57. LUST, Dezember 99/Januar 00
Die Verführungstheorie
Kann man zur Homosexualität verführt werden? Wenn ja, bitte wie? Kann man zu etwas verführt werden, was man eigentlich nicht wollte? Eine notwendige Aussprache über einen Sumpf von merkwürdigen Theorien.
 
Verführung hat zwei Seiten. Den Bereich des sich verführen Lassens und den Bereich des Verführens. In beiden Bereichen gibt es wieder zwei Unterthemen, nämlich die Frage der Freiwilligkeit und der Unfreiwilligkeit. Also gibt es z.B. ein Thema, das sich damit beschäftigt, sich gerne verführen zu lassen, und das Thema des verführt werdens (oder den Versuch dazu), gegen den eigenen Willen.
 
Sich verführen lassen
Die Frage, ob man zu etwas verführt werden könne, was man eigentlich nicht will, ist nur durch die Definition des Wortes "Verführung" zu klären. Selbstverständlich kann jeder Mensch zu etwas gebracht werden, was er nicht will. Die Frage ist, ob dies Verführung genannt werden kann.

Was ist Verführung? Im Umgangsdeutsch ist Verführung eine anrüchige aber schöne Sache. Man läßt sich ganz gerne verführen, seine Pflicht zu vernachläsigen, die ungeschriebenen Gesetze des Anstandes zu verletzen, die Einschränkung der sogenannten Treue zu unterlaufen, sich gehen zu lassen. Das Wort "verführerisch" drückt Erotik und Faszination aus. Sich verführen lassen heißt auch, den eigenen Gewissenskonflikt dadurch zu lösen, daß man die Verantwortung für ein allzugerne eigenens Handeln der Verführerin, dem Verführer gibt.

Im Gegensatz zur Ver-Führung ist in der Amts- und juristischen Sprache Führung ein eindeutigerer und positiver besetzter Begriff. Die Ver-Führung ist entweder falsches Führen oder zum Falschen fülren. "Falsch" ist die Verführung gegenüber den Interessen der Führung, richtig ist sie vielleicht gegenüber eigenen uneingestandenen Bedürfnissen. Das Gefährliche an Verfürung ist ja gerade, daß sie ankommt und dadurch die Leute vom "geraden Weg" des sich führen lassens abbringt. Das Angenehme am Verführen lassen ist, einen verführerichen Grund zu haben, sich nicht mehr führen zu lassen.

Sich führen lassen, das geschieht durch die Obrigkeit, die Kirche, dem militärischen Vorgesetzten, dem Vorgesetzten am Arbeitsplatz, dem Hausbesitzer usw.. Man hat charakterstark zu sein und allen Ver-Führungen zu widerstehen. Sich verführen zu lassen, das ist vorrangig nicht etwa, sich zu etwas verleiten zu lassen, was man nicht wollte, sondern es bedeutet im Gegenteil, endlich etwas zu tun, was man schon immer wollte, aber nicht wollen sollte, aus der Sicht der Führung, die man sich zu eigen zu machen hat.

Wenn die Führung dann jemanden verurteilt, daß er "schwach" wurde und sich verführen ließ, kann der Verführte nur mit der Rafinesse der Verführung argumentieren, der er unterlegen sei, natürlich trotz aller standhafter Versuche, der Obrigkeit selbstlos zu dienen; denn das wollen wir ja alle, die wir anständige Bürger sind. Oftmals bedarf es gar keines eigentlichen Verführers, um sich auf diese Weise verführen zu lassen. Der Verführer ist es dann nur aus Zufall, der gerade gelegen kommt.
 
Was also ist Verführung?
Die offizielle Definition: "Verführung ist jede Form des Einwirkens auf den Willen eines Menschen, unter Ausnutzen seiner Unerfahrenheit und geringen Widerstandskraft". Und genau hier kommen wir zur eigentlichen politischen Dimension dieser Definition des Begriffes Verführung.

Was ist denn der Wille des Menschen? Natürlich wissen wir alle, daß es der Wille des Menschen ist, treu täglich zur Arbeit zu gehen, dem Vorgesetzten zu gehorschen, der Obrigkeit zu dienen, im kirchlischen Sinne anständig zu sein, sich heterosexuell als treuer Ehepartner, treue Ehepartnerin in die Institution einsperren zu lassen usw. Man will arbeiten, will sich aber nicht von der Gewerkschaft zu hohen Lohnforderungen verführen lassen.
 
Man hat Pflichtbewußtsein, auch außerhalb des Verfügungsraumes der Vorgesetzten, und will sich von keinem Verführer, keiner Verführerin von diesem geraden Weg in den Weg der Genußsucht, des Egoismus und der Unmoral führen lassen. Zumindest behauptet die Obrigkeit, daß dies der Wille der Menschen ist, und ihre AnhängerInnen glauben ihr auch, oder sie versuchen, daran zu glauben. Und natürlich will die Obrigkeit dazu beitragen, daß wir nicht so vielen Verführungen und VerführerInnen ausgestzt sind, damit wir auch die Chance haben, so zu sein, wie die Obrigkeit erklärt, wie wir seien. Auch das Ziel von Erziehung und Ausbildung ist, sich nicht durch Verführung vom sogenannten geraden Weg abbringen zu lassen.

Und dann gibt es da doch immer wieder diese VerführerInnen, die uns von diesem Weg abbringen wollen und uns zu ganz anderen Dingen verleiten, die wir gar nicht so wollen (sollen).

Die positive Sichtweise des Verführungsbegriffes in der Umgangssprache der Bevölkerung hat etwas humanes, etwas menschlich Verständliches, beinahe auch etwas Subversives.

Verführen kann man also nach der offiziellen Definition Menschen mit geringer Widerstandskraft. Widerstandskraft wem gegenüber? Warum sollen Menschen gegen Führer gar keine Widerstandskraft haben, gegen Verführer aber eine große Widerstandkraft? Natürlich deshalb, weil die Führer die anständigeren und die stärkeren sind, weil es vergeblich ist, dagegen anzukämpfen, weil Führung also etwas Gutes ist oder zu sein hat. Die richtige Führung durch die Richtigen, versteht sich, denn sonst wäre es ja Verführung.

Und auf Menschen, die eine geringe Widerstandskraft gegen die VerführerInnen haben, können Führer ihre Führung nicht aufbauen. Solche Menschen könnten vielleicht sogar irgendwann größere Widerstandskraft gegen die Führer entwickeln.

"Verführen", das ist also in der Umgangssprache eine mit positiven Stärkezeichen besetzte Kunst. Sich verführen lassen, ist in der Umgangssprache eine allzumenschliche Schwäche.

Anders ist das in der Amtssprache und der juristischen Sprache, in der Sprache der rechtsprechenden Obrigkeit eben. Dort wird "falsches Führen" zu einer Bdrohung, und dieses Handeln muß bestraft werden.
 
Zur Homosexualität verführen
Jede Frau, die sich in eine Mitschülerin oder Lehrerin verliebt hat, kennt diese Sehnsucht wie auch jeder Mann, der sich in einen Mitschüler verliebt hat oder seinen Lehrer. Kann man einen anderen Menschen zur Homosexualität verführen?

Man kann tasächlich einen anderen Menschen dazu verführen, mit uns ein Bettabenteuer zu versuchen. Mit Verführen meine ich, diesen Menschen dazu einzuladen, auf (für den anderen Menschen) ansprechende Art, so daß er es vielleicht schon mal vesucht. Aber dann? Was ist dann?

In der direkten Begegnung im Bett oder an anderen Orten ist nun eine neue, andere Situation als während der Verführung gegeben. Dann stellt sich vielleicht heraus, daß dieser Mensch mit uns gar nicht so viel anfangen kann.

Ich bitte die Lesben an dieser Stelle um Nachsicht, daß ich ihren sicherlich ähnlich gelagerten Part hier auslasse, denn ich kann besser die schwule Situation nachvollziehen.

Männer, die z.B. von der jugendlichen Geilheit fasziniert sind, stellen fest, daß sie sehr wohl im Einvernehmen mit dem Jugendlichen dazu in der Lage sind, dem jungen Mann ein genußvolles Erlebnis zu verschaffen. (Ich berücksichtige an dieser Stelle Nötigung, Ausnutzen von Abhängigkeit usw. vorerst nicht, komme aber daruf zurück). Aber entscheidend ist, ob Jugendliche dadurch z.B. zur homosexuellen Identität umgewandelt werden können und wie der junge Mann das ganze letztlich einordnet, nicht wie dritte dies einordnen.

Ordnet er alles so ein, als sei dies für ihn endlich befreiend, dann war dies vielleicht auch ein Teil einer Coming-out-Hilfe, zumindest ein zufriedenstellendes Erlebnis. Wertet er, das sei für ihn entspannend gewesen, aber etwas fehle eben, was er bei einer Frau zu finden hofft, dann wird er dies vielleicht nicht gerade in unangenehmer Erinnerung haben müssen, aber daraus möglicherweise lernen, daß Sex mit einer Frau vielleicht doch besser, befriedigender wäre. Ich sehe hier keine "Gefahr", daß ein eher heterosexuell empfindender Mann dadurch schwul werden könnte, wenn er es eigentlich nicht ist.

Seine Möglichkeiten, eine einvernehmliche (homo)sexuelle Erfahrung in der einen oder anderen Weise zu empfinden und werten, hat gar nicht so viel damit zu tun, was zwischen den beiden ist oder war, sondern ob in ihm Konstellationen vorhanden sind, die das ganze für ihn zu einem Erlebnis werden ließen.

Es sind dies Konstellationen, die von folgenden Faktoren schon vorher beeinflußt wurden:
1. Welche Pollutuinsträume und Masturbationsphantasien hatte er schon vorher und in wieweit entsprach oder widersprach das Erlebnis diesen Vorgaben.
2. Welche Offenheit und Experimentierfreude oder welche Verkrampfungen und Selbstunterdrückungen ermöglichen ihn aufgrund der genossenen Erziehung und seiner Erfahrungen dies in welcher Weise zu erleben und werten?
3. Welches Verhältnis zum Körper und zur Sexualität, zur Körper-Natürlichkeit also, konnte er ganz generell entwickeln?
4. Welche ideologischen oder religiösen Konstellationen veranlassen ihn, das Erlebte anschließend in der einen oder anderen Weise zu werten?
5. Welche Urteile und Vorurteile hat er dem Alter, dem Geschlecht, dem Menschentyp gegenüber, mit dem er dieses Erlebnis hatte.
Und erst dann: 6. Wie ist aufgrund seiner eigenen vorherigen Urteile und dem Verhalten des Partners sein Verhältnis zum Partner in diesem Spiel und nach diesem Spiel? Fühlt er sich gut, befreit, erfüllt, überlegen, unterlegen, ausgenutz?

Ob er das ganze überwiegend oder absolut positiv oder negativ einordnet, ist für den Partner im wesentlichen eine Glücksache. Er kann nichts für die Konditionen des jungen Mannes. Wenns dann tatsächlich dem jungen Mann rundum gefallen hat, ist er dann zur Homosexualität verführt worden?
 
Ich meine, dieser Sexkontakt mußte auf Grund der anderen Konstellationen des jungen Mannes einfach zustandekommen, es war zumeist Zufall, mit wem er geschah. Die Verführung konnte erfolgreich sein, weil die Konstellationen dazu vorher vorhanden und die Umstände günstig waren. Die Identität eines Menschen setzt sich aus so vielen verschiedenen Faktoren zusammen, daß es schon beinahe lächerlich ist, ein sexuelles Erlebnis oder eine Situation alleine als Prägend anzusehen.

Hat das alles etwas mit dem Gegensatzpaar Führung-Verführung zu tun? Vielleicht schon, weil in vielen staatlichen Führungen eine homosexuelle Kontaktaufnahme generell oder zwischen jugendlichen und erwachsenen Menschen als Verführung angesehen und zu Lasten des älteren unter Strafe gestellt wird. Dennoch, wenn beide es wollen, werden sie es miteinander erleben. Wer für Selbstbestimmung ist, muß das auch Jugendlichen zugestehen.
 
Die Verführer
Zu den Führungs-Methoden der offiziellen Gesellschaft gehört auch das rhetorische Verschleiern der Macht-Ansprüche über uns. Und so gibt und gab es den sogenannten Verführungsparagraphen, den § 182 StGB. Vor der Abschaffung des § 175 StGB wurde nach diesem Paragraphen ein Mann bestraft, wenn er Geschlechtsverkehr mit einer weiblichen Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 hatte und sie anschließend nicht heiratete.
 
Diese "Tat" wurde nur auf Antrag, z.B. der Eltern, verfolgt, und es spielte für diesen Tatbestand keine Rolle, ob die Jugendliche den Verkehr wollte, denn wenn sie Sex mit einem Mann wollte, ohne daß es zu einer Ehe kommt, konnte sie nur verführt worden sein. Nach Abschaffung des § 175 StGB sahen die Gesetzgeber eine Strafbarkeitslücke und weiteten den § 182 StGB aus. Nun gibt es sogenannte Tatbestände in diesem Gesetz, die Sexualität zwischen Männern über 26 und zwischen 14 und 16 betreffen. Heute taucht der Begriff Verführung in dem neuen Gesetz nicht auf, sondern er ist durch den Begriff "sexuellen Mißbrauch" ersetzt worden, unabhängig davon, ob der Jugendliche dies wollte, vielleicht auch anstrebte.

Die Kirche warnt davor, sich nicht von einer Sekte verführen zu lassen, man Spricht von geistiger Führung und warnt vor Verführung durch Ideologen. Der Begriff Verführung hat aber zumeist einen erotischen Bezug und taucht in der Amtssprache im wesentlichen im Zusammenhang mit Sexualität auf, die amtlicherseits nicht akzeptiert wurde: außereheliche Sexualität und Homosexualität.
 
Die "Verführung Minderjähriger" ist ein juristisch definierter Begriff, früher gab es noch die Verführung zur Homosexualität. Heute meine ich, daß ein Mensch, der sich zu homosexuellen Handlungen verführen läßt, gut daran tut, endlich sein Coming-out zu bewältigen.
Bei unseren Sexumfragen zeigt sich, daß fast alle jugendlichen oder erwachsenen Männer, die angaben, schwul zu sein, ihre ersten sexuellen Erlebnisse mit einem jugendlichen oder erwachsenen Mann hatten. Solche Ergebnisse könnten die Verführungstheorie zur Homosexualität stützen, daß man also schwul würde, weil man Sex mit einem Mann hatte.
 
Einen eigenen Willern oder eigene Empfindungen hat dann ein Mensch offensichtlich nicht. Es könnte aber auch umgekehrt gewertet werden, nämlich daß man sich seine Sexpartner eben männlich wünscht und sucht, weil man schwul ist. Aber noch immer geistert in Laienmeinungen diese Verführungstheorie rum.
 
Bei Frauen hat sich in unserer Sexumfrage gezeigt, daß fast alle lesbischen Frauen (wie die heterosexuellen Frauen auch) zuerst heterosexuelle Erfahrungen machten und viele hielten diese gar nicht für schlecht. Aus meiner Sicht deuten beide Ergebnisse darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit, von einem Mann angemacht zu werden, deshalb größer ist, weil Männer gelernt haben, sexuell offensiver zu sein, daß sie lieber anmachen statt die Rolle genießen, sich anmachen zu lassen (Siehe dazu den Beitrag in der 56.LUST). Bei heterosexuellen Männern hat nahezu niemand angegeben, seine erste Sexerfahrung mit einem Mann gemacht zu haben. Entweder stimmt das auch, oder gelegentliche Experimente mit männlichen Partnern werden nicht als eigentliche Sexualität angesehen, sondern stehen für sie auf der Stufe der Selbstbefriedigung.

Daß zwei oder mehr einfach aus gemeinsamer Lust Sex miteinander haben könnten, kann bei gesellschaftlich nicht akzeptierter Sexualität eigentlich amtlicherseits nicht vorkommen, weil man dann die schuldigen Verführerin oder den Verführer nicht isolieren oder verurteilen könnte. Irgendjemand muß VerführerIn sein, denn ansonsten würden diese guten anständigen Menschen doch nicht auf die Idee gekommen sein, so etwas Unanständiges zu machen. Und die ertappten Menschen sind ja auch froh, wenn ihnen von den Behörden die goldene Brücke gebaut wird, daß sie nicht "schuldig", sondern "anständig" seien, und nur auf eine besondere Rafinesse hereingefallen seien, daß sie also nur minderschuldig seien.

Der glaubwürdige Verführer ist im Zusammenhang des wohlwollend anrüchigen Beurteilens dieses Begriffes ein solcher Mensch, den alle für attraktiv halten. Wer den Begriff der Verführung negativ einordnet, wird die ihnen ganz unsympatisch erscheinenden Menschen für typische VerführerInnen halten. Und gerade hier verschwimmen dann die Bedeutungen der Begriffe. Solchen unsympatischen Menschen Leuten traut man dann auch wirklich alles zu. Aus dem, von dem man sagt, er habe vesucht, einen deutlich jüngeren Menschen zu veführen, wird für die einen ein toller Hecht und er wird für die anderen beinahe zu einem Pädo.

Ich selbst meine, daß Verführen und sich Verführen lassen ein schönes subversives Spiel und keine schlimme Sache ist. Die anderen Dinge, die möglicherweise auch mit den Begriff Verführung benannt werden, aber etwas anderes sind, würde ich vielleicht als Belästigung, Nötigung, Erpressung oder Vergewaltigung bezeichnen.
 
Solche Dinge kann ich natürlich nicht als angenehm empfinden. Besonders das Abhängigmachen und Ausnutzen von Anhängigkeit in vielen Lebenszusammenhängen hat nichts mit dem erotischen Spiel zu tun, was ich oben beschrieben habe, denn bei diesem bleibt es bei der Freiwilligkeit der Beteiligten. Und irgendwie muß man es ja auch anstellen (dürfen), jemanden für lustvollen Spiele zu gewinnen. (Joachim Schönert)
 
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