55. Lust: August/September 99
Kuß-LUST
Das Küssen und die Küsse: Trockene und feuchte Küsse, Schmatzer auf die Wange und Austausch großer Mengen von Körperflüssigkeiten über den Mund, Lippen- und Zungengymnastik oder das Nasenreiben. Was sagen unsere Kuß-Neigungen über unsere Sex- und Beziehungswünsche aus?
 
"Kuß, Berühren eines Menschen oder eines Gegenstandes mit den Lippen; ethnologisch leitet sich der Kuß wahrscheinlich von der Mund-zu-Mund-Fütterung ab. Als Kuß gilt auch der bei einigen Natürvölkern verbreitete Nasengruß.
Neben der Funktion des Bezeugens der Zuneigung oder Verehrung (Handkuß) bzw. der Unterwerfung (Fußkuß) hat der Kuß heute erotisch-sexuelle Bedeutung (Zungenkuß).

Im Einflußbereich der griechischen, römischen und jüdischen Kultur wurde der Kuß allgemein üblich, z.B. bei der Begrüßung und Verabschiedung. Symbolische Bedeutung gewann der Kuß bei Verlöbnis- und Eheschließungsritualien (nach römischen Recht wurde die Gültigkeit der Verlobung durch einen Kuß besiegelt).
 
Seit frühchristlicher Zeit ist der Friedenskuß ein wichtiger Teil der Liturgie. Der Kuß des Lehnsherren (bei Belehnung des Vasallen) so wie das Küssen heiliger Gegenstände bei Vertragsabschluß besaßen einst Rechtskraft. In Märchen ist der erlösende Kuß bekannt (Dornröschen). Der Judas-Kuß ist inbegriff des Verrates." (Meyers Taschenlexikon 1992 in 24 Bänden)
 
Zuerst einmal will ich den Kuß unterteilen in
1. Kuß auf Gegenstände
2. Rituelle Küsse (Kuß auf die Wange, Hand, Fuß)
3. Zärtliche Küsse (Lippenkuß)
4. Zungenkuß
5. Körperkuß
6. Kußlust
 
1. Kuß auf Gegenstände
Dieser Bereich interessiert mich in diesem Zusammenhang nicht. Oder gibt es in unserer Szene Bereiche, bei der das Küssen von Gegenständen irgendeine Bedeutung hat? Im Bereich der rituellen Küsse würde dies sicherlich lächerlich wirken. Einzig im Bereich der Aids-Vorbeugung ist das Küssen eines Parisres, wenn er drübergezogen ist, von einer gewissen Bedeutung, doch dann meint man ihn selbst nicht. Ich kenne jedenfalls keine Bereiche unserer Szene, in dem rituelle Küsse auf Gegenstände eine Bedeutung haben, soweit es sich nicht um Fetisch-Küsse oder SM-Rituale handelt.
 
2. Rituelle Küsse
Der Handkuß ist in der Schwulenszene insoweit von ritueller Bedeutung, als dadurch im Zusamenhang von Geschlechtsrollenspielen die "große Dame" geehrt wird. Bei Lesben ist der Handkuß bislang nicht beobachtet worden. Der Fußkuß ist in unserer Szene unüblich, sofern es sich nicht um besondere Vorlieben im sexuellen Spiel handelt, entweder als Inbesitznahme aller Teile eines Körpers oder als Fetisch-Spiel oder auch als Unterwerfungshandlung im SM-Spiel.

Soweit es sich um rituelle Küsse handelt, ist vielleicht der Wangenkuß beim Begrüßen und Verabschieden in unserer Szene von gewisser Bedeutung. In Gruppen oder in der Sub in Cliquen ist dies bei Lesben und Schwulen zu beobachten. Freilich wird dieser rituelle Kuß sehr oft auch nicht auf die Wange, sondern auf die Lippen gesetzt.
 
Er drückt die Verbundenheit einer Szene aus, die ansonsten recht kalt miteinander umgeht. Im Lippenkuß kann auch eine persönlche Wertschätzung zu finden sein. Beim Lippenkuß besteht die Möglichkeit, durch eine kleine Berührung der Lippen des Gegenübers mit der Zunge, Begehrlichkeiten auszudrücken, ohne daß dies so einfach von dritten beobachtet werden kann. Wird diese Geste erwiedert, dann steht einer weitergehenden Annäherung nichts im Wege.

Der rituelle Lippenkuß drückt größere Nähe aus als der rituelle Wangenkuß, da letzterer mit einer kameradschaftlichen Geste verglichen werden kann, der Lippenkuß mit einer freundschaftlichen Geste. Als es den § 175 StGB in voller Form noch gab (In der düsteren Zeit der Bundesrepublik, der CDU/CSU/FDP-Regierung von 1949 bis 1966), war jegliche mann-männliche sexuelle Handlung verboten.
 
Da ging es bei Prozessen bisweilen darum, ob bei einem beobachteten Kuß die Zunge im oder außerhalb des Mundes des Partners war. War sie innerhalb des Mundes eines Partners, dann war es eine homosexuelle Straftat. Gegen Lesben, Heteras und Hateros gab es solch ein Gesetz nicht.
 
3. Der zärtliche Kuß (z.B. Lippenkuß)
Auch den Lippenkuß (Kuß auf die Lippen) gibt es als rituellen Kuß, wie ich oben dargestellt habe. Ich möchte mich hier nun um den zärtlichen Lippenkuß kümmern. Es gibt ihn (1.) als frechen kleinen Überfall, bei dem schon alles vorbei ist, bevor der/die andere reagieren kann, es gibt ihn (2.) als akzepziertes Zeichen des Interesses an der anderen Person und als gegenseitigen Austausch von Zärtlichkeit, dann gibt es ihn (3.) als erotischen Kuß. Solche Küsse sind in der Regel trockene Küsse, gelegentlich auch mit den Lippen streichelnde und knabbernde Küsse.

3.1. Der freche überfallartige Kuß hat dann eine gute Wirkung, wenn die gegenseitige Sympatie eigentlich schon klar ist, gegenseitiges erotisches Interesse vorher deutlich wurde, die gute Möglichkeit für den Start des Annäherungsspieles gesucht wird. Er hat verheerende Wirkung, wenn hinter dem Überfallkuß nur der eigene Anspruch steht, das Gegenüber jedoch kaum oder gar kein Interesse signalisiert. Nicht der Wille des/der Küssenden ist hier ausschlaggebend, sondern alleine der des geküßten Gegenübers.
 
Ist man unsicher, ist es besser, auf ihn zu verzichten oder ihn zumindest lediglich auf die Wange zu setzen. Ist ein Kuß absolut nicht erwünscht, kommt er einem körperlichen Übergriff gleich. Ist er im Prinzip erwünscht aber wird er gerade im Moment als unpassend empfunden, entsteht bei der geküßten Person kein besonders angenehmes oder erotisches gefühl, sondern Ärger. Man kann damit alles zerstören.

3.2. Der zärtliche Kuß kann auch Zärtlichkeit ohne brisant empfundene Erotik ausdrücken, beispielsweise zwischen Geschwistern, zwichen Eltern und Kindern oder zwischen schon lange zusammenlebenden PartnerInnen. Es handelt sich bei nichterotischer Zärtlichkeit zumeist um Vertrauen und Einvernehmen.
 
Wenn das Gefühl einseitig ist, wird er empfunden wie ein Tantenkuß, der Kinder oft in Schrecken versetzt und den Wunsch der Tante nach Zärtlichkeit mit dem Kind ausdrückt, in dieser Form aber vom Kind nicht als positiv empfunden wird. Es können hier auch erotische oder besitzeinnehmende Gefühle seitens der Tante im Spiel sein, wobei die Grenze zwischen ritualisierenden Kuß und Erotik oft nicht genau zu ziehen ist.

Der erotische zärtliche Kuß kann gewünscht, geduldet oder auch momentan oder überhaupt unerwünscht sein. Ist es ein erotischer Kuß, wird der/die Küssende die Lippen dabei bewegen, vielleicht die Zungenspitze masierend oder verspielt einsetzen. Wenn der Mund dabei etwas geöffnet ist, wird dabei das Offensein für den/die andere(n) angezeigt.

3.3 Der gegenseitige trockene zärtliche Kuß kann zur Gruppe der nichterotischen Zärtlichkeit gehören, aber auch zum Anbahnungskuß für weit mehr. Manche Menschen bevorzugen das trockene wärmende und streichelnde Lippenspiel, auch als Vorspiel und Beiwerk zu gelebter Sexualität. Es handelt sich um massierende und tastende Lippenspiele, verknüpft mit Wangen-, Stirn- und Nasenreiben. Es muß also nicht immer der Austausch von Flüssigkeiten sein.

Oft ist der feuchte Kuß wie auch andere schleimige Beiwerke der Sexualität aufgrund von extremer Reinlichkeitserziehung und/oder körperfeindlicher Erziehung auch ein Tabuthema für einige Meinschen. Die Betreffenden sind um einen enthemmenden lustvollen Teil ihrer sexuellen Erlebnismöglichkeiten gebracht worden.

Kleiner nicht ganz themenfremder Einschub: (Körperfeindliche Erziehung hat zunehmend wieder Konjungtur, weil Erziehungspersonen im Zusammenhang mit den Mißbrauchs-Prozessen verunsichtert sind, wo eine körperfreundliche Erziehung von Außenstehenden als Indiz des Mißbrauches ausgelegt werden könnte, was zu Vorverurteilungen führt, gegen die sich dann niemand wehren kann. Also setzen viele Erziehungspersonen wieder auf Sicherheit durch Körperfeindlichkeit, wie sie in der Kaiserzeit üblich war.

Es muß an dieser Stelle wahrscheinlich ausdrücklich von mir betont werden, daß ich das Unterbinden und Verhindern von Machtausübung im sexuellen Zusammenhang, den sexuellen Mißbrauch also, selbstverständlich für berechtigt und auch notwendig halte. Es kommt darauf an, in welchem sexualpädagogischen Rahmen die Körpererziehung stattfindet: ob durch sie der Körper zur Tabuzone wird oder ob durch sie auch das körperliche Selbstbestimmungsrecht des mündigen Menschens gefördert wird.)

Ekel vor dem Körper zeugt von einem merkwürdigen Erleben des Körpers. Sexualität ist von seiner Natur her eine feuchte und auch schleimige Angelegenheit und kann nicht erfüllt gelebt werden, wenn Tabus gegenüber Körperflüssigkeiten oder Körperteilen existieren. Ein Teil des feuchten Wahrnehmens anderer Körperteile und auch Flüssigkeiten geschieht eben auch über den Mund.
 
4. Zungenkuß
"Ich will Deine Küsse schlürfen", las ich in irgendeinem Gedicht. Der Zungenkuß war mir früher immer etwas fremd. Was sollte ich denn im Munde eines anderen Menschen ertasten? Dann der Speichel des anderen Menschen, das war mir einfach zu nah. Der Zungenkuß von einem anderen Mann mir gegenüber kam mir wie dessen Besitzergreifung vor, weitergehend als ich es zulassen wollte.
 
Auch in meiner Heterozeit, die meiner bi- und dann meiner schwulen Zeit vorausging, war mir der Dauerbrenner, der minutenlange Zungenkuß, kein besonderer Genuß, wohl aber der kleine, scheue erotische Zungenkuß. Sexualität konnte ich mir mit einem anderen Menschen vorstellen, viellleicht auch dessen Sperma in meinem Mund (vor Aids), nicht aber dessen Speichel. Hinter dem Zungenkuß, dem Aneinanderreiben der Zungen, gegenseitigem Ertasten der Mundhöhlung, Vermengen des Speichels und dem Belecken auch der äußeren Mundregion des Partners scheint mehr zu stecken als das erotische Aneinanderreiben von Körperteilen. Es handelt sich hier um das Aufbrechen von Tabus.

Die Sehnsucht, mit der Zunge in das Gesicht, in den Mund eines anderen Menschens eindringen zu wollen, ist die Sehnsucht, die Sperren des anderen Menschen zu überwinden, die immer noch vorhanden sind. Es ist dies ein gieriger Versuch der Übernahme.
 
Die Lust, sich hinzugeben oder, genauer gesagt, sich aufzugeben, drückt sich im lustvollen Öffnen gegenüber dem fordernden Zungenkuß aus. Während der feuchte Kuß auf irgendeine Stelle des Körpers als unschuldig, auch als unpersönlich empfunden werden kann, ist bei dem Zungenkuß mitten in die Wahrnehmungsorgane des Menschen, mitten ins Gesicht, ist damit der Mensch in seiner Integrität, in seiner Ganzheit gemeint. Das Gesicht ist nicht so unpersönlich wie ein anderes Körperteil.

"Der Körper ist das Geschlecht, ist unschuldig, das Gesicht ist die Person", schreib Max Frisch in "Mein Name sei Gantenbein".
Aber nicht bei allen Zungenküssen geht es um Macht und Hingabe. Ich habe den Zungenkuß auch als Ergänzung der sexuellen Verschmelzung kennen- und schätzengelernt, als wilde Ergänzung vor und während eines gleichzeitigen und sehr verausgabenden Höhepunktes. Der Kuß schmeckt dann anders, der Speichel bekommt eine andere, flüssigere Struktur, ist berauschend. Diese Verbindung klappt nicht so oft. Vielleicht von 50 Orgasmen mit anderen Menschen ist einer von diesem Kaliber.

Andere Sexerlebnisse und Orgasmen haben ihre eigene Dramaturgie und eigene Erlebnisabläufe. Ich will hier nicht vergleichend und schon gar nicht wertend oder moralisierend auftreten. Auch der ungleichzeitige oder der kußlose Orgasmus aus Geilheit ist mir ein Genuß, hat seinen Stellenwert, den ich nicht missen möchte. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, es gäbe eine richtige und eine unzulängliche Sexalität, es gäbe einen richtigen Kuß oder der Partner, die Partnerin "kann nicht küssen".

Der Zungekuß in der Fußgängerzone, wenn ein Bett gar nicht in Sicht ist, hat eher demonstativen Charakter oder ist anderweitig demonstrativ besitzergreifend, was ich nicht mag. Er demonstriert zum Beispiel: "Sieh her! Dieser Mensch ist mir erotisch verfallen!" Vielleicht macht ja auch ein bißchen Exhibitionismus ganz schön lust. Ein lustbetonter Zungenkuß findet dann statt, wenn er auch über andene Körperteile seine feuchte Spur zieht, wenn er nicht durch Kleidung oder Überlegungen hinsichtlich beobachteder Mitmenschen gestört wird.
 
5. Körperkuß
Mit der Zunge und den Lippen zum Beispiel im Genick beginnen, die Wirbelsäule herunterfahren, vielleicht auch mal die feuchten Stelle anpusten, um einen kleinen Schauer zu erzeugen, kleine freche Bisse, dann sich immer weiter leckend, streicheld und mit den Lippen massierend zwischen den Beinen hindurch und auf der forderen Körperseite wieder nach oben steigen, den Nabel umkreisen und an den Brustwarzen knabbern, schließlich am Hals enden, das könnte eine von vielen möglichen Reisen auf und um den Körper eines anderen Menschen sein. Das könnte ein Spiel nach einem Orgasmus sein, vielleicht ein Übergang zu einem neuen Vorspiel werden, könnte überhaupt mal stattfinden.

Viele Männer wissen gar nicht, daß sie über erotische Brustwarzen verfügen, daß auch andere Zentimeter außer den Bewußten sich genüßlich strecken können. Vielen (heterosexuellen) Frauen war das lustvolle Erleben des Bereisens Ihres Körpers mit der Zunge nie vergönnt, da es ihren (heterosexuellen) Männern mehr um eine einzige immer hektischer werdende Bewegungswiederholung geht.
 
Der Mund ist unser am sensibelsten wahrnehmenden Geschlechtsorgan. Voraussetzung für mehr Genuß könnte sein, daß der Beginn der gemeinsamen Aktivitäten in der Dusche stattfindet. Man kann nicht stundenlang frisch bleiben. Etwas Hygiene wäre da schon ganz angebracht, wenn auch frischer Schweiß gar nicht zu verachten ist.
 
6. Kußlust
Ich sehe es so, daß man die oben getroffenen Abgrenzungen in Wirklichkeit gar nicht einhalten kann. Zungenkuß, Körperkuß und der zärtliche trockene Kuß gehen vielfach ineinander über. Mein Gesicht, meine Lippen, meine Zunge gehen gerne auf Abenteuer.
Die diesen Text lesenden Frauen muß ich vertrösten. Ich weiß nicht, ob sie diesem Text viel Anregendes entnehmen können. Es ist dies eben erkennbar ein mannmännlicher Kuß-Text. (Joachim Schönert)
 
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