- 56. Lust, Oktober/November '99
- Solidarität?
- Gibt es in unserer Szene Solidarität?
Was ist Solidarität und wie könnte das zwischen Lesben
einerseits, zwischen Schwulen andererseits und überhaupt
zwischen Lesben und Schwulen aussehen?
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- 1. Definition
Solidarität ist Zusammenghörigkeitsgefühl von
Individuen oder Gruppen, das sich in gegenseitiger Hilfe und
Unterstützung äußert. Solidarität wird von
der Soziologie als Zustand gedeutet, in dem sich eine Vielheit
als Einheit verhält, wobei dieses Verhalten in der Regel
durch störende Eingriffe von außen motiviert ist.
Neben den Formen der Solidarität der Gesinnung (Einheitsbewußtsein)
der Solidarität des Handelns (gegenseitige Hilfsbereitschaft)
gibt es die Interessens-Solidarität, die lediglich durch
sachlich begründeter Interessensgleichheit in einer bestimmten
Situation wirksam ist und nach dem Erreichen des gemeinsamen
Zieles endet. Solidarität hat sich u.a. seit dem 19. Jahrhundert
in der Arbeiterschaft entwickelt und war eine Grundvoraussetzung
für die Kämpfe der Arbeiterbewegung. (Mayers großes
Taschenlexikon in 24 Bänden)
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- 2. Hinterfragen des Begriffes
Ist unsere Szene solidarisch? Um das beurteilen zu können,
müssen wir erst noch einmal die Strukturen von Solidarität
hinterfragen.
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- 2.1. Gefühl der Zusammengehörigkeit
Solidarität ist also zuerst einmal ein Gefühl der Zusammengehörigkeit,
das durch Druck von außen entsteht. Das Gefühl der
Solidarität, das Gemeinsamkeitsgefühl, entsteht dadurch,
daß ein gemeinsames Gefühl des Leidens entstanden
ist. Das Solidaritätsgefühl entsteht dann leichter,
wenn ein gemeinsamer Verursacher des Leidens ausgemacht werden
kann und daraus resultierend auch der aus demLeidensdruck entstehende
Zorn auf die wirklichen oder vermeidlichen Verursacher gelenkt
werden kann. Insofern ist das Solidaritätsgefühl einer
Gruppe, in der man sich aufgehoben und verstanden fühlt,
gegenüber außen auch agressiv.
Solidarität glückt dann besser, wenn Kleingruppen-Egoismen
und individuelle Bedürfnisse hinter dem gemeinsamen Ziel
zurückstehen. Nicht jeder Druck von außen führt
zur Solidarität. Zu den Methoden der jeweiligen Unterdrückung
gehört es nämlich, die Möglichkeit der Solidaritätsentwicklung
durch Stärkung der Kleingruppeninteressen und des Individualismus
zu unterlaufen. Bekannt ist ja schon seit der Römerzeit
der Satz: "teile und herrsche!"
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- 2.2.. Aus anderen Szenen
"Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker",
las ich in einem linken Blättchen, das die Unterdrückung
einer nationalen Minderheit durch die Regierung und rassistisch
aufgehetzten Bevölkerungsanteile anprangerte. Ging es damals
um die unterdrückten Kossowo-Albaner? Ich weiß es
nicht mehr. Ich persönlich lehne es ab, mit "Völkern"
solidarisch zu sein. Ich fühle mich nicht mit Völkern,
sondern mit Menschen verbunden, die unterdrückt werden,
oder die auch Unterdrückten beistehen. Menschen benötigen
Solidarität, denen Schwierigkeiten gemacht werden, das eigene
Leben einigermaßen angemessen zu gestalten.
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- Wenn ich mit einem "Volk" solidarisch
bin, dann bin ich auch mit Unterdrückern solidarisch, die
es in allen Völkern gibt, und die glauben, gute Gründe
zum Unterdrücken anderer Menschen zu haben. Was zeichnet
denn einen Menschen eines Volkes gegenüber anderen aus?
Ich meine: nichts. Wieso sollen Menschen eines "Volkes"
weniger oder mehr Rechte haben als andere? Wenn ich aber mit
einem Volk nicht solidarisch sein möchte, sondern nur mit
den Menschen, dann will ich auch nicht mit der lesbisch-schwulen
Gemeinschaft solidarisch sein, sondern mit solchen Lesben und
Schwulen, die Solidaritär brauchen.
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- 2.3. Kleingruppe gegen Zusammengehörigkeit
Magnus Hirschfeld (Wisenschaftlich humanitäres Kommitee,
whk) sah in seinen Texten die angeborene männliche Eifersucht
als Verursacher von Rivalitäten zwischen den Kleingruppen
der Ehe und Familie an, das immer wieder größere Zusammenhänge
unterlaufe und so ein gesellschaftliches Leben in Frage stellen
würde. Lesben und Schwule würden aufgrund ihres angeborenen
sozialen Empfindens als Kitt zwischen den miteienander rivalisierenden
Kleingruppen die Konstruktion der Gesellschaft erst möglich
machen. Dies war also eine biologistische Argumentation gegen
das Ehemodell.
In der 68er-Zeit wurde die Ehe als "raffgierige Konsumeinheit"
bezeichnet. Die Kommune, eine Form des Zusammenarbeitens, Zusammenlebens
und Zusammenliebens war das Gegenmodell, was freilich nicht so
recht funktionierte, da wir doch auf Dualismus und Zweisamkeit
konditioniert sind, wie man aus den Dokumenten der Kommune 1
entnehmen kann. Dies war die linke 68er-Argumentation gegen das
Ehe-Modell. Die Kommune ist aber nur eine etwas größere
Kleingruppe.
Wenn man allerdings heutzutage zum Beispiel die Massen-Sex-Szenen
in einem Darkroom beobachtet, hat man den Eindruck, daß
zumindest hier und zu diesem Zeitpunkt solche Empfindungen wie
Eifersucht und Rivalität keine Bedeutung haben. Ein Störer
von außen wäre wahrscheinlich sofort mit der Solidarität
der dort miteinander handelnden Menschen konfrontiert. Diese
Solidarität widerum könnte mit Scham- und Schuldgefühlen
derart unterlaufen werden, das die eben noch lustvoll Handelnden
sich einzeln verkrümeln und dem Störer das Feld überlassen
würden. Genug der Fiktion.
Gerade die Tatsache, daß sich nun zunehmend unter dem Druck
der Zweisamkeitsideologie Zweierbeziehungen bilden können,
läßt erkennen, daß ein weitergehender solidaritätsstiftender
gesellschaftlicher Druck nicht mehr empfunden wird. Die Paar-Vereinzelung
ist tatsächlich in der Lage, erst einmal die Kleingruppe
zu fördern und das Gemeinsame der Szene kaum mehr wahrzunehmen.
Und aus Umfragen ist erkennbar, daß parallel zu dieser
Entwicklung das promisque Leben in Darkrooms, Saunen, Autobahnparkplätzen
usw. von den Partnern durchaus weiter wahrgenommen wird, unabhängig
davon, ob sie sich dies gegenseitig ehrlich berichten oder dies
lieber vermeiden. Als Richtig bleibt aber festzuhalten, daß
die Aufteilung der Szene in lauter Kleinstgruppen die Entsolidarisierung
beschleunigt.
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- 3. Ist irgendwo Solidarität erkennbar?
Gegen wen solidarisieren sich die Leute unserer Szene? Unsere
Szene trifft sich vielleicht gemeinsam beim CSD in einer Stadt.
Weitere Gemeinsamkeiten finden aber kaum statt.
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- 3.1. Szenensolidarität
Tatsächlich ist in unserer Szene lediglich bei einem krassen,
alle bereffenden Übergriff etwas Solidarität erkennbar.
Nicht alle nehmen solidarisch teil, aber es finden sich welche,
die sich für uns alle prügeln. Und die anderen verkrümeln
sich und haben ihre Gründe dafür. Da gab es früher
einmal (oftmals noch heute) die sogenannten Parks.
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- Niemand geht da hin, hörte man früher
in den Lokalen, denn man war ja ein anständiger Schwuler.
Die man dann dort antraf, kamen nur zufällig vorbei oder
hatten ihren Hund ausgeführt. Und wenn es Überfälle
gab, waren alle weg. Es gab mal die Idee, sich mit Trillerpfeifen
auszurüsten, damit andere um Hilfe gerufen werden konnten.
Diese Pfeifsignale waren aber bald das Signal, sich zu verdrücken
anstatt zur Hilfe zu kommen. Solidarität herzustellen ist
anscheinend schwieriger, als so mancher meint.
Ansonsten ist zum Beispiel unter Lesben die eigene Clique untereinander
weitgehen solidarisch, gegen außenstehende Lesben, die
natürlich ganz unmöglich sind. Die anderen sind deshalb
unmöglich, weil sie kesse Väter oder Butchs sind, oder
weil sie Femmes sind, weil sie unpolitisch oder Politlesben sind,
weil sie bi oder Kampflesben sind.
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- Weil sie Aufreißerinnen oder Beziehungsklammern
sind. Viele Gründe kann es geben. Auch unter Schwulen solidarisieren
sich kleinere und größere Cliquen gerne gegen andere
Schwule, die natürlich alles falsch machen. Die anderen
sind zu jung oder zu alt, Tunten oder Machos, stehen auf zu jungen
oder zu alten, wie es auch immer sei. Nicht einmal mit sich selbst
sind einige solidarisch, wenn sie z.B. zugunsten vorherrschender
Moralauffassungen nicht dazu stehen, was ihnen wirklich Lust
macht und somit eigentlich in ihrem Interesse wäre.
Wenn Solidarität in unserer Szene auftaucht, so hat man
den Eindruck, dann richtet sich diese im Sinne einer Kleingruppe
gegen andere Leute unserer Szene und nicht gegen die moralistischen
Leidensgewinnler mit ihrer Doppelmoral. Im Gegenteil empfinden
viele Lesben und Schwule die Widersprüche in der Szene als
gravierender als die gegenüber den heterosexuellen Leidensgewinnler
mit ihrem doppelmoralischen Zynismus, gegenüber bornierten
Behördenvertreter oder religiöse Schuldgefühleerzeuger.
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- Oftmals werden diese sogar gegen andere Gruppen
und Leute unserer Szene mobilisiert. Hinter vielen Verhaltensweisen
steckt versteckter Homosexualitätshaß. Diesen mit
doppelmoralischen Argumenten gegen andere Leute unserer Szene
zu mobilisieren, ist nun aber tatsächlich ein Beleg nicht
vorhandener Solidarität in unserer Szene.
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- 3.2. Solidarität in früherer
Zeit
Ja, ja, früher war alles besser. Aber war das besser? Natürlich
hielt man in der Szene etwas mehr zusammen als heute, weil der
äußere Druck stärker war. War das wirklich besser?
Aber innerhalb war es das gleiche Hauen und Stechen. Solidarität
gegen außen war damals lebensnotwendig. Da konnte man sich
z.B. darauf verlassen, daß niemand eine Lesbe, einen Schwulen
gegenüber anderen outet.
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- Das war aber nicht Solidarität, sondern
man konnte den uns oftmals sehr feindselig gesonnenen Heteros
und Heteras nicht erklären, ohne selbst in Verdacht geraten,
woher man das überhaupt wußte. Es war nicht nur das
Strafgesetz (für Schwule) gefährlich, sondern das gesellschaftliche
Aus, wenn die Homosexualität offenbar wurde.
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- Viele heutige Menschen können sich überhaupt
nicht vorstellen, wie sexistisch damals Menschen beurteilt wurden.
Eine Frau, die nicht das erwartete Koketterie- und Unterwerfungsverhalten
gegenüber Männern auch im Alltag hatte, war keine richtige
Frau. Wer kein Frauenbumser war, war kein richtiger Mann. Und
das konnte sich niemand leisten. Aber auch diese schwache Solidarität
zerbrach, als in den Verhaftungswellen rechte Schwule ihren Parteigenossen
die engagierten linken Schwulen denunzierten, die ihnen ohnehin
schon die ganze Zeit gestunken hatten.
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- 4. Statt Solidarität
Der hübsche junge Mann mit Schmollmund findet schnell Leute,
die mit ihm "solidarisch" sein wollen. Anders geht
es dem frustrierten Alten, der "nur im Wege steht".
Das ist keine Solidarität, wenn man nur hilft, weil man
sich dafür direkt etwas erhofft oder verspricht.
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- 4.1. Solidarität erzwingen?
Neuerdings gibt es auch noch Lesben und Schwule, die eine besonders
positive und solidarische Behandlung erwarten, weil sie es sind,
während sie selbst nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht
sind. Warum sollte ich mit ihnen solidarisch sein?
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- 4.2. Keine Solidarität?
Die Schwulen und die Lesben sind nicht miteinander, nicht mit
sich selbst und auch nicht mit anderen solidarisch. Warum sollten
sie auch? Damit verhalten sie sich genau so wie andere vereinzelte
Menschen der Gesellschaft.
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- 5. Also?
Es gibt keine Verpflichtung zur Solidarität, höchstens
das Gefühl der Solidarität. Und so gibt es auch unter
uns solidarische Menschen, die es nicht zulassen möchten,
daß andere Menschen leiden müssen. Mit denen fühle
ich mich sehr verbunden. Solche Menschen gibts aber auch unter
den Nichtschwulen und Nichtlesben. Mit denen vebindet mich mehr
als mit unsolidarischen Lesben und Schwulen, von denen es wahrlich
recht viele gibt. (Joachim Schönert)
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