- 57. LUST, Dezember 99/Janur 00
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- Was ist eigentlich "Ätatismus"?
Das Wort "Aetas, Aetatis" kommt
aus der lateinischen Sprache und bezeichnet das kalendarische
Lebensalter eines Menschen. In den von der lateinischen Sprache
abgeleiteten Sprachen gibt es entsprechende Wörter. Dieses
Wort hat auch in der englischen Sprache seine Entsprechung, dort
gibt es "Age" für das Lebensalter.
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- In der deutschen Sprache gibt es für
das Lebensalter kein neutrales Wort, da dort das Altern in das
Wort "Lebensalter" mit eingebaut ist, vermutlich, weil
Altern früher ein würdiger und angesehener Zustand
war. Vielleicht hilft uns auch das griechische Wort (die Zeit)
weiter. Ätatismus müßte, abegleitet von altgriechisch
vielleicht Chronologismus heißen.
Jeder Mensch hat ja ein biologisches, ein gesellschaftliches
und ein kalendarisches Alter. Das biologische Alter eines Menschen
hat etwas mit dem körperlichen Reifungs- und später
seinem Zerfallsprozeß zu tun, es geht hier also um biologische
Tatsachen, die durch gesellschaftliche Faktoren kaum beeinflußt
werden können.
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- Das kalendarische Alter ist auch eine biologische
Tatsache, gemessen an einem künstlichen Ordnungssystem.
Der Mensch hat auch ein gesellschaftliches Alter, das mit dem
kalendarischen Lebensalter gemessen wird: die Gesellschaft leitet
nämlich vom Lebensalter ab, welche Rechte und Pflichte ein
Mensch jeweils hat, was er darf und was nicht, was er in welchem
Alter gesellschaftlich wert ist. Und diese Ableitung heißt
Ätatismus, in englisch Ageism.
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- Biologismus
Ätatismus ist nicht die einzige ideologische Ableitung von
der Biologie zur Rechtfertigung von gesellschaftlicher Ausgrenzung
und Unterdrückung. Die biologische Tatsache zum Beispiel,
daß ein Mensch bei der Geburt über weibliche Geschlechtsorgane
verfügt, führt dazu, daß die Gesellschaft bestimmt,
welche Farbe die Babywäsche haben soll, welchen Namen der
junge Mensch tragen soll, in welche Verhaltensrolle er erzogen
wird, welche Geschlechtspartner für ihn infrage kommen sollen,
welche gesellschaftliche Chancen er bekommen soll usw. Diese
gesellschaftliche Einordnung eines Menschen nach seinen Geschlechtsorganen
wird "Sexismus" genannt, in der englischen Sprache
"Sexism".
Eine weitere biologische Tatsache wird gesellschaftlich benutzt,
um Menschen Vorteile und Nachteile zu gewähren. Die Haut-
Haar- und Augenfarbe sowie die Form von Gesichts- und anderen
Körpermerkmerkmalen wird von verschiedenen Menschen als
Zeichen angesehen, ob jemand höherwertig oder minderwertig
sei. Der Rassismus (in englisch Rassism) ist zunehmend geächtet
und viele Menschen glauben nicht mehr daran, daß man Menschen
nach solchen Gesichtspunkten in höher und niedriger sortieren
sollte.
Schließlich gibt es noch den Sozialdarwinismus.
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- Bei diesem Begriff tut man dem armen Darwin
deutlich Unrecht. Die gesellschaftliche Tatsache, daß ein
Mensch, der in eine wohlhabende Familie geboren wurde, in der
Regel auch wieder eine Führungskraft wird, während
ein Mensch, der in eine arme Familie geboren wird, meistens im
Leben auf keinen grünen Zweig kommt, wird hier nicht mit
den gesellschaftlichen Tatsachen, sondern biologisch erklärt.
Ätatismus, Sexismus, Rassismus und Sozialdarwinismus kann
man unter dem Überbegriff "Biologismus" zusammenfassen.
Beim Biologismus werden aus biologischen Tatsachen für bestimmte
Menschengruppen Vorteile und für andere Menschengruppen
Nachteile abgeleitet.
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- Politik
Der französische Adlige Arthur Conte de Gobineau (1816 -
1882) war der ideologische Ausrichter des Biologismus´.
Er argumentierte ungefähr so: Die Leute haben früher
widerspruchslos dem Adel (uns) gedient, weil Adel und Klerus
(wir) ihnen erklären konnten, das sei Gottes Wille. Diese
Erklärung ist seit der französischen Revolution nicht
mehr möglich. Aber es gibt einen viel natürlicheren
Grund, uns zu dienen.
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- Die Natur (die Biologie) setzt nämlich
die Besten über die Schwachen (und unsere Herrschaft ist
deshalb gerecht). Die Eigenarten der Völker und Charaktereigenschaften
der Menschen, aus denen sich das gesellschaftliche Oben und Unten
ganzer Menschengruppen und Völker ergibt, sind damit ganz
natürlich, sie sind angeboren.
Immer wenn es politisch eher nach links geht, wird davon ausgegangen,
daß man nur etwas in einer Gesellschaft erreichen kann,
wenn man sich einsetzt und wenn die Voraussetzungen in den Strukturen
der Gesellschaft dies auch zulassen. Solche Zeitgeistströmungen
nennt man "Aufklärung" und ihre Vertreter bemühen
sich, Verbündete zu gewinnen, um die Strukturen der Gesellschaft
durchlässiger und sozialer werden zu lassen. Immer wenn
es politisch nach rechts geht, entdecken viele Journalisten und
populären Schriftsteller den Biologismus und ihre Vertreter
wieder, sie erklären, daß die da oben eben die besseren
sind. Diese Richtung heißt Gegenaufklärung, eingebettet
in die Post-Moderne.
Die politische Linke also wehrt sich auch ideologisch gegen Rassismus
und Sozialdarwinismus. Dabei gibt es auch den Irrweg des Gegenrassismus
und des Gegen-Darwinismus´.
Daß Männer besser zum Führen geeignet seien und
Frauen besser zum Bedienen der Männer, dagegen wehrt sich
die feministische Bewegung seit langem und möchte über
verschiedene Mittel und Wege versuchen, die Chancen von Frauen
in der Gesellschaft zu verbessern.
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- Ein Teil der feministische Bewegung bekämpft
den Sexismus zuweilen aber auch mit einem Gegensexismus, der
seinerseits sexistisch ist. Viele Lesben sind in der feministischen
Bewegung integriert, weil dies von ihrem Geschlecht her auch
naheliegt, und sind dabei auch in der Gefahr, für Ziele
vereinnahmt zu werden, die ihren Interessen nicht unbedingt entsprechen,
weil dies nämlich von der Geschlechtsrollenidentität
her oftmals überhaupt nicht naheliegt.
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- Da wurden Butch-Lesben beschimpft, Männer
imitieren zu wollen und Femme-Lesben mußten sich anhören,
sie wollten sich bei Männern nur beliebt machen. Die Mehrheit
der Schwulen, die auch unter den Geschlechtsrollenzuordnungen
zu leiden haben, haben sich zu dieser Frage keine Position erarbeitet.
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- Bewegung und Szene
Das gesellschaftliche Diskriminieren von Menschen aufgrund des
kalendarischen Lebensalters wurde von amerikanischen Frauenbewegten
aus der Erfahrung heraus aufgegriffen, daß von Frauen im
Berufsleben ein Verhalten und Aussehen erwartet wird, das einer
bestimmten Altersgruppe zugerechnet wird.
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- Von vielen Arbeitsplätzen werden Frauen
aufgrund ihres kalendarischen Lebensalters ausgeschlossen, wenn
sie sich um diese Stellen bewerben. Sie wehren sich nun gegen
den "Ageism" der Personalchefs, die erotische Ausstrahlung
mit beruflichen Fähigkeiten verwechseln. Auch in den Bereichen,
in denen die sexuelle Attraktivität wesentlich ist, wird
eine ätatistische Ideologie verbreitet, daß nur Sex
mit möglichst jungen Frauen interessant und erotisch sei.
Es ist bezeichnend, daß aus der Schwulenbewegung noch nichts
gegen den Ageism (englisch), dem Ätatismus zu hören
ist, obwohl es von außen und innerhalb der Szenen eine
Unzahl gesellschaftlicher Diskriminierungen aufgrund der Tatsache
des kalendarischen Lebensalters gibt.
Jugendliche Lesben und Schwule werden, angeblich um sie zu schützen,
in vielen Ländern vom Zugang zu ihrer und unserer vielfältigen
Szene ferngehalten. Erwachsene Lesben und Schwule werden ganz
allgemein oftmals für unfähig gehalten, mit Jugendlichen
zusammen zu sein.
Selbsternannte und halbstaatliche JugendhelferInnen versuchen,
eine Art Jugendghetto (von 14 - 26) einzurichten, als Zwischenstation
sozusagen, bevor sie in die Szene der erwachsenen Lesben und
Schwulen gelassen werden. Das kann natürlich gerade in unserer
Szene auch zum Ghetto für nicht-mehr Jugendliche werden.
Die JugendhelferInnen unserer Szene bemerken nicht, daß
es sich hier um ätatistische und (homo)sexualitätsfeindliche
Bestrebungen geht.
Dieses ganze Betreiben wird mit Schutz vor den Gefahren durch
ältere Lesben und Schwulen begründet und ist aufgrund
des Jugendkultes in der Gesellschaft und besonders in unserer
Szene von der Szene sogar unkritisch akzeptiert. Und wenn zum
Beispiel zu einer Jack-off-Party eingeladen wird, zu der nur
Menschen unter 28 Zugang haben, wird auch hier versucht, Menschen
über 28 von solchen Veranstaltungen auszuschließen,
und zwar mit der Begründung deren mangelnder sexuellen Attraktivität.
Dies ist krassester Ätatismus, der schon diffamierend ist.
Denn wenn es in jugendkultlerischer Absicht gelingt, die Szene
in Altersgruppen aufzuspalten, führt das nur zu immer größeren
Ausgrenzungen von Jüngeren und Älteren.
In einer Szenenkneipe zeigte ein junger Mann deutliches Interesse
an einem Kontakt mit mir, an dem ich aber nicht besonders interessiert
war. Er glaubte, mich umstimmen zu können, indem er mehrmals
betonte, er sei 18 Jahre jung. Für mich ist Jugendhaftigkeit
natürlich schon faszinierend, aber nicht unbedingt ein zwingender
ausschlaggebender Grund.
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- Das konnte er wohl nicht verstehen. In einer
anderen Kneipe, in der viele Jugendliche verkehren, sah ich,
wie sich ein recht junger Mann derart interessiert auf die von
mir neu ausgelegte LUST stürzte und dann interessiert in
einem von mir geschriebenen Artikel las, daß ich ihn fragen
wollte, um was es ihm hier gehe. Er wies meinen Gesprächsversuch
aber in Form einer deutlich unfreundlichen Demonstration zurück.
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- Einige Tage später sah ich ihn in der
Kabine einer Sauna bei offener Kabinentüre, was Einladung
signalisiert, in erotisierter Pose liegen. Als ich ihn wiedererkannte
und weitergehen wollte, rief er mich rein und demonstrierte deutliches
Interesse an mir, dem ich micht nicht entziehen konnte und wollte.
Hinterher bat er mich, in dem besagten Lokal nicht mit ihm zu
sprechen und das gegenseitige intime Kennen nicht durchblicken
zu lassen, weil er sonst aufgrund meines deutlich höheren
Alters mit Ansehensverlust rechnen müsse. Ätatismus
ist in unserer Szene eine Plage.
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- Die ätatistische Ideologie verbirgt
sich hinter vielen Floskeln und Vorurteilen. Sie müßte
eigentlich nicht nur von uns allmählich hinterfragt werden,
um die Zustände nicht nur in unserer Szene zu verbessern.
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- Wir in der Gesellschaft
In unserer Gesellschaft gibt es in nahezu allen Lebensbereichen
Ätatismus, den viele Menschen ganz für selbstverständlich
halten. Es gibt aber, wissenschaftlich gesehen, keine einzige
menschliche Eigenschaft, die bei allen Menschen an einer Altersgrenze
festgemacht werden kann. Das ätatistische Denken vergiftete
alle Lebensbereiche. In Kontaktanzeigen ist als wesentlichstes
Merkmal das kalendarische Lebensalter zu finden. Kaum jemand
findet etwas dabei.
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- In Wirklichkeit kommt es bei Körperlichkeit
in erster Linie auf den Umgang mit dem Körper an. Bei Erfahrungen
kommt es auf die Fähigkeit an, aus Erlebtem richtige Schlüsse
zu ziehen. Bei erotischer Ausstrahlung ist es der zwischenmenschliche
Umgang untereinander, das Aufeinanderzugehen können. Bei
der Frage der Leistungsfähikeit kommt es auf die Trainiertheit
an, bei der Frage der beruflichen Nützlichkeit eines Menschen
auf dessen Motivation, Bildung und Ausbildung. Bei keiner dieser
Fragen kann irgerndwo wisenschaftlich fundiert eine kalendarische
Grenze festgemacht werden.
Das Argument, mit dem Benennen solcher Tatsachen und dem Aufdecken
des Ätatismus würde man in der gegenwärtigen Spardiskussion
dazu beitragen, die Rentenaltersdiskussion anzuheizen, ist nicht
Stichhaltig. Die Rente wird nicht deshalb bezahlt, weil der körperliche
Zustand ein Arbeiten nicht mehr zuläßt, sondern weil
man nach so vielen Jahren Arbeit sich einige Jahre ohne Arbeitspflicht
verdient hat.
Das Leben wäre in vielen Bereichen einfacher, wenn eine
Sensibilität gegen ätatistische Vorurteile entstehen
könnte. Ich lade alle LeserInnen dazu ein, den Begriff "Ätatismus"
zu verbreiten und den Ätatismus genausowenig zu dulden wie
den Rassismus, Seximus und den Sozialdarwinismus. (Joachim Schönert)
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