55. Lust: August/September 99
 
Geschichte des Wiesbadener CSD
Wiesbaden ist eine Stadt ohne besonders große Szene. Im Einzugsgebiet von Frankfurt haben sich die Lokalbesucher oft nach Frankfurt, zum Teil auch nach Mannheim und Kaiserslautern orientiert. Dennoch verfügt die Stadt über ein Traditionslokal, das Pussycats, das (nach dem Schließen der Künstlerklause) das älteste einschlägige Lokal der Stadt ist. Unvergessen auch das L Heure Bleue oder das Petit Beoheme. Die ortsansässige über jahrzehnte einzige Wiesbadener Lesben- und Schwulengruppe ROSA LÜSTE andererseits hat es aber in langjähiger Arbeit geschafft, eine Zeitschrift zu gründen und am Leben zu halten, die LUST; die über das Rhein-Main-Gebiet hinaus ihre Bedeutung hat. Ihr gelang es, in Wiesbaden selbst auch in problematischeren Zeiten in langjähriger Arbeit einiges zu bewegen. Zu den Aktivitäten gehörte es, einen CSD mit eigenem Charakter aufzubauen.
 
Der 1. Wiesbadener CSD
1982 veranstaltete die damals einzige Gruppe in Wiesbaden, arwöhnisch beäugt von den Gästen mancher Lokale in unserer Szene, den 1. Wiesbadener CSD, den wir allerdings, wie es damals üblich war, Gay-Pride-Day nannten (Demonstration des lesbisch-schwulen Stolzes, denn "gay" ist ursprünglich die amerikanische Bezeichnung für die lesbische und schwule Szene). Nur einige Wirte der Szene unterstützten uns durch positives Interesse, nicht aber viele Gäste der Lokale. Die meinten damals, daß man mit einer Demo nur auf uns aufmerksam machen würde, was man damals für falsch hielt.

Da wir das im voraus wußten aber anders sahen, hielten wir dieses Ereignis bewußt politisch, was es ja vom Ursprung her auch war. Damals gab es nicht in allen Städten was, sondern ein Gay-Pride-Day war überregionales Ereignis. Wir forderten die politischen Parteien auf, mitzukommen und uns bei dieser Demonstration gegen den damals noch existierenden § 175 StGB zu unterstützen. So wollten wir dem Anlaß des Ereignisses in den USA Rechnung tragen und nebenbei auch versuchen, fehlende Masse aus den Reihen der ängstlichen lesbisch-schwulen Wiesbadener Szene auszugleichen.
 
Die ängstlichen WiesbadenerInnen standen dann auch tatsächlich hinter den Autos, um uns zu beobachten, liefen aber nicht mit. Nur einige Spanier vom Staatstheater liefen dauernd auf den Bürgersteig und zogen die sich streubenden Ängstlichen, die sie ja kannten, in unsere Reihen. Auch Amerikaner der Airbase Wiesbaden liefen ganz selbstverständlich mit. Es waren auch Leute Aus Freiburg, Heidelberg, Hagen in Westphalen und aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet dabei. Unser Slogan hieß "Wiesbaden wunderwarm" (in Anlehnung an die deutsche Städtereklame "Wiesbaden Wunderbar").
 
Und die wenigen Leute aus der SDAJ, die mitliefen und sich auf wunderwarme Weise für die warmen Lebensrechte einsetzten, meinten, man müsse in unseren Reihe doch mal über gute Slogans nachdenken. Die Wiesbadener Liste (eine der Vorläuferorganisationen der Grünen, die von uns mitgegründet worden war), lief mit, während ein dortiges Mitglied die Sache mit der schwierigen Beteiligung auf den Punkt brachte: man wolle in einer Stadt, wo man überall Bekannte treffe, nicht als Schwuler verdächtigt werden. Die FDP meinte, sie könne trotz Sympatie mit unseren Zielen nicht mitkommen, um sich nicht der Verdacht auszusetzen, man mißbrauche hier eine Minderheit als billigen Wahlkampftrick.
 
Von der SPD gabs damals nicht mal eine Antwort, die CDU fragten wir gar nicht erst. Einer ihrer Sprecher hatte gerade erst verkündet, daß die Rosa-Winkel-Häftlinge in den Konzentrationslagern keine Wiedergutmachung bekommen sollten, da dies die Bestrafung von Straftaten gewesen seien und kein Nazi-Unrecht. Die DKP-Mitglieder blätterten nach unserem Aufruf in ihrem Parteiprogramm. Als sie sich überzeugt hatten, daß dort wirklich die Forderung nach Abschffung des § 175 StGB drinstand, schickten sie die Wiesbadener Ortsgruppe der Jugendorganisation SDAJ mit.
 
In den Reisinger Anlagen, dem heimlichen Ort nächtlicher Begegnungen, führten wir nach der Demo nun öffentlich ein Picknick durch. Warum sollen Parks nicht ganz eindeutig für uns nachts eine Funktion haben, wenn sie diese schon haben? Und vom Spätnachmittag an und am Abend gabs ein Fest mit tollem Programm und Disco auf dem Neroberg im "Nero". Am nächsten Tag führten wir ein gemeinsames Frühstück im Cafe "Quasimodo" des Behindertenvereins für die in Wiesbaden Übernachtenden durch. In diesem Cafe trafen wir uns damals zum monatlichen "Kaffeklatsch mit Ansichten".

Damals gab es die CSDs nur als überregionale Ereignisse und nur dort, wo eine politische Szene war und das Risiko von Übergriffen, finanziellen Verlust und persönlichen Nachteilen am Arbeitsplatz, vom Vermieter und unter anderen Heteros und die Beschimpfungen und Ausgrenzungen in der Subkultur zu tragen bereit waren.

In den Lokalen standen die "feineren" Herren, ein Bierglas in der Hand, und versuchten bei jungen Leuten dadurch Eindruck zu machen, daß sie über die Demonstration hetzten. Heute, wo alles selbstverständlicher ist und man damit auch Geld verdienen kann, organisieren möglicherweise die gleichen Herren selbst Feste unter dem Namen CSD, um bei jungen Leuten dadurch Eindruck zu machen. So ändern sich die Zeiten.
(wird fortgesetzt)
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