- Aus der 60. LUST, Juni/Juli 00
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- Anmerkungen zur Pornographie
von Claudia Gehrke
- Die Verfasserin ist Verlegerin. In ihrem
Verlag, dem Konkursbuchverlag Claudia Gehrke erscheinen viele
erotische Erzählungen und Bildbände und es erscheint
das Jahrbuch der Erotik Mein heimliches Auge.
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Sexualität
ist Potential von Glück. Es kann unglaubliche Momente der
Innigkeit beim Sex geben, ob sich die Partner lange kennen oder
nur wenige Tage. Wir verzaubern die Zeit, sagen sich Geliebte.
Ein Heraustreten aus der Realität, ein Sprung des Bewusstseins.
Doch immer gibt es auch kleine Katastrophen, komische Situationen
beim Sex. Technische Pannen. Eine schöne Nacht, aber ein
Alltagsstreit danach. Peinliche Situationen beim ersten Rendezvous.
Störungen gehören dazu.
Es gibt gegenwärtig ein unendliches Reden über Sex
- vor allem in den Medien, weniger wohl im alltäglichen
Leben - und andererseits - auch in den Medien, zuletzt z.B. in
einer Titelgeschichte des Stern - die Auffassung,
dass genau dieses Reden und die vielen Bilder das Schöne
am Sex, das so etwas wie ein Geheimnis sei, zerstöre.
Doch nicht der Sex ist das Geheim
- nis, das, was man körperlich dabei tut,
sondern die Empfindungen: warum z.B. verliebe ich mich in diese
und nicht jene Person. Liebe ist in unserer Kultur oft Thema
der hohen Kunst, ob Literatur ob Film, ob Bild, Sex
nicht. Bis vor kurzem fand man keine Bilder sexueller Handlungen,
ja nicht mal realistische Bilder weiblicher oder männlicher
Geschlechter in kulturell akzeptieren Kunstwerken. Abgebildeter
Sex war Pornografie.*
Die Ausklammerung des Sex aus der Kultur hat ihn einerseits überbewertet:
Sex ist so schön, so geheim, nur eine Sache zwischen Zweien,
über die man nicht spricht - Die Enttäuschung ging
immer einher: Sex hielt niemals, was dieses große Versprechen
suggerierte. Unter den dazugehörigen kleinen Katastrophen
wurde überdimensional gelitten. Heute weiß man aus
den Medien angeblich zuviel und leidet angeblich an derselben
Enttäuschung.**
Andererseits wurde Sex in unserer sexbilderlosen Kultur unterbewertet,
als schmutzig angesehen, als Gefährdung der
Moral. Selbstverständlich gab es auch in der moralisch akzeptierten
Kunst Erotik. Eine Erotik der Brüste. Und Schmerzlust. Der
ekstatische Ausdruck heiliger Märtyrer - so stellen wir
uns männliche Gesichter in Hingabe vor. Natürlich haben
Bilder eine Wirkung auf die Phantasie, auf die Wünsche und
Träume.
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- Von Bildern, die wir einmal gesehen haben,
können wir nicht so tun, als hätten wir sie nie gesehen.
Haben wir als Kinder viele dieser Bilder in den Kirchen gesehen,
ist irgend etwas davon hängengeblieben. Künstlerinnen,
die eine katholische Kindheit hatten, versuchen den Gesichtern
ihrer ProtagonistInnen in Bildern - welchen Themas auch immer
- durchaus etwas von diesem Blick in die unbestimmte Ferne himmlicher
Ekstasen zu geben - auch wenn es sich dabei um durchaus irdische
und konkrete Ekstasen handelt.
Natürlich entwickelte sich neben der Hochkultur auch immer
eine Subkultur. Alle bekannten Maler malten auf Auftrag auch
Sexuelles, illustrierten deftig und deutlich galante Romane
- übrigens gab es viele Illustratorinnen. Mit dem Medium
Fotografie tauche die Waschküchenpornografie auf - jene
Bildchen, die im 10er-Pack verkauft wurden und in Waschküchen
entwickelt. Man sieht an den Gesichtern der Protagonisten fast
immer eine doppelte Lust: an dem, was sie da taten, am Sex in
allen Varianten, und zugleich am neuen Medium, daran, dass es
sofort auf Papier gebannt sein würde.
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- Ich schätze, dass es heute im Internet
auf den privaten Seiten ähnlich ist: es gibt diesen Einblick
in das Wohnzimmer einer Frau, die sich in einer Fotoserie ins
Internet stellt, egal was sie macht, ob sie Gäste empfängt,
isst, Fernsehen guckt, schläft. Der Spaß dabei ist
wohl das neue Gefühl, dass man mit diesem wieder einmal
neuen Medium sofort überall in der Welt ist, Antworten bekommt
- kommuniziert über die Grenzen von Zeit und Ort hinweg.
Doch die Fotografie hat sich entwickelt von den zauberhaft unscharfen
Fotos der 20er Jahre hin zur Hochglanzheftchenkultur. Eine Subkultur
für Männer, die in den späten 80ern durch die
EMMA-Kampagne ans Tageslicht der öffentlichen Diskussion
gezogen wurden. Auf diesen Bildern geht es nun meist nicht mehr
um die Lust der Beteiligten miteinander und an dem Bild, sondern
um die Aufforderung: du da draußen, du, der männliche
Betrachter, könntest mich auch noch haben.
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- Selbst wenn in jeder Öffnung etwas steckt,
blickt die Frau noch auffordernd nach draußen, unbeteiligt
an der stattfindenden Aktion. Ihr Blick sagt nur eins: nimm mich.
Die Öffnung der Pornoschubladen hat eine kulturelle, bilderkritische
Diskussion ermöglicht, die vorher nicht stattfand. Erst
im Vergleich wird sichtbar, wo Facetten von Lust entwickelt werden.
Natürlich blicken abgebildete Menschen nach außen,
in eine Kamera, doch in wirklich erotischen Bildern liegt in
ihrem Blick eine Affinitiät zu Fotografen, zur Fotografin.
Es wird eine Kommunikation sichtbar, zwischen FotografIn und
Modell, zwischen den Menschen auf dem Bild.
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- Die Gesichter auf den anderen Bildern kommunizieren
nicht, nicht mit der Aktion, die stattfindet, nicht mit dem Fotografen,
nicht mit den Betrachtern. Sie wirken losgelöst vom Rest.
Sie schauen nach außen, um die Funktion dieser Bilder zu
verdeutlichen, um etwa zu sagen du, du da draußen,
komm her, kauf mich - (oder das dahinterstehende Auto, Parfum,
etc...).
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- Doch es gibt Bilder deutlich abgebildeter
Sexualität, die wirklich etwas zeigen von der Lust der Beteiligten,
Zärtlichkeit und auch Härte, aber immer: die Berührung,
die den Menschen, die sich dort berühren, gut tut. Hier
gibt es natürlich individuelle Grenzen. Was den einen Lust
macht, erscheint den anderen als Gewalt. Die Schmerzlust zum
Beispiel ist immer Thema solcher Debatten: darf Frau oder Mann
das abbilden? Ich glaube, es sollte möglich sein, zu vermitteln,
dass für manche ein Schlag auf den Po nicht Strafe und Übergriff
bedeutet, sondern eine frei gewählte Form der Empfindung:
ein kurzer Schmerz, der umkippt in Hitze der Haut, die umkippt
in sexuelle Lust. SM ist wie Theater.
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- Mit Spielen, die Gebot und Verbot inszenieren:
du darfst das nicht - du tust es doch
- du wirst bestraft - du wirst - wie in den
Indianerbüchern unserer Kindheit - gefesselt, kannst dich
aber schließlich befreien und erhältst die Lust, die
sich durch Verzögerung steigerte... Diese Spiele
haben feste Regeln. Und: man muss die Künste, also etwa
des Fesselns und Berührens, können. Es gibt einen Code,
ein Sicherheitswort, das einer der Beteiligten spricht, und es
ist Schluss. Eine Sache des Vertrauens, der Absprachen. Ohne
diese Absprachen, ohne die Macht dessen, der sich in die Rolle
des scheinbar Ausgelieferten begibt, handelt es sich
um Gewalt.
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- In alltäglichen Beziehungen gibt es
kein Sicherheitswort. Paare können sich bis zur Grenze physischer
oder seelischer Unerträglichkeit quälen, von der Alltagsnörgelei
zur körperlichen Gewalt. Aber es ist keine Gewalt,
wenn eine Frau oder ein Mann etwa körperliche Lust verspürt
dadurch, dass er oder sie sich hart berühren lässt,
von einer Person, die er oder sie liebt, mag, begehrt. Wenn sie
oder er dagegen auf der Straße geprügelt wird oder
in der Beziehung in einem Streit, ohne es zu wollen, dann handelt
es sich um Gewalt.
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- Diese Differenzen kennenzulernen, ist wichtig.
Schon die aufgezwungenen Küsse ungeliebter Tanten der Kindheit
sind etwas wie Übergriff, Zärtlichkeit ist andererseits
lebensnotwendig. So ist die Aufdeckung sexueller Gewalt gegen
Mädchen und Jungen absolut sinnvoll, diese Gewalt muss mit
allen Mitteln bekämpft werden. Doch die Frage, wie die selbstverständlich
von erwachsener Sexualität völlig unterschiedene kindliche
Sexualität sich entwickeln kann, wie Jugendliche Sexualität
lernen, wird kaum mehr gestellt, positive Seiten von Lust verschwinden
zunehmend hinter der Auffassung von Gefahren und Gewalt. Lernen
ist am schönsten durch Selbstentdeckung.
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- Diese lässt sich höchstens unauffällig
unterstützen durch Erwachsene. Vielleicht auch, indem in
Kunst und Literatur ein selbstverständliches Klima für
Sexuelles geschaffen wird. Das meint nicht, dass Bilder und Bücher
zum Thema Sex Kindern und Jugendlichen aufgedrängt werden,
aber dass sie selbstverständlich in einer Kultur für
Erwachsene vorhanden sind - wie alle anderenThemen, die auch
eher Erwachsene betreffen und dennoch nicht ins Pornoshop verbannt
werden, vom Krimi zur täglichen Katastrophenberichterstattung.
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- Und selbst wenn Jugendliche per Zufall über
Bücher wie Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der
Erotik stolpern sollten, stolpern sie hier über Differenzierungen
und Vielfalt und gleichwertige Formen der Sexualität, über
lesbische, heterosexuelle, schwule Erotik von zart bis hart,
vom Alltagssex bis zur inszenierten Kunst - und nicht über
die Eindimensionalität der Pornohefte und -videos, die sie
sich, obwohl oder gerade weil für Jugendliche verboten,
mit Hilfe von älteren Freunden aus dem Videoshop oder den
elterlichen Regalen oder dem Internet holen können...
In unserer kulturellen Bilderwelt verschwand vor allem die Lust
der Frau. An der Stelle der Geschlechter ist nichts, nicht einmal
ein Schlitz - bekanntlich in indischen Tempeln und japanischen
Kopfkissenbüchern in allen erdenklichen Kombinationen deutlich
zu sehen. Natürlich war in diesen Kulturen die Sexualität
und ihre Bilder eingezwängt in ein Korsett von Ritualen,
doch Sex durfte an öffentlichen und heiligen Orten abgebildet
werden, weil er etwas Göttliches war -und genauso wie der
lustvollen Erzeugung von Kindern der Erzeugung von Lebensenergien
diente***.
Noch heute wird zwischen den Beinen der vor dem Vorhang verkaufbaren
Playboybilder retuschiert. Denn Jugend durfte nichts sehen, was
ausschließlich dazu dient, sexuelle Erregung zu erzeugen,
also vorsichtshalber gar keine sexuelle Erregung. Da man(n) beim
weiblichen Geschlecht nicht unterscheiden konnte, wann es sexuell
erregt ist und wann nicht, wird sicherheitshalber immer retuschiert
und es gibt diesen verwaschenen Fleck auf den Frauenfotos: die
Gesichter dazu mit jenem von unten nach oben gerichteten geilen
Blick und den immer gleichen aufgeworfenen Lippen.
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- Das eigentlich pornografische
dieser Bilder sind meiner Meinung nach die Gesichter und nicht
die Geschlechter. Die unterliegen einer Art Kastration. Wo nichts
zu sehen ist, ist auch NICHTS. Es kommt zu einer Unfähigkeit,
das eigene weibliche Geschlecht mit positiven Bildern zu besetzen.
In den Kinderaufklärungsbüchern wurde bis vor nicht
allzulanger Zeit sexuelle Erregung fast ausschließlich
am Mann erklärt: wenn Mami und Papi alleine sind und sich
gut fühlen, dann wird der Penis von Papi groß und
dringt in Mami ein. Ich brauche hier nicht weiter auszuführen,
dass zur sexuellen Erregung von Mami analog zum Großwerden
gehörte: die Vagina von Mami wird feucht, die Mösenlippen
(Scham-Lippen) werden größer, der Kitzler
richtet sich auf...
Viele Mädchen meiner Generation wussten zwar viel über
Sex, was da also etwa Mann und Frau miteinander taten - von Frau
und Frau oder Mann und Mann war weniger die Rede - aber sie wussten
nicht im geringsten wie das andere, männliche Geschlecht
nun wirklich aussieht, wenn es mit Sex zu tun bekommt: diese
erschreckende Größe. Und unser eigenes
Geschlecht kannten wir nur als das da unten oder
kleiner Popo, als ein Nichts. Inzwischen weiß
ich: Geschlechter sind so schön und so verschieden wie Gesichter.
Ich schaue sie ebenso gerne an, und das ist nicht ein sexualisierter
Blick, sondern ein Blick auf so etwas wie den ganzen Körper
auch wenn ich immer nur Details wahrnehmen kann. Das Geschlecht
ist ein so schönes Detail wie eine Schulter, ein Gesicht,
ein Arm.
Lust geht in der Kindheit los. Ein Kribbeln im Bauch
- beim Spiel mit anderen Kindern, bei Abenteuern - nichts direkt
Sexuelles, aber diese Empfindung der Aufgeregtheit. Obszöne
Gesten im Sinne des Bäh!, des die-Zunge-Rausstreckens
sind keine sexuelle Auffoderung sondern einfach Frechheit. Und
gute Kinder sind frech. Das erste Begehren, eine
Andeutung Leidenschaft. Welches Mädchen, welcher Junge schwärmt
nicht irgendwann einmal für irgendwen.
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- Kindheitserinnerungen sind wichtig auch für
die erwachsene Lust. Sie begleiten sie. In jeder neuen Liebe
wird das Gefühl der ersten Verliebtheiten hochgekitzelt.
Sexuelles ist vor allem aus der Erinnerung erzählbar. Erinnerungen
an sich selbst als Kind. Das ist etwas grundsätzlich anderes
als die begehrliche und abzulehnende Annäherung an ein wirkliches
Kind. Kinder dürfen Erwachsene zum Objekt ihrer Triebe
mache, aber die Einhaltung der Grenze ist Angelegenheit des Erwachsenen.
(Eva Poluda-Korte, Psychoanalytikerin)
Die aktuellen Debatten zur Sexualität legen ihre Schattenseiten
bloß: So wichtig und lebensnotwendig all diese Aufdeckungskampagnen
sind, so schrecklich die Gewalttaten und die Entdeckungen im
Internet, so sehr gibt es einen Umkehrpunkt, an dem solche Debatten
dazu beitragen, letztlich jede Berührung zwischen den Menschen
unmöglich zu machen. Ein ubiquitärer Verdacht breitet
sich aus, jede/r ist potentieller Täter und potentielles
Opfer. Die wirklichen Täter, die man juristisch mit allen
zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen sollte, werden
dadurch verharmlost. Kinder und Erwachsene werden inquisitorisch
beobachtet auf mögliche Anzeichen hin. Jede spontane nur
zärtliche Berührung erstirbt an dieser Infragestellung,
der beste Schutz: Berührungsverbot.
Dasselbe gilt durchaus auch für die Annäherung unter
Erwachsenen. Wie geht es los mit dem Sex zwischen heterosexuellen
Menschen (in den lesbisch-schwulen Subkulturen stellen sich andere
Fragen des Beginns - es gibt eine Kultur des Anmachens,
die weniger gestört ist von der zwischengeschlechtlichen
Machtfrage, obwohl es - auf jeden Fall unter Lesben - ebenfalls
viele Pannen und Peinlichkeiten und Ängste gibt...).
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- So wichtig es für Frauen ist, sich gegen
Belästigung und Anmache zur Wehr zu setzen, so sehr kann
auch die Debatte umkippen in jenen ubiquitären Verdacht
und letztlich jede erotische Annäherung unmöglich machen:
wenn ich sie anspreche, gar berühre, denkt sie, ich will
sie anmachen, also lass ichs lieber - wenn
ich ihn anspreche, denkt er, ich bin leicht zu haben.
Vereinzelung auf allen Ebenen, Sex als Kleidermode, Körper
gut verpackt und unberührbar, Telefonsex, Emailsex, Berührung
durch körperlose Medien, die Paare liegen miteinander im
Bett und statt der Zuwendung zueinander erfolgt die Wendung nach
vorne, berührt wird vor allem die Fernbedienung.
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- Auch im Zusammenhang mit der notwendigen
Aufklärung über AIDS: es hat sich in jeden Kopf die
Erkenntnis geschlichen: der potentielle Sexpartner ist ein potentieller
Feind, da potentiell ansteckend. Doch die Verteufelung moderner
Medien sieht nur eine Seite. Denn auch aus Emailwechseln entstehen
Paare. Es bleibt nicht alles einsam am Computer, und auch über
die Frage des Gummis gibt es Kommunikation und Lust.
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- Einsamkeit gibt es überall, auch in
der geborgensten Paarsituation, auch in intimen Sekunden beim
Sex: plötzlich ist man so allein. Es gehört dazu. Ein
melancholisches Gefühl nach schönem Sex. Ich denke,
all diese feministischen Kampagnen der Aufdeckung sind notwendig,
aber ebenso notwendig ist, ihre Grenzen zu erkennen.
In den 70er Jahren gab es die feministische Annahme, Frauen seien
infiziert von männlichen Bildern, von denen
sie sich erst zu reinigen hätten, bevor eigene überhaupt
möglich wären. Am Schluss dieser Häutungen
fand sich die befreite Frau - lesbisch und sanft. Feministisch-erotische
Literatur ist eine Coming-out-Geschichte mit zarten Szenen der
Selbstentdeckung. Alles Weibliche ist weich und kuschelig.
Wie können Frauen über Erotik schreiben? Diese Frage
der Autorin von Häutungen, Verena Stefan, beschäftigt
in den folgenden Jahren viele Frauen. Manche Texte begnügten
sich mit der Demontage der Bilder - ohne den Gestus der Reinigung,
ohne authentisch Weibliches konstruieren zu wollen.
Zynisch und provokant lässt Elfriede Jelinek ihre weiblichen
Hauptfiguren agieren wie die Fliegen im Spinnennetz. Den Strukturen
des kapitalistisch-patriarchalisch determinierten Lebens entkommt
man nicht, ist ihre pessimistische Botschaft, gerade nicht in
der Sexualität, auch nicht in scheinbaren Oasen.
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- Eine Annahme der 70er und 80er Jahre wurde
infolgedessen, dass Frauen keine Lust haben können,
da es keine weibliche Lust geben kann, so lange es männliche
Gewalt gegen Frauen und Mädchen gibt. Weiblichkeit und Verweigerung
wurden verklammert. Die Polemik gegen die Lust der Männer
am Objekt Frau wird unversehens zum Verwerfen jeglicher Lust
der Frauen. Viele Schriftstellerinnen und Künstlerinnen
verweigern sich der Darstellung der Lust, erzählten ausschließlich
von Beschädigungen. Das Thema der Selbstentdeckung wurde
an seine Grenzen getrieben. Provozierende, brutale Körperpoesien
entstanden. Ein Körper mit Ausstülpungen, Ausdünstungen,
Innenfleisch, Blut, Gedärmen. Keine männlich-glatte
leichenhafte Oberfläche.
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- Wie in einer blutigen Initiation eignen sich
die Frauen in Kunst und Literatur ihren Körper wieder an.
Dann begann eine Debatte um richtige weibliche Sexualität.
Aus politischer Angst, dass Frauen den Männern mit erotischen
Texten nur ein Aha-Erlebnis liefern: Sie sind also doch so ...
wurde ein seltsames Bild richtiger weiblicher Lust entworfen.
Als kenne sie keine lustvolle Auflösung der Grenzen zwischen
Eroberung und Erobertwerden - sondern nur den allbekannten Kuschelsex.
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- Und die soziale Formel: du tust mir gut,
ich tu dir gut. Natürlich stimmt diese Formel, aber: Lässt
es sich überhaupt genießen, wenn ich gleichzeitig
denke, wie kann ich das der/dem anderen gleich wieder zurückgeben?
Doch die Frauen-Debatten über Sexualität, gerade auch
die PorNOdebatte ermunterten immer mehr Frauen, ihre Lust im
Text zu erfinden, auch spielerisch, auch experimentell, ohne
den Anspruch gleich große Kunst zu sein. So hat sich in
den 90er-Jahren eine Erotikliteratur entwickelt, die trotz und
aufgrund all der angestrengten Versuche, die richtige
weibliche Sexualität zu finden, im Sinne einer befreienden
Gegenbewegung weg von der Suche nach dem wahren Weiblichen
hin zu einer Leichtigkeit gefunden hat - mit einem genauen Blick
auf die kleinen und widersprüchlichen Details der Lust.
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- Der Zauber der romantischen Gefühle
lässt sich selten durch bemühte Worte wiedergeben.
Frauen benennen Details des sexuellen Spiels. Unverkrampft und
mit Witz erzählen sie von den Paradoxien zwischen Realität
und Sehnsucht, von der Komik, Tragik und Banalität von Alltagssexualität
und von großen Gefühlen, von den Problemen
mit der Sprache.
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- Es gab ein gravierendes sprachliches
Problem zwischen ihnen. Silke nämlich war eine Verfechterin
der harten Tour, was sich in Ich mach dich völlig fertig
du kleine geile Sau und ähnlichen Anfeuerungen äußerte,
die Elvira eher nicht zu scheißtreibenden Höchstleistungen
anspornten, und was war schon dagegen ein dahingehauchtes Schön
oder ein schwer und tief geseufztes Ja, aber die gefühlvolle
Kombination aus beidem., Jaa, schön, wie sollte das vor
einer kleinen geilen Sau bestehen können? (Regina
Nössler, in der Erzählung Wie Elvira ihre Sexkrise
verlor. Sex ist nicht mehr das große überstrapazierte
Glücksversprechen, aber auch nicht mehr allein Hort männlicher
Gewalt. Und obwohl das wahre Weibliche nicht mehr
Thema ist, zeigen sich Differenzen **** - im Detail.
Da schreibt ein männlicher Autor vom Körperchen
das sich enthüllt, und Näschen und Gesichtchen
und der schmalen Möse und vom Fötzchen,
währenddessen sein Schwanz - nicht etwa sein
Schwänzchen - anschwillt. Würde eine Frau jemals so
schreiben? Ist das nun männliche Gewalt, die alles Weibliche
zum Kindlichen macht, um selber mächtig zu sein? Oder verniedlichen
wir alle in der Lust - mit den beliebten Anreden Süßer,
Süße, Baby usf. - Verniedlichen
vielleicht deshalb, weil die begehrten Wesen zu hilflosen
Objekten werden.
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- Das meint jetzt keine Gewaltsituation sondern
schlicht die Gefühle, sich in jemanden zu verlieben. Wenn
wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, leiden wir vielleicht,
wenn es zu keinen oder zu unglücklichen Begegnungen kommt,
aber abstellen lässt sich unsere Lust nicht. Da kann der/die
andere aktiv nichts dagegen unternehmen. Er bleibt Objekt, Sehnsuchtsobjekt.
In der Sitation des Sex selbst: wir wünschen uns, den/die
andere in unsere Händen vergehen zu sehen vor Lust - und
das ist wieder ein Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit.
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- Mir scheint dennoch, dass in jener Beschreibung
des Mannes mehr steckt als nur diese Verniedlichung
der Lust. Ein Funken Gewalt. Auch um solche Differenzen zu erkennen,
muss es möglich sein, Sexualität in den verschiedensten
Textsorten und Bildersorten deutlich darstellen und wahrnehmen
zu können, differenzieren zu lernen und sich ein Urteil
zu bilden.
Lust ist intelligent. Wenn wir uns verlieben: die Tricks, die
wir ersinnen, die begehrte Person auch unter unmöglichen
Bedingungen zu treffen. Mehr noch, wenn man sich verliebt, erwachen
alle Sinne. Man erkennt sehr schnell sehr viel vom anderen. Sie
erkannten einander heißt es, Liebe macht blind
heißt es auch. Die Phantasie der Verliebtheit formt sich
den anderen, entwickelt künstlerische Qualitäten.
Im Café erkannte ich ihn erst nicht wieder. Meine
Phantasie hatte an seiner Erscheinungsform zu viel herumgemodelt.
Der Maler in mir hatte seine blonden Haare etwas dunkler getuscht,
sein frischgestärktes rosa Hemd mit technisch einwandfreiem
Faltenwurf in Stofflichkeit verwandelt. Meine Bildhauerhände
hatten die Nase etwas in die Länge gezogen und dem breiten
Kopf links und rechts einen kleinen Schlag versetzt, um ihn zu
strecken und mit einem mutigen Griff in die Halswirbel die störrische
Sturheit der Kopfhaltung zur Neigung gebracht ... Da saß
er aber völlig unberührt von meiner kosmetischen Phantasie.
Und der erkannte mich sofort... Ich jedenfalls freute mich, dass
er so unverändert da saß. Das macht die Realität
aus und machte sie so verlässlich... (Dagmar Fedderke,
aus Notre Dame von hinten).
Zur Lust gehört die zweite Welt, ein Horizont aus Erinnerung
und Traum, aus Phantasie und Bildern. Die Illusion. Man kann
nicht mit einer oder einem schlafen, ohne dass alles andere mitschwingt:
ein unendlicher Horizont bereits erlebter Lust. Und ein Horizont
an Bildern und Texten. In surrealen Träumen nach dem guten
Sex tauchen sie auf.
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- Eine Bereicherung. Guter Sex kann Paare für
kurze Zeit oder auf Dauer wirklich miteinander verbinden. Der
angeregte Körper produziert Bilder. Weil ihr imaginärer
Horizont groß ist, kann die reife Lust schön
sein. Lust ist nicht, wie in der Mythologie vom Geheimnis suggeriert,
einfach, unschuldig und unberührt von Bildern, explosionsartig
plötzlich da und ganz von selbst schön.
Technische Erfahrung, geübte Finger und ein imaginärer
Horizont gehören dazu.
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- Anmerkungen:
* Übrigens waren die Anfänge der Pornografie satirische
Gesellschaftskritik, Kritik an der Doppelmoral der Kirche etwa.
Margarethe von Navarra (16. Jhd.) schrieb in ihrem berühmten
Heptameron jene pornografischen Erzählungen
über die Priester, die mit den Fingern Jungfrauenproben
machten oder bei den Beichten den Beichtenden Vorführungen
ihrer Untaten abverlangten...
** Was ich nicht ganz glauben kann, ich denke, dass sich die
Menschen weniger von den medialen Bildern beeinflussen lassen,
als man befürchtet, dass man diese Bilder und das Gerede
als Unterhaltung betrachtet und seinen Alltagssex unabhängig
davon mal mehr mal weniger genießt...
*** Das berühmte Kamasutra nennt viele Stellungen, die nicht
der Fruchtbarkeit dienlich sind - es geht um eine
Erneuerung des Ich, um ein Wiedergeborenwerden durch
Lust. Aber auch in anderen vorchristlichen Kulturen gibt es Beispiele
für die Funktion des Sexuellen unabhängig vom Kinderkriegen,
z.B. als Fruchtbarkeitsritual zu Ehren der Korngöttinnen.
**** wobei natürlich männliches auch von
Frauen gemacht wurde und weibliches von Männern...
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