- 61. LUST, August/September 00
- Johannes Werres (1923 -1990)
Die Vorkämpfer der schwulen Szene stammen aus den unterschiedlichsten
politischen Lagern. Werres wurde wegen seiner Homosexualität
von der katholischen Priesterweihe relegiert. Als Mitarbeiter
verschiedener Organisationen bemühte er sich um ein eher
konservatives Homosexuellenbild. Er arbeitete mit Dr. Williard
Schlegel an dessen privatem Institut für Konstitutionsbiologie
und menschliche Verhaltensforschung, in dem durch Hand-
und Beckenabmessungen das biologische Dritte Geschlecht (die
homosexuellen Männer und Frauen) nachgewiesen werden sollten.
Die studentische neue Schwulenbewegung in den 60er und 70er Jahren
lehnte eine Zusammenarbeit mit ihm ab, weil er mit dem Konservativen
Kreis Deutschland indirekt Propaganda für Franz Josef
Strauss machte.
Mit Schreiben vom 02.03.88 sandte uns Werres unaufgefordert diesen
Beitrag zu, den wir damals jedoch, alleine schon wegen seiner
Länge, nicht veröffentlichen konnten.
Er kommt uns aber gerade zur Zeit gelegen, denn wenn wir die
Machenschaften der fundamentalistischen Sekten gegen homosexuelle
Menschen kritisieren, dürfen wir nicht vergessen, dass die
Quellen dazu in der Amtskirche zu finden sind.
Der Text ist ganz vergnüglich zu lesen, besonders wenn man
sich näher mit der religiösen Auseinandersetzung beschäftigen
will und konservative Rhetorik zu nehmen weiß.
-
- Ist Gott homosexuell?
Stellungnahme von Johannes Wereres (1923
- 1990) zum Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre
an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge
für homosexuelle Personen vom 30. Oktober 1986.
Die provokante Überschrift soll zunächst einmal das
Leserinteresse stimulieren. Selbstverständlich gibt es in
dem päpstlichen Schreiben nirgendwo eine Stelle, die eine
solche Frage rechtfertigen würde. Dennoch ist sie, wie wir
sehen werden, nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint.
Das zur Debatte stehende Schreiben gehört zu den Verlautbarungen
des Heiligen Stuhls, ist aber vom Papst nicht selbstverfasst,
sondern nur gebilligt; seine Veröffentlichung
angeordnet. Autor ist der Präfekt der Kongregation für
die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, vormals München,
also ein Deutscher. Wir wissen spätestens seit dem Bericht
über den Vatikan im Stern (1987) welchen Einfluss dieser
Mann auf den Polen-Papst hat. Im Grunde genommen spielt das aber
keine so gravierende Rolle, da sich beide, der Pole wie der Deutsche,
in der katholischen Tradition stehend, einig sind.
-
- Diese Schrift ist, wie alle früheren,
nur der Ausdruck dieser gewissermaßen starren, erstarrten
Tradition, völlig unbeeinflusst von dem, was die verschiedensten
Wissenschaftsfachgebiete bisher zum Thema Homosexualität
erbracht haben. Das wird auch verständlich, wenn man später
liest, dass diese Tradition nur das an Forschungsergebnissen
gelten lässt, was im Einklang mit der kirchlichen Lehre
steht; dann akzeptiert die Kirche sogar die Ergebnisse
der Humanwissenschaften (2), was immer der Autor darunter verstehen
mag - er sagt es nämlich nicht.
-
- Literatur wird diplomatischerweise nicht
angegeben, außer Hinweisen auf die Heilige Schrift oder
die sogenannten Kirchenväter. Die katholische Lehre weiß
sich einig in der lebendigen Tradition des Judentums und des
daran anknüpfenden und darauf aufbauenden Christentums und
ist im übrigen vom Heiligen Geist erleuchtet, wenn sie diese
Schriften auslegt; darauf wird wiederholt hingewiesen, z.B. in
5 (arabische Zahlen beziehen sich auf die Absätze der Verlautbarung).
Dennoch verweist diese Verlautbarung, was die Begründung
der Ablehnung homosexuellen Verhaltens angeht, in der Hauptsache
auf frühere Verlautbarungen des Heiligen Stuhls zum Thema,
zum Beispiel vom 29. Dezember 1975 (Erklärung zu einigen
Fragen der Sexualethik), um danach umso ausführlicher
sich mit Fragen der Seelsorge an homosexuellen Personen befassen
zu können. Deshalb werden wir in diesem Text Hinweise auf
die berühmt-berüchtigten Stellen in den heiligen Schriften
nur hin und wieder und da recht eigentlich nur flüchtig
vorfinden, wie z.B. auf die Ereignisse in Sodom und auf die Aussprüche
des Heiligen Paulus. Jeder, der die Schrift nicht so auslegt,
wie es die lebendige Tradition der Kirche verlangt,
wird gewarnt.
Damit sind wir mit den Absichten dieses unserer Abhandlung bereits
am Ende und könnten einpacken. Doch so rasch lassen wir
uns natürlich auch nicht entmutigen. Wir haben die Stirn,
das Anathema dieser Kongregation, die früher
Abtrünnige verfluchte und in den Kerker warf, der Tortur
unterzog und sogar massenweise tötete - im Rahmen der menschenunwürdigen
Inquisition und Hexenverfolgung, zu ertragen.
Denn wir sind nur dem Gewissen verpflichtet und keiner anderen
Instanz.
Nach einer kurzen Einleitung (1), die auf die zunehmende Diskussion
der Homosexualität in der Öffentlichkeit verweist,
entschuldigt sich der Verfasser dafür, dass er dieses Thema
an dieser Stelle (im Rahmen von 14 Seiten) nicht erschöpfend
behandeln kann; er verweist dabei auf die Sichtweise der katholischen
Moral allgemein.
Dann aber wird es interessant für uns, denn es kommt der
erste, griffige Angriffspunkt: Der Standpunkt der katholischen
Moral fußt - man staune und denke (und schüttele den
Kopf) auf der menschlichen Vernunft (die freilich
durch den Glauben erleuchtet ... ist). Vernunft -
da fragt man sich doch tatsächlich: Wo leben wir denn? In
welcher Epoche lebt der Verfasser? Die Zeiten, in denen die menschliche
Vernunft angebetet wurde, in denen sie das Nonplusultra des Humanen
schlechthin war, sind doch - und hierin sind sich wohl alle Wissenden
einig - längst vorbei.
-
- Diese Vernunft, auch die göttlich
erleuchtete, hat es nicht geschafft, diese Welt zu erlösen,
zu heiligen, zu ändern, Kriege und Verbrechen zu vermeiden,
auch nicht solche der Kirche oder in ihrem Namen begangene -
die hier angebetete Vernunft hat in jeder Weise Schiffbruch erlitten.
Sie kann überhaupt nur philosophisch abstrakt betrachtet
werden und ist, nach den Erkenntnissen der vergleichenden Verhaltensforschung
und der Konstitutionsbiologie, nur vorhanden in der jeweils konkreten
Ausformung einer vom konstitutionellen Typ geprägten Persönlichkeit,
mit deren Instinktverhalten (vgl. Literatur: W. S. Schlegel).
Das heißt: es gibt keine abstrakte Vernunft.
Ihr Denken und Handeln steht immer im Kontext auch ihrer individuellen
Gefühlswelt, des Bewussten und Unbewussten. Was das im einzelnen
bedeutet, werden wir erkennen, wenn wir - was heute schon gelegentlich
geschieht und von manchen gefordert wird - etwa wissenschaftliche
Aussagen von bestimmten Persönlichkeiten in Relation setzen
zu ihrem Persönlichkeitsbild. So u.a.: wer war Freud, Kinsey,
Giese, Schlegel, Hirschfeld, und wie war ihre Persönlichkeit,
ihr Lebenslauf, ihre Psyche und ihr Verhalten? Aber auch: wie
sieht das aus bei Ratzinger, Woytila etc. und bei Hieronymus,
Augustinus, Luther und sogar Jesus?
Denn geistige Aussagen kommen ja nicht aus einem Roboter oder
Computer, namens Vernunft, sondern aus dem Gesamt der jeweiligen
Persönlichkeit. (Meine, des Schreibers, selbstverständlich
nicht ausgenommen)
Zum anderen aber besagt die antiquierte Berufung auf den längst
abgewirtschafteten Begriff der hehren Vernunft, die
es nie gegeben hat und nach allgemein wissenschaftlicher Überzeugung
auch nicht geben wird, ein Wunschdenken und ein Menschenbild,
das eher im Labor der Theologen, als in der realen Welt lebt.
Was die Berufung der Kirche auf die Erleuchtung durch den
Glauben und die bewusste Absicht, den Willen Gottes
zu erkennen angeht, so zeigen diese, dass wir uns hier
im irrationalen Bereich befinden. Vernunft = Ratio und Irrationalität
sind aber schlechterdings nicht miteinander in Einklang zu bringen;
wir haben es also mit einem Konglomerat zu tun. Auch besagte
Irrationalität fließt letztendlich aus einem Wunschdenken
hervor.
Ganz zu schweigen davon, dass es vernunftbetonte und andererseits
gefühlsbetonte Menschentypen gibt, was sich nicht auf einen
Nenner bringen lässt, sondern unterschiedlich betrachtet
und beurteilt werden muss. Darüber später mehr.
Von der Vernunft her gesehen, dürfte es - um nur ein Beispiel
zu nennen, das gravierende Auswirkungen hat - eigentlich keine
Kriege mehr geben. Zwar sieht es so aus, als wir uns jetzt endlich
in einer Epoche befinden, in der ein Krieg zwischen dem Westen
und dem Osten unwahrscheinlicher wird als bisher, doch zeigt
schon das Beispiel Afghanistan, aber auch andere, wie der Iran-Irak-Krieg,
die Auseinandersetzungen in Mittelamerika, die Kleinkriege in
Asien und Afrika, oder auch nur der irische Bürgerkrieg
und der Palästinenserstreit, wo es beide Male ausgesprochen
um religiöse, ja christliche Interessen geht, wie irrational
hier der Appell an die Vernunft anmutet und er geradezu ins Leere
verpufft, als dass man die vatikanische These auch nur annähernd
ernst nehmen könnte.
Der vatikanische Theologe stellt überhaupt nicht die menschliche
Abstammung in Rechnung, dessen Primatenerbe - mit allen Konsequenzen,
die sich von daher ergeben.
Die wenigsten Reaktionen des Menschen sind vernunftbetont; sie
sind zumeist instinkt- oder typabhängig. Selbst wenn sie
- scheinbar - vernünftig sind, erhalten sie ihre eigenartige
Färbung in Abhängigkeit von Typ und Persönlichkeit
durch den Instinkt.
Die päpstliche Erklärung versucht diesen schwierigen
Sachverhalt wenig weiter mit ein paar blassen Erläuterungen
in unserer Richtung geradezurücken, belässt aber dabei
der Vernunft ihren Primat.
Der mehr akademische Streit bzw. die Unterscheidung zwischen
Veranlagung und Neigung einerseits und andererseits dem homosexuellen
Verhalten ist für diese Sicht typisch; er wird dem Wesen
der Homosexualität, das aus allgemein wissenschaftlicher
Sicht heute für natürlich, d.h. naturkonform, gehalten
wird, nicht gerecht. Die Neigung, homosexuell zu
sein (auch Veranlagung genannt oder instinktive Verhaltensbereitschaft,
um einen humanethnologischen Begriff zu benutzen), sei zwar nicht
sündhaft (so in 3), begründet aber eine mehr
oder weniger starke Tendenz, die auf ein, sittlich betrachtet,
schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Neigungen wie homosexuelle
Handlungen müssten als objektiv ungeordnet angesehen
und könnten keinesfalls in irgendeiner Weise gutgeheißen
werden.
In Klardeutsch heißt das: es spielt keine Rolle, ob einer
nur homosexuell ist bzw. sich als solcher fühlt oder ob
er auch noch homosexuelle Handlungen begeht - beides ist nicht
in der Ordnung. Denn die homosexuellen Handlungen
wurden als ihrer wesentlichen und unerlässlichen Zielbestimmtheit
beraubt - was das heißen soll, wurde 1975 definiert,
wird aber später noch einmal wiederholt.
Wie aber erst, wenn wir das homosexuelle Verhalten von Primitivvölkern
betrachten und beurteilen würden, wie sie die Völkerkunde
beobachten konnte, etwa jene Stämme der Südsee, die
Gisela Bleibtreu-Ehrenberg unlängst beschrieb? Dort nehmen
alle Männer und geschlechtsreifen Knaben bzw. jungen Männer
an den Initiationsriten teil, ohne Unterschied und ohne dass
dort irgendwie Neigung oder Veranlagung erkennbar würde?
-
- Wir können übrigens rückschließen
und unterstellen, dass ein solches Verhalten noch in vielen anderen
Stämmen, Völkern und Kulturen feststellbar war, vor
allem in der Urzeit und zur Zeit, da Judentum und Christentum
sich entwickelten. Womöglich ist deshalb der uns vertraute
Begriff der Neigungshomosexualität diesen Völkern und
Kulturen völlig fremd gewesen, und wir suchen vergeblich
danach, wenn wir Vergleichsmöglichkeiten haben möchten.
-
- Bisher nahmen kirchentreue Homosexuelle und
ihre Betreuer an, wenn die Kirche erst einmal erkenne, dass Homosexuelle
in vielen Fällen gar nicht anders können, als homosexuell
zu handeln, weil sie keine andere Möglichkeit besitzen,
ihrer Liebe Ausdruck zu verliehen als gegenüber einer Person
des gleichen Geschlechts, dann werde sie wohl mehr Verständnis
aufbringen oder vielleicht sogar nicht umhin können, als
diesen Menschen Dispens zu erteilen, Generalabsolution. Doch
wie es nun scheint, ist auch dieser Weg total verbaut; sicher,
im einzelnen wird bei Bußgesinnung und Reue Absolution
in der Beichte erteilt, aber theologisch ändert sich nichts,
auch pastoraltheologisch nicht, wie wir noch sehen werden.
Eine weitere Möglichkeit war die neue Auslegung der Heiligen
Schrift (4), die sogenannte Exegese der fraglichen Stellen, die
auf Homosexualität Bezug nehmen bzw. auf das, was die Bibel
damals darunter verstand. Hier schiebt die päpstliche Glaubenskongregation
pauschal einen Riegel vor: Trotz aller Verschiedenheit existiere
in den Schriften selbst eine klare, innere Einheit hinsichtlich
der Frage homosexuellen Verhaltens.
-
- Man könne also Sätze nicht aus
dem Zusammenhang reißen (was die Kirche aber tut, wie Don
Smith ihr nachweist!). Vielmehr fuße die theologische Argumentation
auf dem soliden Fundament eines beständigen biblischen
Zeugnisses. Nun, was davon zu halten ist, wird von vielen
Fachleuten, auch namhaften, mit Fug und Recht bezweifelt (5).
Jedenfalls können die Schriften, kurz gesagt, nicht in
einer der lebendigen Tradition der Kirche widersprechenden Weise
ausgelegt werden. Im II. Vatikanischen Konzil wird dieses
Axiom noch besiegelt durch das Tun des Heiligen Geistes.
Nun, in zwei Dokumenten von Don Smith (vgl. Literaturangaben
am Schluß!) ist zu diesem Aspekt einiges gesagt worden,
was die Grundfesten dieses Gedankengebäudes zu erschüttern
droht. Doch selbstverständlich nicht nur darin - der wissenschaftlichen
Zeugnisse sind viele, und sie werden immer zahlreicher und erdrückender.
Weitere Literatur am Schluss (u.a. Karlheinz Deschner).
Auf die Schrifttradition geht der Verfasser der Verlautbarung
in kurzer Form ein (6).
-
- Er befasst sich mit der Schöpfungstheologie.
Gott erschafft den Menschen, wie sattsam bekannt, als Mann und
Frau, nach seinem Abbild und Gleichnis. Was nie beachtet wird:
damit wird ausgesagt, dass Gott Mann und Frau zugleich ist; er
ist ein zweigeschlechtlicher Gott - analog betrachtet, denn Geschlechtlichkeit
in menschlicher Form hat er ja nicht nötig, es sei denn,
man betrachtet den Heiligen Geist als das weibliche
Prinzip und Jesus, beider Sohn, als das Produkt dieser Art Fortpflanzung
(das wäre aber zu anthropo-morph betrachtet).
-
- In diesem Falle wäre Maria überflüssig
und unnütz (vgl. hierzu die Betrachtungen der katholischen
Theologin Uta Ranke-Heinemann 1987). Oder lediglich Werkzeug,
Mittel zum Zweck. Für mich ist das aber alles reichlich
spekulativ, und ich möchte den Spekulationen katholischer
Theologen nicht noch weitere hinzufügen, die hier zunächst
nichts erbringen. (Zur inneren Einheit später
mehr.)
Aber, ein anderer Aspekt wird hier sogleich wichtig werden, nämlich
im Hinblick auf das zur Debatte stehende Thema der Homosexualität.
Wo kommt sie her? Von Adam und Eva scheinbar nicht, aber eben
nur scheinbar. Mann und Frau werden hier, abstrakt betrachtet,
als männlicher Mann und als weibliche Frau gesehen - emanzipierte
Frauen und effeminierte Männer wurden von Gott nicht erschaffen.
Punkt.
Dass wir uns nur ja nicht täuschen! Das Thema ist sicher
so heikel, ganz gewiss: für den Autor der kritisierten Abhandlung,
dass er es nicht einmal streift, nämlich wie denn der Jesus
des Neuen Testaments die Schöpfung in Adam und Eva sieht.
Don Smith befasst sich damit im Anschluss an die Exegese der
Schriftstelle Matthäus 19 und sagt, dass er in Wirklichkeit
von Adam (und Eva) als jeweils einem androgynen Wesen spricht,
also von Menschen, die beide sowohl Männliches als auch
Weibliches in sich tragen.
-
- An anderer Stelle des NT bezeichnet sich
Jesus als der neue Adam - somit ist zweierlei klar:
erstens ist Gott als der Schöpfer androgyn und zweitens
ist es der fleischgewordene Sohn Gottes ebenfalls. Androgynie
aber ist in etwa ein Synonym für Homosexualität als
Neigung - nach Auffassung der heutigen amtlichen
Theologie Roms also bereits in sich sündhaft
(3). Mit anderen Worten: die Homosexuellen können und dürfen
sich auf Adam (und Eva) und Jesus berufen. Sie haben Gott auf
ihrer Seite, denn Gott selbst ist homo- oder bisexuell!
Nach diesem glasklaren Gedankenschluss brauchten wir eigentlich
nicht weiter zu streiten, sondern könnten den Beitrag abschließen
und die Papsterklärung zur Seite legen. Aber wir wollen
nicht zu bequem sein und unsere Streitschrift niet- und nagelfest
machen.
Jetzt wird die Erbsünde zitiert, für mich ein absolutes
Konstrukt, also eine Erfindung, für die es keine entwicklungsgeschichtliche
Erklärung gibt, denn wo und wie sollte sie historisch stattgefunden
haben? An welchem Punkt der Entwicklung (der Aufwärtsentwicklung!)
zwischen Tier und Mensch, Affe und Homo sapiens?
-
- Diese Entwicklung wird von der Forschung
als positiv betrachtet, die Erbsünde ist aber unter theologischen
Gesichtspunkten das Gegenteil davon, ein Niedergang, der Erlösung
nötig macht.
Zur Sodom-Geschichte (Gen 19, 1-11) und den ähnlichen Berichten
bei Lev 18, 22 und 20, 13 brauche ich nur auf die überzeugenden
Darlegungen von Don Smith zu verweisen. Hier beginnt der größte
Skandal des Christentums, jene Verdrehung der Tatsachen,
die der Heilige Hieronymus zu verantworten hat, der
zeit seines Lebens praktizierender Homosexueller war (was offenbar
in früheren Jahrhunderten kein Hindernis für seine
Heiligsprechung darstellte), viel wichtiger aber: ein bedeutsamer
Bibelübersetzer - nur leider hat er sich eines gravierenden
Übersetzungsfehlers schuldig gemacht, welcher die Sodom-Erzählung
auf den Kopf gestellt hat. Die Engel von Sodom sind
in Wahrheit homosexuelle Kultprostituierte, die Sünde von
Sodom bestand nicht in homosexueller Vergewaltigung, und der
Hirtengott Jahwe hatte selbstverständlich Wohlgefallen an
diesen Männern und ihren Handlungen.
Was dann Paulus sehr viel später an Gedanken entwickelt,
ist nach Smith bereits die Vorstufe zu einer Kirche, die im Grunde
nicht mehr jesuanisch ist, sofern sie die Offenbarung endgültig
abschließt oder als abgeschlossen betrachtet und allen
homosexuellen Propheten und Kultprostituierten den
Mund verbietet. Es lohnt sich, diese neue, umwerfende Exegese
jener Passagen, die freilich Paulus vielfach nur zugeschrieben
werden und nachweislich nicht authentisch von ihm stammen, sondern
späteren Datums sind, nachzulesen und nachzuprüfen.
-
- Es ist bezeichnend, dass der ganze Zeitraum
des Lebens Jesu, den Paulus zum Christus macht, samt der Zeit
der ersten Christen, praktisch die ersten vier nachchristlichen
Jahrhunderte also, mit antihomosexuellen Äußerungen
ausgespart bleiben. Das ist, nach Smith, auch völlig legitim
und begreiflich, weil hier eine Kluft klafft zur späteren
kirchlichen Homosexuellenverfolgung.
Der Antisemitismus geht auf Pauli Konto, die Homophobie auf das
Konto derer, die aus dem paulinischen Christentum im 3. und 4.
Jahrhundert eine Staatsreligion gemacht haben. Harald von Mendelssohn
(vgl. Lit. Angaben) weist nach, dass Jesus gar keine Kirche gründen
wollte, dass er nicht auferstanden ist, sondern scheintot war,
und dass er aus Vorsicht, um nicht noch einmal getötet zu
werden, wegging - wahrscheinlich nach Indien, wo sich sein Grab
findet.
Im Vollbewusstsein, die Wahrheit gepachtet zu haben (Pilatus
fragt mit Recht: Was ist Wahrheit?), erklärt der Verlautbarungsautor
die kultischen Sexualhandlungen zu Formen von Ausschweifungen
auf moralischem Gebiet im Götzendienst; er vergisst
zu erwähnen, dass Kultprostitution auch bei den Juden gang
und gäbe war und lange Zeit selbst im Tempel von Jerusalem
praktiziert wurde. Das kann nur bedeuten, dass sie als völlig
normal galt und dass die Verdammung erst später hineinpraktiziert
und -interpretiert wurde. Es war nämlich im 3./4. Jahrhundert
völlig unmöglich geworden, das AT und das NT zu bearbeiten
und umzuschreiben, weil es inzwischen anerkanntes Allgemeingut
geworden war. Und so blieben die verräterischen Passagen
drin im Text. Die Kontinuität der Schrift und der Tradition
ist somit also nicht gewahrt, was dieses Thema angeht.
Deshalb ist es ebenfalls ein Konstrukt, den Gebrauch der
Geschlechtskraft (7) einzig und allein auf die Ehe zu beschränken.
Das ist nicht biblisch, nicht schriftkonform, ja nicht einmal
jüdisch im Sinne deren Tradition.
Wie wir gesehen haben, waren Adam und Eva keineswegs die anthropolo-gischen
Typen, die die Theologie erdacht und als verbindlich hingestellt
hat. Nicht der männliche Mann, der Macho und
die weibliche Frau, das typische Weibchen, das sich
ihm unterordnet, sind das Urbild des Menschen, sondern der androgyne
Adam und die androgyne Eva. Sie sind und bleiben das Urbild des
Menschen, was sich durchgängig in allen Kulturen und Religionen
der Welt wiederfindet.
Wenn dem aber so ist, bedarf der Mann nicht unbedingt und eo
ipso der Ergänzung durch das Weibliche der Frau,
da er es ja selbst in sich trägt, wie die Frau das Männliche
in sich trägt. Dies wird durch die Forschungsergebnisse
der Typenlehre (Konstitutionsbiologie) bestätigt (Zwischenstufenangehörige
bei W.S. Schlegel der andromorph-gynäkomorphen Variationsreihe,
1957, 1962 etc.). Nur aus diesem Blickwinkel werden homo- und
bisexuelles Verhalten sinnvoll erklärlich.
-
- Dabei geht keineswegs die Fähigkeit
zur Fortpflanzung verloren, und Mann und Frau haben auch durchaus
nicht die Absicht, durch ihr Verhalten Ehe und Familie zu stören
oder gar zu zerstören. Bisexuelle sind erfahrungsgemäß
die besten Familienväter und durchaus in der Lage, kinderreiche
Familien hervorzubringen. Bisexualität hat gegenüber
der ausschließlichen Heterosexualität einen Selektionsvorteil,
wie die Entwicklungsgeschichte des Menschen zeigt. Sie wirkt
arterhaltend. Wäre sie artzerstörend, hätte sich
dieses Verhalten im Laufe der jahrmillionenalten Menschheitsentwicklung
längst ausgemerzt (sinngemäß W. S. Schlegel).
Damit entfallen die meisten unter 7 aufgeführten Argumente
der Verlautbarung, vor allem, weil beim sexuellen Verhalten wahrscheinlich
eine Reihe von unbewussten Instinkten mitwirkt, deren Befriedigung
G1ück auslösen (vgl. Die Sexualinstinkte des Menschen,
W. S. Schlegel, 1962, 1966). Welches G1ück hier
Ratzinger meint, ist mir nicht begreiflich; das sind gedankliche
Konstruktionen, die mit wahrer Sexualforschung und wissenschaftlichen
Erkenntnissen über Kultur und Verhalten des Menschen nichts
zu tun haben.
-
- Die Kirche hat sich mit ihrem Alleinseligmachungsanspruch
in eine Ecke hineinmanövriert, in der sie eigentlich - wie
ein kleiner Junge, der Böses getan hat, Scham üben
sollte. Mir kommt jedenfalls vor, dass die Vorstellung, Sexualität
könne nur heterosexuell und nur in der Ehe stattfinden,
nicht materialistischer und funktionaler gedacht sein kann; wäre
dem so, müsste die Ehefrau ununterbrochen gebären -
merkwürdig, dass die Kirche mit keinem Wort bemängelt,
dass heute die Familien nicht mehr zwölf (und mehr) Kinder
haben, sondern nur noch zwei oder gar eins! Es ist geradezu abscheulich
mechanistisch, den Mann als Schlüssel und die Frau als Schloss
zu bezeichnen, alle anderen sexuellen Verhaltensweisen wie Positionen
in den Bereich. der Perversion zu verweisen und damit dem Körper,
sachlich wie ideell von der Seele getrennt, nur die Rolle einer
Dienerin, wenn auch mit bräutlicher Bedeutung
zuzuerkennen.
Übrigens sorgt die Natur von selbst dafür, dass sich
die Art fortpflanzt; sie ist bis jetzt (noch) nicht ausgestorben
- trotz homosexuellen Verhaltens allüberall auf der Welt
und zu allen Zeiten und wird es auch in Zukunft nicht, wie das
Problem der Übervölkerung deutlich genug zu erkennen
gibt. Die Kirche bzw. kirchliche Gruppen, Parteien, Richter,
Publizisten etc. sind nicht aufgerufen, mit rationalen Appellen
oder moralischen Pflichtanmahnungen oder gar Strafandrohungen
die Erhaltung der Art sicherzustellen.
-
- Das ist bestimmt nicht ihre Aufgabe. Das
Wachset und mehret Euch kann auch als das Einpflanzen
des göttlichen Instinktes verstanden werden, der seitdem
(in diesem Falle tatsächlich!) automatisch funktioniert.
Die sexuelle Kraft und Phantasie des Menschen, besonders des
Mannes, ist so grenzenlos und unerschöpflich, dass sie mit
der Erfüllung der ehelichen Pflichten (ein überaus
dümmlicher Begriff!) nur in sehr geringfügiger Weise
beansprucht wird. Zu allen Zeiten haben daher Menschen unbewusst-instinktiv
versucht, die Sexualität mit dem religiösen Kult in
Verbindung zu bringen, z.B. Heilige Hochzeit, homosexuelle
Kultprostitution, Initiationsriten, Schamanentum usw., um sie
zu erhöhen, sie und damit sich selbst zu heiligen, Gott
zu weihen und dem Ewigen näherzukommen.
-
- Die darin zum Ausdruck kommende Gesinnung
ist, für sich betrachtet, durchaus rein und hat mit Götzentum,
Ausschweifung und Schamlosigkeit überhaupt
nichts zu tun. Denn die Sexualität ist ihrem Ursprung nach
göttlich, wie ja aus der von Jesus gedeuteten Schöpfungsgeschichte
und der richtig dargestellten Sodom-Geschichte u.a. hervorgeht.
Die wahren Heiligen waren und sind also nicht diejenigen,
die sich sexueller Handlungen möglichst enthalten und die
dafür vom Papst heiliggesprochen werden, sondern
diejenigen, die die Sexualität kultisch erhöhen und
Gott weihen, die sich Gott mit sich selbst zusammen darbringen
und anderen Menschen helfen, richtig damit umzugehen. Nach Meinung
von Smith waren die Kultprostituierten der Vorzeit vergleichbar
mit den heutigen Psychotherapeuten.
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wenn
daher die Kirche (8) Homosexuellen vorwirft, eine materialistische
Ideologie zu bekunden, so mag sie damit im Einzelfall vielleicht
recht haben, nicht aber generell; vor allem muss sie sich gefallen
lassen, dass dieser Begriff auf ihre eigene Betrachtungsweise
angewandt wird. Denn mit letzterer wird die unendlich reine und
vielfältige Sexualität mit ihren diversen Liebesmöglichkeiten
unzulässig eingeschränkt und im Sinne des Schöpfers
verengt.
-
- Androgynie steht am Anfang allen Seins und
sie ist auch das Ziel als Überwindung des Geschlechtergegensatzes,
das in der Zweiheit einer sexuellen Vereinigung nie erreicht
werden kann, auch wenn sich - was selten vorkommt - zwei Menschen
als Idealpartner gefunden haben (Liebe auf den ersten Blick,
Instinktsummation); die Überwindung der Geschlechterpolarität
findet vor allem und letztendlich in der androgynen Verfassung
einer Einzelperson statt. Darauf weist Smith unter Zuhilfenahme
einer Stelle aus den Apokryphen hin.
Wieso die Praxis der Homosexualität Leben und
Wohlfahrt einer großen Zahl von Menschen ernsthaft bedroht
(9), müsste näher erläutert werden; ich gestehe,
dass ich zu dumm bin, dies zu erkennen. Eher ist Leib und Leben
der Homosexuellen in vielen Ländern direkt bedroht, wie
man immer wieder in Presse und Polizeiberichten lesen muss, und
das ist ganz gewiss eine direkte oder indirekte Folge der kirchlichen
Verdammung der Homosexualität. Die Kirche bedauert (10),·dass
homosexuelle Personen Objekt übler Nachrede und gewalttätiger
Aktionen waren und weiterhin noch sind. In dieser Feststellung
liegt soviel Hohn und Unverschämtheit, dass ich mich darüber
nur wundern kann.
-
- Ich habe selbst miterlebt, wie katholische
Klosterbrüder und Patres in Gefängnissen und Konzentrationslagern
verschwanden und umgekommen sind, dass man wohl mit Fug und Recht
behaupten kann, die katholische Kirche sei mit schuld daran.
Denn schon vorher haben katholische Bischöfe die nationalsozialistische
Moral und Gesetzgebung gelobt und versprochen, sie zu unterstützen,
sodass sich die Nazis ihrer selbst bei diesem Tun sehr sicher
waren. Katholischer Antisemitismus und katholische Homophobie
(Angst vor Homosexuellen und deren Bekämpfung - früher
mittels Todesstrafe) haben eine gemeinsame Wurzel und liegen
auf einer Linie (vgl. Deschner a.a.O. ebenfalls Smith)
-
- Es wäre nur zu logisch und konsequent,
wenn die Kirche der Homophobie genauso öffentlich abschwören
würde wie dem Antisemitismus durch Papst Johannes XXIII.
Das ist sie der Gerechtigkeit und der Lehre Jesu schuldig, der
die Sünde verurteilt, den Sünder aber liebt, vor allem
den, der bereut. Eine strafverfolgende Tätigkeit ist ihr
nicht erlaubt. Doch immer noch bringt die Kirche Homosexuelle
um. Ich verweise nur auf das Beispiel des Kardinals Simonis von
Utrecht in den Niederlanden, der 1986 öffentlich erklärt
hat, er habe Verständnis dafür, wenn ein heterosexueller
Vermieter - der katholisch ist - sein Zimmer nicht an einen Homosexuellen
vermieten möchte.
-
- Dies hat dort einen Sturm der Entrüstung
ausgelöst und die Homophobie in diesem Land erneut angeheizt.
Die Polizei wird der Verfolgung der Homosexuellen in diesem freiesten
Land der Welt nicht mehr Herr. Hier hätten also Ratzinger
und der jetzige Papst Gelegenheit, ihre Worte in die Tat umzusetzen:
Solche Verhaltensweisen verdienen, von den Hirten der Kirche
verurteilt zu werden, wo immer sie geschehen, heißt
es unter 10. Bitte, meine Herren in Rom, pfeifen Sie Kardinal
Simonis zurück! Denn er bekundet einen Mangel an Achtung
gegenüber anderen Menschen, der die elementaren Grundsätze
verletzt, auf denen ein gesundes, staatliches Zusammenleben fußt
(10)
-
- In diesem Zusammenhang bedauere ich, dass
ein Mann wie Ton van der Stap, ehemals Studentenpfarrer von Amsterdam
und Mitglied des Hauptvorstandes des COC, davon abrät, die
Verlautbarung überhaupt zu lesen. Wie töricht! Da das
COC gegen Simonis weltliche Gerichte zu Hilfe nahm, hätte
sich das COC diese Sätze zunutzemachen und den Kardinal
mit eigenen Waffen schlagen können. In der gesamten öffentlichen
Diskussion der Niederlande über den unerhörten Sachverhalt
habe ich eine solche Bezugnahme nicht lesen können, bedauerlich
und ein großes Versäumnis! Denn: Die jeder Person
eigene Würde muss nämlich immer respektiert werden,
und zwar in Wort und Tat und Gesetzgebung (10).
Das Bedauern der Kirche, das mir eher wie ein pharisäerhaftes
Zucken mit den Schultern vorkommt, wird keineswegs den Tatsachen
gerecht, auf die es sich bezieht. Da türmen sich Berge von
Toten auf, quer durch die Geschichte, die alle zu Lasten der
kirchlichen Inquisitoren gehen, bis zu den Zahlen jener, die
sich aus Angst und Gewissenskonflikten heraus selbst umbringen.
Immer noch wenden sich zahlreiche Gesetze der Welt gegen sogenannte
Sodomie (auch unter Heterosexuellen und Ehepartnern!),
weil sie auf der falschen Auslegung von Sodom fußen!
-
- Dass die Kirche leider doppelzüngig
ist, was die Gesetzgebung angeht, ersehen wir aus einem anderen
Hinweis innerhalb der Verlautbarung, wo sie im Gegensatz zu oben
steht. Unter Punkt 17 heißt es nämlich: Bei
eventuellen Vorschlägen für die zivile Gesetzgebung
wird man sich in erster Linie darum bemühen müssen,
das Familienleben zu schützen und zu fördern.
Das klingt harmlos; an anderer Stelle aber nennt die Verlautbarung
die Homosexuellen familienfeindlich und eine Gefahr für
die Familie, obwohl dies durch die tatsächlichen Fakten
nirgendwo gerechtfertigt ist.
-
- Logischerweise kann die Kirche keine Gesetze
billigen, die Homosexuellen Straffreiheit gewährt. Homosexualität
wird weiter ein legaler Scheidungsgrund bleiben, was der Bisexualität
sicher nicht förderlich ist. Aber ähnliches ist auch
unter Punkt 10 zu finden. Dort wird sogar behauptet, tolerante
Gesetzgebungen führten zu verkehrten Vorstellungen; irrationale
und gewaltsame Verhaltensweisen würden an Boden gewinnen
und zunehmen. Das heißt denn doch, Dialektik zu betreiben,
zumal hier behauptet wird, niemand (von den Homosexuellen)
könne ein irgendwie geartetes Recht (für
ein solches, angeblich schützenswertes Verhalten) in
Anspruch nehmen. Das sind in meinen Augen Eiertänze
und Haarspaltereien, ein Sichbewegen auf des Messers Schneide,
mit anderen Worten: Blabla, welches alles und nichts besagt.
Die Kirche ist theologisch, moraltheologisch, deutlich auf dem
Rückzug und kann mit ihrer Ideologie der Sexualfeindlichkeit
nichts und niemanden mehr überzeugen. Deshalb reist der
Papst ja auch so verzweifelt in der Menschheitsgeschichte umher
und versucht, seine Schäfchen bei der Stange zu halten.
Das Rad der Geschichte lässt sich kaum noch zurückdrehen;
in allen zivilisierten Nationen ist in den letzten Jahrzehnten
eine humane, tolerante Strafrechtsreform in Gang gekommen, haben
sich modernere Auffassungen der Sexualforschung in Gesetzen niedergeschlagen,
die kaum noch rückgängig zu machen sind. Solche Ratschläge,
die niemand praktisch verwirklichen kann, sind verwirrend und
überflüssig. Ich kann nicht mit der einen Hand Toleranz
gewähren und mit der anderen warnen und strafen!
Unter 11·geht es um das Problem der menschlichen Freiheit.
Die Verlautbarung steht, etwas antiquiert, auf dem Standpunkt,
dass jeder Mensch grundlegende Freiheit (zur Entscheidung
und zum Handeln) besitze, auch der Homosexuelle, welche
die menschliche Person als solche charakterisiert und ihr eine
besondere Würde verleiht. Blabla! Diese Auffassung
ist mit Sicherheit falsch und wird durch zahlreiche Ergebnisse
der Humanwissenschaften widerlegt, vor allem durch diejenigen
der Humanetholoqie - und zwar nicht nur bei den Homosexuellen,
sondern bei allen Menschen.
-
- Wo, wie wann und im einzelnen, darüber
hat sich Willhart S. Schlegel ausführlich in seinen Veröffentlichungen
ausgelassen. Ein Homosexueller aber, der keine Möglichkeit
hat, anders als homosexuell zu reagieren, wenn er nach seinem
Trieb und Instinkt sexuell handeln muss, etwa bei Trieb- und
Instinktstau, besitzt nicht die Freiheit, homosexuelles Tun zu
lassen. Davon könnten katholische Beichtväter Bände
berichten, wenn sie nicht durch das Beichtgeheimnis gebunden
wären!
-
- Jemandem, der homosexuell ist, Askese aufzuschwatzen
oder aufzuzwingen, ist ein gefährliches Unterfangen; das
nämlich kann in Mord und Selbstmord enden, denn gestaute
Sexualität springt als Instinkt über auf den Aggressionsinstinkt,
einen sexuellen Vorbereitungsinstinkt - eine andere Form des
Leistungsinstinktes (Schlegel). Nicht immer geht der Überdruck
als Pollution nächtlich ab! Denn damit und mittels der Masturbation
umgehen ja die meisten zölibatär lebenden Priester
und Mönche die strengen sittlichen Forderungen der Kirche,
falls sie es nicht vorziehen, Partnerschaften hetero- oder homosexueller
Art heimlich einzugehen.
-
- Nur ein wirklich kranker, antriebsarmer Mensch
kann völlig ohne Sexualität leben! Mit Sicherheit enden
solche Personen dann aber später etwa mit Prostatakrebs
oder der Alzheimerschen Krankheit behaftet, wie wir heute wissen.
Von den vielen psychischen Problemen und Störungen (Depressionen,
Geisteskrankheiten, Neurosen, Phobien, Süchten etc.) ganz
zu schweigen, die eine Folge dieser falschen Sexualmoral der
Kirche sind - auch die Rauschgiftsucht, mit der ja bekanntlich
(in der Phantasie!) ersatzweise nicht-genitale Orgasmen gesucht
werden!
Für wie naiv und dumm müssen Leute wie Ratzinger und
der Papst die Menschen halten, wenn sie meinen, sie könnten
Homosexuelle heute noch dazu aufrufen, ein keusches Leben
zu führen? Keusch also im Sinne völliger sexueller
Enthaltsamkeit! Die wurde, wie Don Smith wieder einmal nachweist,
nicht einmal zu Zeiten des AT und NT praktiziert. Zur gesunden
körperlich-seelischen Hygiene gehört jedenfalls nach
Auffassung, Erfahrung und Forschungsergebnissen aller dafür
infrage kommenden Fachleute von Kind an bis zum Lebensende ständige
sexuelle Betätigung, möglichst mit einem passenden
Partner.
Merken solche Fachleute vom Schlage eines Ratzinger
eigentlich nicht, in welche Sackgasse sie sich mit solchen Forderungen
verrennen? Bis zu dem offiziellen kirchlichen Verbot der Homosexualität
und der entsprechenden Deformierung der heiligen Schriften waren
die wahren Propheten, Lehrer, Priester und Boten Gottes genau
das Gegenteil: unkeusch (Ich benutze das Wort nur als Provokation,
karikaturistisch. In Wirklichkeit ist Liebe, Eros und Sexualität
immer keusch - im Sinne von gesinnungsrein, heilig,
geheiligt, also göttlich!).
Die Seelsorger der Homosexuellen (vor allem die in den USA und
in den Niederlanden, möchte ich hinzufügen) werden
wegen ihres Eifers gelobt; ihr Einsatz sei bewundernswert; diese
Kongregation hofft, dass beides (der Eifer und der gute Wille)
nicht erlahmt. Aber: jetzt müssen diese Seelsorger
eine Kehrtwendung von 180° machen und die homosexuellen
Personen ermutigen, ein keusches Leben zu führen (13).
-
- Tun sie das nicht - und zahlreiche Niederländer
haben bereits erklärt, dass sie dies nicht mitmachen - kommt
es m.E. auf lange Sicht zu Ketzerei und Schisma, d.h. einer Abtrennung
der Kirchen von Rom, wie seinerzeit in England, wie das Luthertum
in der Deutschen Reformation. Ich glaube nicht, dass wir darauf
vertrauen können, dass Rom eines Tages nachgibt. Dort sitzt
man am längeren Hebel - freilich bis diese Generation von
Theologen auf natürlichem Wege wegstirbt. Rom wird wissen,
wie man auf Priester und Homosexuellengruppen Druck ausübt;
man setzt einfach romergebene Bischöfe ein, arbeitet mit
Spitzeln und Diffamierung.
-
- In den USA geht es vor allem darum, die in
Dignity organisierten, zahlreichen katholischen Homosexuellen
samt ihren Seelsorgern wieder zurückzugewinnen, notfalls
mithilfe von Einschüchterung. Sicher werden genug ängstliche
Homosexuelle abspringen und zumindest zum Schein - in
den Schoß der Kirche zurückkehren , um also versuchsweise
keusch zu leben, nach außen hin. Es kann aber auch sein,
dass Dignity samt zahlreichen Seelsorgern (und sogar
Bischöfen!) eine eigene Kirche gründet. Doch das sind
bis jetzt Spekulationen.
-
- Was ich damit sagen will, ist folgendes:
das Umdenken kommt eher von außen als von innen. In der
Kirche revolutionär sein zu wollen, dazu gehören starke
Persönlichkeiten mit viel Rückhalt. Vor sieben Jahren
bereits musste ich erfahren, dass Homosexualität und
Kirche (HuK) in der Bundesrepublik Deutschland sich lieber
anpassend verhalten wollte, als über die Fragen nachzudenken,
die ich damals im Gay Journal nach der Lektüre
der beiden Schriften von Don Smith zur Diskussion gestellt hatte.
Damals schien das vielen noch absurd. Jedenfalls
dürften Dignity wie HuK und andere Gruppen es
jetzt viel schwerer haben, mit der Kirche ins Gespräch zu
kommen.
-
- Unter Punkt 15 werden eindeutige und klare
Anweisungen erteilt und Regeln aufgestellt, wie mit homosexuellen
Organisationen zu verfahren ist, die mit der Kirche leben wollen
oder Seelsorge von ihr erwarten. Denn nur solche Gruppen werden
unterstützt, die homosexuelles Verhalten als unmoralisch
ansehen. Homosexuelle müssen die nächste Gelegenheit
zur Sünde meiden. D.h. sie dürfen keinen festen
Freund suchen noch einen haben, sie dürfen keine Gruppe
aufsuchen, wo sie möglicherweise einen finden können
oder ihm begegnen, sie dürfen keine Zeitschriften kaufen,
beziehen oder lesen, keinen Sexklub und keine Bar besuchen, keinen
Park und keine Bahnhofshalle, wenn sie wissen, dass dort Homosexuelle
sind, die ihnen gefährlich werden können,
weil sie ihnen ein sexuelles Erlebnis ermöglichen, ja eigentlich
dürfen sie nicht einmal einen Beichtvater suchen, der für
homosexuelle Handlungen Verständnis hat - es sei denn, er
lässt sie bereuen, dafür büßen und erteilt
ihnen dann, und nur dann (!), die Absolution. Das steht nicht
in der Papsterklärung, ist aber die einhellige Meinung romtreuer
Moraltheologen. (Nach ungültiger Beichte ist ja der Empfang
der heiligen Kommunion eine schwere Sünde!)
Für mich persönlich sind all diese Dinge völlig
ohne Belang, da ich seit vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten
bin. Aber ich weiß nicht, welcher Art von kirchlichem Leben
die Homosexuellen von HuK oder Dignity huldigen,
was für sie Sünde ist und was nicht. Das bleibt ihre
Sorge. Schwieriger wird es für alle katholischen Homosexuellen,
die diesen oder anderen Gruppen nicht angehören, die Suchende
sind, ängstlich und zweifelnd und stets unter dem Druck
von schweren Gewissensbissen.
-
- Denen kann ich nur wünschen, dass sie
recht bald einen verständigen Gesprächspartner finden,
der ihnen und ihrem Gewissen auf die Sprünge hilft. Denn
das Gewissen ist die oberste Instanz der souveränen Persönlichkeit,
nicht der Papst! Wir leben unser Leben ganz autonom und müssen
es vor uns selbst verantworten. Und diese Verantwortung kann
uns kein Papst abnehmen. Schöner Satz unter Punkt 15: Nur
das Wahre kann letzten Endes auch pastoral sein! Bitte,
lesen wir in Ruhe nach, was Don Smith hierzu herausgefunden hat.
Das ist für mich Wahrheit - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.
Seiner Meinung nach tragen viele Homosexuelle von Natur aus (wegen
ihrer Androgynie) in sich Fähigkeiten und Möglichkeiten,
die sie bis jetzt nicht oder kaum ausleben können. Nach
Smith ist der Homosexuelle, der ernsthaft nach dem Sinn des Lebens
fragt, per se ein religiöser Mensch. der seine Sexualität
in den Gottesdienst einbringt, auch wenn es die entsprechenden
Formen dieses Gottesdienstes noch nicht oder noch
nicht wieder gibt. Im Homosexuellen liegen latent prophetische
Talente, Fähigkeiten zum Heilen, zum Erkennen von tiefen
Sinnzusammenhängen und zum Lehren seiner Erkenntnisse an
andere.
Wenn es das ist, was Verfasser der Papsterklärung unter
16 meinte, wenn er von diesen Fähigkeiten, Talenten und
eigenen Gaben spricht, dann hat er meine Zustimmung. Aber ganz
gewiss meinte er dies nicht so. Die Einstufungen von Menschen
als homosexuell und heterosexuell (vergessen
wurde bisexuell), wovon die Erklärung anschließend
spricht, ist ja gerade eine Folge der kirchlichen und damit weltlichen
Verdammung der Homosexualität. Dem Menschen der Antike wäre
es nicht im Traum eingefallen, solche Klassifizierungen vorzunehmen,
ganz davon abgesehen, dass er dann - wie Smith mit Recht vermerkt
- völlig andere Worte benutzt haben würde. Denn Homosexualität
im modernen Sinne gibt es erst seit wenig mehr als 100 Jahren.
Die Bibel spricht also nie von Homosexualität!
Rom denkt durchaus an harte Maßnahmen. Rücksicht wird
nicht mehr genommen. Den Bischöfen wird nahegelegt, in besonderen
Eingriffen ihre Kompetenz zu beweisen. Bischofskonferenzen
dürfen Aktionen in Angriff nehmen. Man soll
sich der psychologischen, soziologischen und medizinischen Wissenschaften
versichern und ihre Mitarbeit in Anspruch nehmen, sofern sie
treu zur Kirche stehen. Das klingt nach Angriff und Krieg auf
der ganzen Front. Auch die katholischen Theologen werden einberufen.
-
- Und vor allem die Auswahl der Seelsorger,
die mit dieser heiklen Aufgabe (!) betraut werden,
erfordert besondere Aufmerksamkeit. Hierzu verweise ich auf das,
was in den USA bereits praktiziert wird und worüber der
homosexuelle Ex-Jesuit Pater John McNeill in einem Interview
gesprochen hat: homosexuelle Priesteramtskandidaten wird es in
Zukunft so gut wie nicht mehr geben, falls sie es nicht geschickt
verstehen, sich durch die Maschen der römischen Auswahlkriterien
hindurchzuschmuggeln.
Es sei allen Sympathisanten der katholischen Homosexuellen dringend
empfohlen, die Passagen des Absatzes 17 sorgfältig zu studieren.
Sonst gibt es bald ein böses Erwachen.
Absatz 18 beschwört abschließend noch einmal die Wahrheits-Frage.
Darin sind wir uns gewiss einig, Homosexuelle und kirchliche
Homosexuellengegner im Vatikan. Die Frage ist, wer wirklich in
ihrem Besitz ist. Wir alle wollen uns weiterbemühen, die
Wahrheit über die Homosexualität herauszufinden. Das
ist auch das Ziel und Bestreben meines Buches. Welche Lehre darüber
irrig ist, wird sich noch herausstellen. Ich würde
da anstelle von Herrn Ratzinger nicht so sicher sein, wie er
sich gibt.
Ich meine, was sich hier so fortschrittlich gibt, ist eher rückschrittlich,
eher ein Rückzugsgefecht.
- Literatur:
Vatikan intern. Ein Bericht von Sepp Ebelseder und Peter Luppenlatz.
Dokumentation: Petra Stähle. Hier vor allem Folge Nr. 5
Verfluchte Lust, Heft 21 vom 14. Mai 1987, S. 102-112,
Stern-Magazin, Hamburg
Willhart S. Schlegel, z.B. in Körper und Seele
(Konstitutionslehre), Stuttgart 1957, oder in Die Sexualinstinkte
des Menschen, eine naturwissenschaftliche Anthropologie
der Sexualität, Hamburg 1962; 2. Aufl. München 1966;
vgl. auch Homosexualität - soziales Ordnungsprinzip,
in: Sexualmedizin, 296 - 298, Heft 6 (Juni), 2 , 1973
Gisela Bleibtreu-Ehrenberg: Mannbarkeitsriten. Zur institutionellen
Päderastie bei Papuas und Melanesiern. Ullstein Nr. 35066,
1980
Don Smith: Early Christianity and The Homosexual.
A postscript to a blasphemy trial and a challenge to Mrs. Whitehouse
(in measured tones). London 1977; ders.: The sin
of Sodom. The greatest scandal in Christendom. London 1978; ins
Deutsche übersetzt von J. Werres
- Karlheinz Deschner: Abermals krähte
der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte. Stuttgart 1962; Düsseldorf
und Wien 1980. Rastatt 1987
Uta Ranke-Heinemann: Widerworte. Friedensreden und Streitschriften.
Mit den aktuellen Texten: Maria und der Zölibat. Goldmann,
München 1987
Harald von Mendelssohn: Jesus - Rebell oder Erlöser? Die
Geschichte des frühen Christentums. Hamburg 1981, München
1987
Heinz Hunger: Heilige Hochzeit, Wiesbaden (vgl. Medical Tribune)
Gisela Bleibtreu-Ehrenberg: Der Weibmann. Kultischer Geschlechtswandel
im Schamanismus. Eine Studie zur Transvestition und Transsexualität
bei Naturvölkern, Fischer, Frankfurt 1984
Joan Halifax: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Bern/München
1985
John McNeill: Interview in De Tijd, Anfang 1987 (1976 schrieb
McNeill mit kirchlicher Druckerlaubnis ein Buch über Homosexualität.
Das Imprimatur wurde später wieder zurückgezogen)
HuK: vgl. Johannes Werres: Die Heiligen von Sodom, Aufsatz im
Gay Journal, Heidelberg, Dezember 1980; Leserbrief
von Heinz Brink, Berlin, Februar 1981 im Gay Journal
(HuK = Homosexuelle und Kirche, Zusammenschluss christlicher
Homosexueller in der Bundesrepublik Deutschland)
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