliedermangel. Üblicherweise wird das ökonomisch begründet: der Vorteil für das einzelne Mitglied sei zu klein, um einen Anreiz zu bieten, auch nur geringe Kosten zu übernehmen. Und bei einer Gruppe mit langer und teilweise tödlicher Stigmatradition fällt noch ins Gewicht: das Risiko ist zu groß. Hinzu kommt: die Lebenslagen der Homosexuellen sind so verschieden, dass sich oft nicht klar genug demonstrieren lässt, was die Organisation jeweils zu bieten hätte.

Diese Aufgabe halte ich allerdings für lösbar: auch politische Parteien z.B. vermögen die unterschiedlichsten Interessenlagen anzusprechen - nämlich durch ein breites und gut artikuliertes Programm.

Die Überlegung verweist auf die Aufgabenpalette einer Selbstorganisation: sie muss sich auch an den aktuellen Interessen aller Teile der vertretenen Gruppe orientieren. Ein-Ziel-Gruppe ja, aber viele Mittel und Teilziele. Das ist keine "Bündnisfrage", sondern eine Existenzbedingung der Organisation!

An die ungeheure Verschiedenheit der Homosexuellen knüpfen sich allerlei Probleme, wie noch zu besprechen ist. Aber sie bietet auch Vorteile, nämlich eine unglaubliche Vielfalt an Ressourcen, die in einer solchen Gruppe mobilisiert werden können bzw. könnten, wenn sie nur strategisch genutzt wird. Aus der Mehrfachzugehörigkeit folgt: jede/r Homosexuelle ist auch in anderen Gruppen, Lagen, Orten präsent.
 
Über Freundschaften, Verwandtschaft, Bekanntschaft, Kollegenschaft, Mitgliedschaft in anderen Organisationen, Parteien, Verbänden usw. können die uns betreffenden Fragen überall vorgebracht werden. (Augenblicklich ist dies tatsächlich nur eine Möglichkeit, und vielleicht auch nur Fiktion.) Betrachten wir die Bewegungsgeschichte der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts, dann liegt auch der politische Nutzen einer solchen Strategie zutage, denn das WhK wusste die Vorteile zu nutzen.

Allerdings wird wohl immer nur eine Minderheit der tatsächlichen Homosexuellen Mitglied in einer Selbstorganisation sein. Dies ist ein Element des Unterdrücktseins ohne welches es ja keine Selbstorganisation gäbe. Unsere Entfaltungsmöglichkeiten beruhen auch gar nicht auf einer Massenhaftigkeit des Auftretens. Quantitativ gesehen sind und bleiben wir ein kleiner Anteil.
 
Gewicht gewinnen wir erst dadurch, dass die Existenz der Homosexuellen ernst genommen wird. Dazu tragen wir in dem Maße bei, wie es gelingt, uns darzustellen
- als Herausforderung an die Rechts- und Sozialstaatlichkeit,
- als Anstoß für kulturelle Entwicklungen,
- als Sinnbild für den Wandel herkömmlicher Maskulinität und für die Egalisierung des Geschlechter-Verhältnisses,
- auch als Sinnbild für die Entpreußisierung Deutschlands.

Wir beeindrucken nicht durch die Stärke von Bataillonen, sondern durch die Leistungen für die Welt der Symbole, an denen die Gesellschaft ihr Leben ausrichtet. Ein gewisses Selbstverständnis als Avantgarde schadet dabei nicht, es wird sogar von der trägen Mehrheit akzeptiert: der Hunger nach Neuem ist übermächtig.

Politische Ziele sind umso leichter zu erreichen, als sie auch das Innenleben der Organisation prägen. Der Typus einer Interessenvertretung legt wohl einige Prinzipien nahe:
- eine offene Form der Mitgliedschaft (Gruppen und Individuen)
- eine große Bandbreite der Zugehörigkeiten, politisch gesehen (wir sind kein Ableger irgendeiner Partei und brauchen auch keine abzulehnen), bewegungsmäßig (von "schwul" bis "homophil"), generationell (dazu unten) u.a.
- Formen des Mitwirkens von Sympathisanten
- Willensbildung nach demokratischen Verfahrensregeln (Mehrheit- und Repräsentationsprinzip)

Welches interne Kommunikationsverhalten schwebt uns vor, wie wollen wir "miteinander umgehen"? Das soziologische Zauberwort, um die Leistungsfähigkeit einer Organisation zu charakterisieren, lautet "Differenzierung". Das beinhaltet die Absage an gewisse Basisprinzipien wie "jeder kann alles", "jeder macht alles", "alle entscheiden über jedes". Es bedeutet auch die Absage an Plebiszite, denn unsere "Basis" kriegen wir ohnehin nie zusammen.
 
Statt dessen empfehlen sich - so lauten die gesammelten Erfahrungen der gesellschaftlichen Entwicklung:
- Formen der Arbeitsteilung;
- drei verschiedene Mitgliedsrollen (Kerngruppe - Nichtkern - Sympathisanten);
- Delegationsprinzip;
- Trennung von Zielen und Mitteln.

Ein geordnetes Vereinsleben stellt die Mitglieder vor folgende Fragen: Wird Führung ertragen? Wird fachliche Autorität anerkannt und gesucht? Betrachten Cliquen und Fraktionen einander als Feinde oder bloß als Konkurrenten unter einem gemeinsamen Ziel?
 
Alle genannten Strukturbedingungen werden in dem Maße erträglich, wie zwei Prinzipien beachtet werden:
- Gebilde wie Cliquen, Eliten und Arbeitsgruppen müssen offen sein, also ihre Grenzen für andere, vor allem für Neue durchlässig halten;
- die Gebilde müssen kommunizieren (können)
- die Zugehörigkeit zur Organisation steht höher als der Einfluss der Untergruppe.

Das klappt, solange das gemeinsame Ziel gesehen wird. All diese Dinge sind selbstverständlich riskant, d.h. können sich verselbständigen und führen dann zur Entfremdung. Aber das Wagnis zahlt sich aus: Differenzierung steigert die Leistungsfähigkeit. Es ist ebenso banal wie wahr: das Ganze bewirkt mehr ...

Einen Punkt erwähne ich zuletzt, er ist mir aber besonders wichtig: unsere Selbstorganisation sollte so etwas wie einen Vertrag der Generationen enthalten. Etwas verkürzt und aggressiv gesprochen: wenn wieder nur die 20 - 35jährigen das Gruppenleben bestimmen, wird die Organisation schwach bleiben. Die Bindung an eine (späte) Phase der Jugend bedingt Vergänglichkeit der Mitarbeit, kurzen Atem bei der Zielverfolgung und ein Stück Armut. Auf zwei Generationen Homosexueller die im mittleren Alter und die Alten - wird (jedenfalls bei den Männern) verzichtet. Dass es sich so verhält ist vielfach begründet und von keinem "verschuldet"!

Den Homosexuellen fehlt die übliche Form des Lebenslaufs: es gibt keine "homosexuelle Kindheit", bislang auch kaum eine "homosexuelle Jugend", bloß das "homosexuelle Erwachsensein" und vielleicht noch das "homosexuelle Alter". Im Grad ihrer Teilnahme teilen sich die homosexuellen Männer eigentlich nach einer einfachen Linie von drinnen/draußen auf, also danach, ob sie nach den Imperativen der Subkultur (also eine Marktes sexueller Chancen) dazugehören, mitmachen (können) oder eben nicht.
 
Noch unklar ist, ob dies notwendig mit der homosexuellen Lebensweise zusammenhängt oder bloß eine unvollkommene Formung unserer sozialen Existenz bedeutet. Sicher wird sich ein homosexueller von einem heterosexuellen Lebenslauf unterscheiden, weil andere Arten der Partnerschaftlichkeit und (bei Männern in der Regel) keine Aufzucht von Nachwuchs stattfinden. Aber dieser Lebenslauf sollte nicht so ungegliedert bleiben, stets begleitet von der angstvoll erlebten Gefahr des Herauskippens. Die eher distanzierte Form des Gruppenlebens bietet ein Feld für kollektives Lernen.

Was hielte uns denn zusammen, wären da nicht die von uns freiwillig entwickelten Bezüge kommunikativer und kultureller Art? An äußeren Vorbedingungen teilen Homosexuelle doch bloß zwei Merkmale:
- die Tatsache sozialer, sexueller und emotionaler Beziehungen zum gleichen Geschlecht,
- das Unterdrücktsein

Außerhalb dessen haben wir soviel gemeinsam wie jede andere Gruppe, die zufällig aufeinander trifft. In einer Betroffenen-Vereinigung kommt noch hinzu, dass wir nicht, wie die meisten Homosexuellen, die Unterdrückung verdrängen und eine Geheimhaltung aufbauen. Die internen Verhältnisse befinden über Kraft und Erfolg der Organisation.
 
Der ideologische Riss
Nochmals sei unser hervorstechendes und vielleicht ambivalentestes Merkmal erwähnt. Es gibt die Homosexuellen überall: in allen Schichten, allen Lebensaltern, allen Geschlechtern, allen Regionen, Konfessionen usw. Deswegen finden sich alle, aber auch alle Konfliktlinien in unseren Reihen wieder. Wir sind unerhört verschieden, und das Homosexuellsein deckt das immer nur vorübergehend und niemals vollständig zu. Unsere quantitative Stärke ist unsere qualitative Schwäche. Wenn wir das erkennen und anerkennen, sollten wir nach alter therapeutischer Regel - auch damit leben können.

Vielleicht sogar: es ins Positive wenden. Da wir schon allüberall sind, lassen sich die Homosexuellen nicht als Mode, nicht als Teil des Jugendprotestes oder der Alternativbewegung abtun. Es liegt an uns und nicht an den anderen, ob wir uns als Teil, im symbolischen Rahmen anderer Aufbruchsbewegungen inszenieren oder als autonome. Ganz konkret: wenn Schwulenzentren sich als Anhängsel der örtlichen Grünen verstehen oder Lesben als Teil der Frauenbewegung, dann sind damit weitreichende Vorentscheidungen getroffen: für die öffentliche Wahrnehmung, für das Überleben als Organisation und vor allem für die Rekrutierung von Mitgliedern für die eigenen Reihen.

Unser besonderes Problem, eine achtzigjährige Geschichte hindurch, sind die politischen Konfliktlinien. Wir konnten uns immer auf das heftigste untereinander streiten. Der von außen geübte Druck entlud sich zu einem guten Teil nach innen - ein in allen Randgruppen vertrautes Phänomen. Die Auseinandersetzungen haben gute und schlechte Seiten; die Organisationen werden indessen nicht gerade gestärkt. Ich weiß nicht, was die üblere Lösung ist: die Trennung in mehrere Vereine (vgl. das Nebeneinander von WhK und GdE) oder der Dauerkonflikt unter einem Dach (wie er wohl die HAW kennzeichnete).

Worin besteht nun der ideologische Riss? Grausam vereinfachend möchte ich zwei und nur zwei Seiten ausmachen (ohne damit jeder einzelnen Strömung gerecht werden zu können). Mit einer Skizze will ich ein Bild von dem Gegensatz entwerfen und dann erst fragen, ob es nun zwei Paar Stiefel sind oder bloß der linke und der rechte von einem einzigen Paar.

Der eine Pol heißt Revolte. Hierbei überzeugt bloß Radikalität. Schwul- bzw. Lesbischsein bedeutet eine strikte Besonderung. Um diesem Anderen Anerkennung zu verschaffen, muss die gesellschaftliche Ordnung aufgelöst werden. Der notwendigen Veränderung kann keine Grenze gezogen werden, weil unsere Eigenart sich nur bewahren lässt, wenn die Umwelt sich grundlegend wandelt. Jeder Kompromiss würde den Protest einlullen. Lieber auf den Tag X warten, aber dann auch alles kriegen. Die ständige Attacke führt zur kontrakulturellen Bewegung.

Der andere Pol heißt Reform. Die Homosexualitäten werden in die Gesamtkultur eingegliedert - ein Vorgang wechselseitiger Assimilation. Sowohl die gesellschaftliche Ordnung, als auch die homosexuellen Charaktere werden transformiert. Durch unser Mitmachen verändert sich, ja vielleicht sogar zerfällt die herkömmliche Sexualpolitik. Diskriminierungen werden allmählich abgebaut. Jeder Schritt aufeinander zu befördert die Integration, bis eine Gleichberechtigung möglicherweise zunächst nur als soziale Minderheit erreicht ist.

Die Gegensätze lassen sich in politischen Schlagworten vorführen. Opposition oder Partizipation? Militanz oder Kooperation? Regelverletzung oder Respektabilität? Rhetorik oder Pragmatismus? Flammende Reden oder Heulen-mit-den-Wölfen? Reines Gewissen oder Schmutzige Hände?

Beispiele für Themen, bei denen Kontrakultur und Realpolitik aufeinanderprallen:
- "Tuntenlook": gehe ich im Fummel zur Stadtratssitzung oder in Anzug und Schlips?
- "AIDS": ist das ein durch und durch schwules Problem oder betrifft uns das bloß zufällig?
- "Pädosolidarität": weg mit dem gesamten Sexualstrafrecht oder genügt uns das "Reförmchen" einer Streichung des § 175?
- Gebe ich allen Unterdrückten gleichermaßen Solidarität oder konzentriert sich der Verein auf Schwullesbisches?
- Politischer Pluralismus: kooperieren wir ausschließlich mit Protestparteien oder potentiell mit allen?

In solchen Konflikten wird derselbe politische Charakter typischerweise immer der einen von beiden Seiten zuneigen. Politisch-psychologisch lässt sich das durch die Dimension expressiv oder instrumental kennzeichnen. Den einen sind die Ziele wichtig, anderen die Schritte dorthin. Die einen berauschen sich an gewaltigen Programmen, die anderen laben sich bereits an kleinen Erfolgen. Noch einige Stichworte dazu: die Gebärde oder die offene Hand; das phantastische Theater oder der lukrative Handel; eine individuelle Selbstverwirklichung oder die Vereinsexistenz; der große Tod oder ein kleines Leben. Die beiden Positionen wirken ganz konsequent, enthalten aber einige innere Kurzschlüsse, einmal abgesehen davon, was sie ·sich bereits wechselseitig absprechen.
 
Der radikal-kontrakulturellen Position droht stets eine Art von "Orthodoxie des Andersseins" und damit ein innerer Konservativismus. Obwohl das gefeierte "Besondere" doch weitgehend in Reaktion auf Ausgliederung und Randstellung entstanden war, wird es zum Selbstzweck hochstilisiert und erstarrt dann zum Dogma. Andererseits beinhaltet die reformistisch-realpolitische Position immer auch ein Stück Bestätigung für den Status Quo, soweit der nämlich einer Gleichberechtigung gerade nicht entgegenzustehen scheint. Hier macht·man sich dann leicht etwas vor und glaubt, das Ziel sei bereits mit dem Abbau äußerlicher Diskriminierung erreicht. Das kann eine grobe Selbsttäuschung sein (wie sie der ersten Frauenbewegung nach der Erringung des Wahlrechts unterlaufen ist).

Ich habe die uns (auch aus anderen politischen Situationen) wohlbekannten Gegensätze auf zwei Pole konzentriert. Derart zugespitzt erkennt sich vielleicht niemand darin wieder. Wer will schon so extremistisch sein? Vielleicht aber mag man auch ungern alle Konsequenzen der eigenen Position eingestehen, obgleich man sich im Ernstfall genauso verhalten wird.

Beide Positionen haben ihr gutes Recht: sie lassen sich schlüssig begründen und sprechen die Menschen an. Aus den sich entzündenden Debatten bezieht die politische Szene ihre Munterkeit. Zwar wird jede Homosexuellen-Politik notwendig widersprüchlich sein, denn unter gegebenen Verhältnissen gibt es kein "reines" Konzept für unser Vorgehen. Aber aus den Widersprüchen folgt auch eine Dynamik: die Unruhe, das Fragen nach Neuem und nach Mehr. Den Stillstand, der uns immer wieder lähmt, produzieren wir nicht selbst; er wird uns von außen auferlegt.

Begreifen wir also den ideologischen Riss als unaufgebbares Merkmal unserer Situation. Es sind die beiden Seiten einer einzigen Münze; die Seiten besagen Verschiedenes, aber zwischen ihnen befindet sich unsere politische Existenz. Jede/r von uns kennt das aus dem alltäglichen Leben: Diskriminierung und Etablierung, Ausgeschlossensein und Dazugehören bestimmen jede Situation, in denen wir als Schwule oder als Lesben auftreten.
 
Den Konflikt nutzen
Obwohl sie einander ideologisch sozusagen bis aufs Blut bekämpfen, können die polaren Strategien von Revolte und Reform in der Realität sich recht nahe kommen. Nicht als Mischform, sondern in einem zeitlichen und sachlichen Nacheinander. Die amerikanischen Erfahrungen der sechziger und siebziger Jahre werden so beschrieben: zunächst arbeiteten reformorientierte Organisationen für längere Zeit; es ergaben sich Fortschritte in verschiedenen Lebensbereichen; daraufhin stiegen die Erwartungen und Ansprüche der homosexuellen Frauen und Männer an; sie entwickelten einen Stolz auf schwules/lesbisches Sosein ("Identität"); schließlich fanden anlässlich repressiver Ereignisse Massendemonstrationen und gewaltsame Auflehnungen statt. So gebiert die Reform die Revolte. Umgekehrt kann allenthalben beobachtet werden, wie nach einem revoltehaften Geschehen reformorientierte Organisationen auf die Beine kommen.

Die amerikanischen Erfahrungen zeigen allerdings auch, wie gefährlich es ist, kontrakulturelle und reformistisch gesonnene Aktivist/inn/en zusammenzuspannen. Sie lähmen einander, ohne dass jede Seite ihre spezifische Leistung erbringen könnte. Die Organisation wird paralysiert.

Um optimal handlungsfähig zu werden, wird eine Vereinigung das Potential beider Strategien und die Kraft der Menschen beider politischer Temperamente nutzen. Der erste Schritt dahin ist, die Leistungen jeder Seite anzuerkennen. Ist es nicht so, dass wir die Kreativität und die Erfolge der jeweiligen Konkurrenz insgeheim bewundern? Um zur Geltung zu kommen, müssen ihnen Ausdrucksmöglichkeiten und Entfaltungsräume eröffnet werden. Vermutlich kann das nur in getrennten Situationen geschehen - dass Arbeitsteilung die Leistungsfähigkeit eines sozialen Gebildes zu steigern vermag, wurde bereits erwähnt.

Nur vordergründig zielt dies darauf, Krach und Reibungsverluste zu reduzieren. Die wären ohnehin nur Symptome eines unbefriedigenden Arrangements. Vielmehr geht es um Prinzipielles: die Schwierigkeit unserer sexualpolitischen Aufgabe verlangt unabweisbar eine gehörig durchdachte und im Ergebnis komplizierte Organisation. Diese "Komplexität" schlägt sich in der Definition der zu lösenden Aufgaben und der dafür eingesetzten Mittel nieder. Unser Handeln bedarf einer Auffächerung und Tiefengliederung. Dazu nenne ich einige Anregungen.

Wo immer möglich, ist auseinanderzuziehen, was die Organisation macht und was die einzelnen machen. Das fällt in dem Maße leicht, als wir kein totalitärer Verein sind, also nicht das gesamte Verhalten der Mitglieder kontrollieren: weder "Emanzipationskloster" noch "Kompanie im Nadelstreifenanzug". Soweit wir uns des Inhalts und der Grenzen unserer Gemeinsamkeit bewusst sind, gelingt diese Distanzierung auch.

Des weiteren würde eine geteilte Zeitorientierung nützen: zu trennen sind gegenwartsbezogenes und übergreifendes Denken. Das eine verfolgt kurzfristig erreichbare Ziele. Dazu zählen: Orte und Medien der Kommunikation aufbauen; gegen aktuelle Fälle von Diskriminierung in Beruf, Bildung, Gesundheit usf. angehen; die Änderung von belastenden Rechtsvorschriften betreiben. Dabei werden auch Kompromisse über erreichbare Zwischenziele geschlossen und Bündnisse eingegangen.
 
Dabei ist immer die Kurzfristigkeit zu beachten: keines dieser Ziele ist Zweck-in-sich-selbst; keines darf die Organisation länger als ein, zwei, drei Jahre beschäftigen. Eine auf Langfristigkeit angelegte Prinzipien- und Programmdiskussion findet daneben statt. Hier wird die Entwicklung von der Vergangenheit in die Zukunft eingeschätzt. Erwünscht sind: Visionen, utopische Szenarien, Mythen. Mit einem Wort: Radikalität ist gefragt.

Wie lässt sich einrichten, dass kurzfristige und längerfristige Aufgaben nebeneinander bearbeitet werden? Wahrscheinlich werden sich nicht dieselben Personen gleichermaßen damit befassen: die Verantwortungen werden aufgeteilt, während die Mühen der Arbeit gemeinsam übernommen werden.

Mit besonderer Sorgfalt müssen wir die Adressaten unseres politischen Handelns betrachten. Auch und gerade hierin richten radikale und reformerische Positionen ihr Augenmerk auf ganz unterschiedliche Fronten, wo sie sich ins Getümmel stürzen wollen. Wie weit wollen und dürfen wir sinnvollerweise gehen, wenn wir die Grenzen unseres Handlungsspielraums testen, ihn erweitern?
 
Die Strategien lauten wieder einmal polar verschieden:
- Gegenreaktion herauslocken oder vor der Schmerzgrenze der anderen einhalten?
- (Verhältnis zu professioneller Kompetenz:) attackieren oder nutzen?
- Märtyrer produzieren oder gelungene Existenz vorweisen?
- Politik der Negation oder Politik des Positiven?
- "Happening" oder "Business"?

Das revoltierende Temperament blickt auf die Gesellschaft als ganze. Damit hat sie insoweit recht, als Lesben und Schwule ganz zweifellos einen äußerst weitgehenden Anspruch erheben: das soziale Arrangement der Geschlechter und Sexualitäten solle von Grund auf geändert werden, so dass Frauenunterdrückung und Zwangsheterosexualität entfallen. Damit droht den die Sozialstruktur bestimmenden Merkmalen des Patriarchats und der Normalsexualität ein Verlust an Legitimität, was mit Sicherheit beinahe sämtliche etablierten gesellschaftlichen Interessen auf den Plan rufen wird.

Zu bedenken ist indessen: keine Randgruppe wird auf Masseneffekte setzen dürfen. Das wäre absurd. Für unser Randdasein sind ja nicht einzelne Personen, Institutionen oder der Staat verantwortlich, wogegen dann vielleicht die Masse zu mobilisieren wäre. Vielmehr ist unser minderer Status in der Sozialstruktur, in der gesamten Kultur, in den Köpfen der ganz großen Mehrheit verankert. Gegen uns gibt es immer und ganz zwanglos eine "moralische Majorität".

Hier schlägt nun die Stunde der politisch gemäßigten Temperamente. Ein Großteil unserer Handlungsmittel liegt nicht auf der Straße - in großen Auftritten, denen sich vielleicht das Volk anschlösse -, sondern in einer Politik des Verhandelns. Dazu müssen wir uns innerhalb der gegebenen und von uns nicht änderbaren Einflussstrukturen bewegen, also mit den amtierenden Entscheidungsträgern kooperieren. Nicht nur, aber auch, und zwar oft. Das ist das erprobte Konzept der Doppelstrategie: mit den Wölfen heulen, aber bei der eigenen Art bleiben.

Hier wandelt man auf einem schmalen Grat zwischen zwei Gefahren eines Absturzes: einerseits drohen Repression und Illegalisierung (wenn die Binnenorganisation bekannt und kontrollierbar wird), andererseits winken Vereinnahmung und Patronisierung durch die Instanzen (man bekommt etwas und verzichtet dafür auf Weitergehendes). Langfristig kann eine Randgruppenorganisation sogar ihre innere Kraft und ihre Ausstrahlung vollständig einbüßen, wenn sie nur noch als Anhängsel der etablierten Verhältnisse erscheint. Als Unterhändler bewegt man sich zwischen zwei Fronten: Einfluss und Gefahr sind gleichermaßen hoch.

Ich halte dieses Risiko allerdings für tragbar. Denn auf uns wird ja nicht gewartet. Eigentlich will uns kaum jemand schlucken (könnte man sich doch verschlucken). Die Instanzen, die wir ansprechen müssen, verhalten sich passiv; sie bieten von sich aus keinen Dialog an. Sie reagieren immer erst auf unsere Initiativen und lassen den Kontakt sicher sofort einschlafen, wenn wir uns einmal nicht mehr rühren. Insoweit bleibt auch in der Höhle des Löwen das Gesetz des Handelns durchaus in unserer Hand.

Soweit meine Gedanken, wie wir es hinkriegen könnten, dass die Gegensätze sich anziehen. Die Grundlage ist: sie leisten Verschiedenes und sind komplementär. Das Radikale, Gegenkulturelle wirkt in die Gesellschaft hinein und verändert diese; seine Erfindungen werden vielleicht sogar von der majoritären Kultur aufgesogen.
 
Das Realpolitische hingegen verlangt dauerhafte Beobachtung und wachsam ständige Aktivität mit Augenmaß, eben das Verhandeln mit den Machtzentren. Beide Strategien kommunizieren, werden aber in verschiedenen Situationen aktuell. Es werden auch verschiedene Menschen sein, die das eine oder das andere betreiben. Zwänge man sie zusammen, kann es wie Feuer und Wasser zischen und die Sicht vernebeln. Lässt man die dünne Wand eines Topfes dazwischen, dann kocht das Wasser, wärmt das Feuer.

Noch eine Nachbemerkung. Auch in einer zweckorientierten Organisation entsteht so etwas wie Freundschaft. Es ist dies ein schwieriger Begriff (ganz unabhängig von Sexualität), und auch ein schwieriges Verhältnis, zumal zwischen Männern. Freundschaft ist die gefühlsmäßige Bindung zwischen einigen, vielleicht zwischen vielen Mitgliedern der Organisation. Sie ergibt sich automatisch beim Zusammenarbeiten und geht über den taktischen, kalkulierten Zusammenschluss hinaus. Sie macht das Mitgliedsein nicht nur nützlich, sondern auch erfreulich. Wenn nur der Verein gegründet wird und zu leben anfängt, werden wir später im Verlauf - ohne weiteres Zutun diesen Lohn ernten.
 
Rüdiger Lautmann ist Hochschullehrer in Bremen.
Er gibt unter anderem die im Berliner Verlag rosa Winkel erscheinende Seminar-Serie "Sozialwissenschaftliche Studie zur Homosexualität" heraus. Für die Diskussion richtungsweisende Bücher von ihm sind unter anderem "Seminar: Gesellschaft und Homosexualität", Suhrkamp 1977: "Der Zwang zur Tugend - Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualität", Edition Suhrkamp 1189, Frankfurt 1984
 
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