60. LUST, Juni/Juli 00
 
Schwulen- (und Lesben-) Feindliches
Joachim Schönert unter Mithilfe von Helma Eller
 
Muß frau/man sich sorgen, müssen wir uns sorgen, wenn eine Gruppe unter ihrem werbeträchtigen Schlagwort „Brennpunkt Seelsorge” behauptet, sie könne Menschen von ihrem Laster der Homosexualität „erlösen” und dazu beitragen, daß sie heiraten und Kinder produzieren, müssen wir uns deshalb sorgen?
 
Allgemein gesehen natürlich nicht. Unabhängig von sektenhaften Organisationen wie z.B. „Christen in der Offensive e.V.” (Herausgeberin des zweimonatlich erscheinenden Sektenblättchens „Brennpunkt Seelsorge”) bemerken Frauen und Männer, dass sie über homosexuelle Neigungen verfügen. Unbeeindruckt solche Sekten werden sie einen Weg suchen und auch finden, werden sie in einer heterosexuell normierten Gesellschaft einen für sie selbst gangbaren Weg zu finden versuchen, ein wenig Lebensglück für sich zu verwirklichen. Wir brauchen uns also nicht zu sorgen. Oder?

Als der Papst sich anschickte, wegen der Menschen, die durch christliche Menschen (und nicht der Kirche selbst?) zu Opfern wurden, um Vergebung vor Gott (nicht vor den Opfern?) zu bitten, ließ er die Gruppe der Lesben und Schwulen aus. Natürlich, er konnte ja nicht anders.
 
Hätte er um Verzeihung dafür gebeten, dass homosexuelle Menschen Selbstmord begangen haben, weil sie entsprechend ihrer eigenen von klein auf erlernten religiösen Moral sich selbst für verworfen und unmoralisch hielten, dass Leute sich ihr ganzes Leben lang nicht trauten, sexuelle Erfüllung anzustreben, oder sich immer dabei oder danach so schlecht fühlten, dann hätte er Vieles in Frage stellen müssen. Um diese homosexuellen Menschen tut es mir leid. Und es tut mir leid um die Ehefrauen homosexueller Männer, die mit dem Mißmut ihrer Männer leben mussten, um die Ehemänner lesbischer Frauen, die ausbleibende Gegenliebe nicht verstanden.

Heutzutage finden Schwule und Lesben schneller ihren Weg. Sie brauchen die quälenden Umwege über moralische Skrupel und dem Versuch, sich heterosexuell zu bestätigen, nicht mehr zu gehen. Aber das trifft nicht für alle zu. Und auch um diese Menschen tut es mir leid. Deshalb, so denke ich, müssen wir es schon ernstnehmen, wenn eine Sekte sich in dieser Weise aufspielt.
 
Sie könnte nämlich Menschen damit unglücklich machen, zumindest könnte sie dazu beitragen, daß Lesben und Schwule sich und andere noch eine Zeitlang quälen, bevor sie ihren Weg finden, sich zu erfüllen. Ich will hier selbstbewußten religiösen Lesben und Schwulen nicht zu nahe treten, denn sie haben sicherlich einen Weg gefunden, sich auf ihre Weise zu erfüllen. Mir geht es um solche Menschen, die sich eben nicht erfüllen können.

Die Masche von Sektenagitatoren ist perfide. Sie nutzen Vorurteile und ihre eigene Interpretation der Religion, sie nutzen unseren Kummer, unsere Leiden, unseren Selbstzweifel, unsere Unzufriedenheit, denn unser Leben ist auch unter uns nicht liebevoller, als die Gesellschaft mit Menschen umspringt, also auch mit uns umgeht.

Bei einem Infostand auf einem Festival vor Jahren kam eine Gruppe von Sektierern und wollte uns von unserer Homosexualität heilen. „Auch ich war homosexuell”, sagte einer der Mitglieder der Sekte „Jesus für Deutschland”. Und er schwärmte uns an unserem Infostand etwas Kitschiges von der Ehe vor, das er jetzt erleben würde.
 
Damit belästigte er uns, wie wir das vor und während unserem Coming-outs auch auf dezentere Art von unseren Verwandten erleben, die sich nicht vorstellen können, dass es Menschen gibt, die anders leben wollen, als es Gesellschaft und Religion vorgeben. Einige Minuten später hörte ich damals, wie eines ihrer Mitglieder am Nachbarstand (es waren Trotzkisten) erklärte: „Auch ich war einmal Marxist...”. Nun, das sind eben solche Maschen.

Die Ausgabe 97/4 (Juli-August) von „Brennpunkt Seelsorge” hat zum Hauptthema „Homosexualität und Seelsorge”. Ein Joseph Nicolosi wird hier als „Psychotherapeut vorwiegend mit homosexuell orientierten Männern” in Los Angeles vorgestellt. Er unterscheidet in einem längeren Aufsatz in „Homosexualität” als Begriff der sexuellen Orientierung und „schwul” als eine soziopolitische Identität.
 
Während die Psychologen üblicherweise helfen würden, die homosexuelle Orientierung zu akzeptieren, „helfe” er den Betroffenen, mit homosexuellen Gedanken anders umzugehen. Homosexualität sei nämlich kein sexuelles, sondern ein Identitäts-“Problem”. Ihm gehe es um die Heilung der homosexuell orientierten Männer.
 
„Homosexuelles Verhalten ist der Versuch, Anschluss an fehlende oder verlorene Männlichkeit zu bekommen. Es ist der symbolische Versuch, sich Männlichkeit einzuverleiben und in das eigene Sein aufzunehmen. Der männliche Homosexuelle fühlt sich unvollständig und sucht nach Ganzheit. Typische Kennzeichen bei homosexuell Orientierten sei daher: Mangel an männlicher Geschlechtsidentität, wenig Selbstbewußtsein, Schwierigkeiten für sich einzustehen oder etwas für sich zu fordern, Ich-Schwäche und Passivität. Man könnte auch von einem männlichen Minderwertigkeitskomplex sprechen” (S. 79).

Wie es bei männlichen Stammtisch-Wissenschaftlern üblich ist, reibt er sich an der männlichen Homosexualität, hält schwule für verweiblicht also nicht für vollwertig (Sind Frauen nicht vollwertig?), bohrt in der Psyche männlicher Homosexueller rum und macht nebensächliche Aussagen über Lesben. Seine „Therapie” sieht infolgedessen so aus, dass er die „Männlichkeit” homosexuell Orientierter stabilisieren will. Der Therapeut darf nicht so unnahbar sein wie es der Vater war: „Homosexuelle Männer suchen nach Vätern, nicht nach Theorien. Es ist daher wichtig, dass homosexuell Orientierte einen gleichgeschlechtlichen Therapeuten oder Seelsorger haben. Männer brauchen einen Mann, Frauen eine Frau” (ebenda).

Der homosexuelle Mann soll also „echte” Mannmännlichkeit, väterliche Zuwendung erfahren und dadurch in seiner Männlichkeit stabilisiert werden, die homosexuelle Frau durch echte mütterliche Freundschaft in ihrer „echten” Weiblichkeit stabilisiert werden. „Zum ersten Mal beginnt der Klient zu verstehen, was Männlichkeit ist. Heute ist der Sinn für Männlichkeit und Weiblichkeit weitgehend verlorengegangen” (ebenda). Als kritischer Leser seiner Logik muss ich daher schließen, dass nahezu alle Frauen Lesben sein müssen, nahezu alle Männer Schwule, wenn „echte” Männlichkeit und Weiblichkeit weitgehend verlorengegangen sei.

Wenn ein junger Mann unter der Dusche einen älteren Mann beobachte, dabei eine Erektion bekomme und diese von dem Älteren sehen lasse, dann würden Vertreter von Homosexuellenverbänden dies als Hinweis für eine homosexuelle Neigung werten. In Wirklichkeit gehe es dem jüngeren Mann darum, seine Männlichkeit vor dem Älteren unter Beweis zu stellen. Das soll wohl heißen, dass die Schwulenverbände unfähig sind, für die homosexuell Orientierten zu sprechen?
 
Das Heft ist voll von pseudowissenschaftlichen Deutungen, und ich frage mich, was die Mitglieder der Sekte, die solches lesen, mit ihren Kindern machen werden, falls diese homosexuell empfinden und einen gangbaren Weg suchen. Die Sekte in Schloss Reichenberg in Reichelsheim lädt meiner Meinung nach große Schuld auf sich. Eine Andrea Enders spricht in ihren Texten von der „neurotischen Natur von Homosexualität sowie die zugrundeliegenden kindischen Verhaltensmuster” (S. 102), dass ich annehme, man müsste dieser Sekte wegen ihrer Beleidigungen und offen herabsetzenden Diskriminierungen juristisch zu Leibe rücken können.

In dem Aufsatz „Die Ablehnung der Homosexualität im Judentum” wird berichtet, dass es vorher Gesellschaften gab, die von Sex dominiert worden seien, dass es sexualisierte Religionen gegeben hätte und homosexuelles Verhalten weltweit akzeptiert worden sei. Dass von der Bibel ein zivilisatorischer Einfluss ausgegangen sei und eine hart umkämpfte Moralordnung.

Weinerliche Berichte von ehemaligen Homosexuellen, die durch Gott es geschafft hätten, normal zu werden und Ratschläge an Eltern, die Identifikation des Jungen mit der Männlichkeit, die der Mädchen mit der Weiblichkeit zu fördern, belegen, dass diese Broschüre in der Hand von Eltern homosexueller Kinder schlimmes Leid anrichten können.
 
Falsch sei auf jeden Fall die Auffassung, Homosexualität wäre ein der Heterosexualität gleichwertiger Lebensstil. Wenn ein Teenager vom gleichen Geschlecht angezogen werde, sei es falsch, ihn dazu zu bringen, homosexuelle Gefühle als normal anzusehen. „Die Überwindung der Homosexualität geht einher mit Reiferwerden und ist daher eine Variante des allgemein-menschlichen Kampfes um die Überwindung des Infantilismus” (S. 101).

Im Blättchen OJC aus Reichelsheim (Anstiftung zu gemeinsamem Christenleben, Freundesbrief der Ökumenischen Kommunität, Offensive Junge Christen in Reichelsheim i. Odenwald und Greifswald) Nr 184, Januar-Februar, 1/2000 äußern sich diese Leute „Zur Homosexualitäts-Debatte im Verteidigungsministerium”.
 
In einem mit „Eilnachricht vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft, Reichelsheim, Februar 2000” überschriebenem Text erklären sie „Wir haben daraufhin als Christen unsere staatsbürgerliche Pflicht ernst genommen und unsere Erfahrungen und neue Forschungsergebnisse in einem Brief dem Verteidigungsministerium zur eigenen Meinungsbildung zur Verfügung gestellt” (S. 44).
 
Diese Christen beklagen dann. dass sie mit ihren zahlreichen Einflussversuchen nicht so recht zum Zuge kamen, obwohl sie doch Einiges vorweisen könnten: „Unsere Erfahrungen und Ergebnisse aus unserer über 20-jährigen Beratungsarbeit mit homosexuell empfindenden Menschen stellen wir ihnen gerne zur Verfügung” (ebenda).

Sie beklagen, dass sie nun „Meldungen” (?) erhalten, „die unser Institut wegen der ‘obskuren Studie´ ins Gespräch bringen. Leider lassen die meisten dieser Meldungen sorgfältige Recherche und vor allem Toleranz vermissen! Es geht nicht mehr um die Möglichkeit, verschiedene Meinungen in einem pluralistischen Staat offen auszutragen, sondern um den Versuch, eine unliebsame Stimme durch Ausgrenzung mundtot zu machen. (...) Dies schadet nicht nur einer demokratisch offenen und ehrlichen Auseinandersetzung mit dem Thema, es diskriminiert auch alle homosexuell orientierten Mitmenschen, die unsere Sicht teilen ...” (S. 45).

Natürlich können wir uns nicht um jede obskure Meinungsäußerung kümmern. Bei all unsere Freude bei den CSD-Festen darüber, dass Diskriminierungen nachgelassen haben: unsere recht unterschiedlichen selbstgerechten GegnerInnen stehen in den Startlöchern und lauern nach Möglichkeiten, uns und andere Menschen als Sündenböcke, Kranke oder gefährliche Menschen zu missbrauchen, um größeren Einfluß in der Gesellschaft zu bekommen.
 
Menschen, die entsprechen homophob erzogen wurden und Homosexualität an sich selbst wahrnehmen, das sind die vorrangigen Opfer der „Heilungs”-Versprechen dieser Leute, die eine schöne und glückverheißende Identität zu einer Krankheit und Sünde machen.

Natürlich wollen solche Sekten auf sich aufmerksam machen, unsere Gegenwehr gegen sie käme ihnen nur recht, um sich als Opfer aufzuspielen. Aber können wir sie scheinbar unbemerkt gewähren lassen?
 
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