55. Lust: August/September 99
Streit um den CSD
Der Christopher-Street-Day ist in vielen Städten zu einem gigantischen Fest, einem gewinnträchtigen Unternehmen geworden. VeranstalterInnen solcher Events sind in der Lage, ganz andere Zahlen von zahlenden Gästen zu bewegen, als das vorher die Bewegungsgruppen konnten. Sie wehren sich gegen den Vorwurf, ihre Events seien unpolitisch und sie können einfache Losungen viel besser in die Medien bringen, als es vorher die Bewegungsgruppen mit ihren differenzierte Aussagen konnten, die sich außerdem noch hüteten, zu politisch zu werden, um "die Unpolitischen" nicht zu verprellen.
 
Gliederung
1. Analyse der Szene und der Gruppen
2. Bewegungsziele
3. Analyse der CSD-Aktivitäten
4. Schlußfolgerung
5. Gibt es eine Zukunft für einen politischen CSD?
 
1. Analyse der Szene und der Gruppen
Im Grunde genommen ist unsere Szene eine unpolitische Szene.

Der politische Streiter anderer Szenen sieht etwa so aus: Er leistet verbissen Verzicht in persönlichen Zielen und opfert sich voll und ganz für seine politische Aufgabe auf. Die typische Charakterhaltung des altruistischen, sich selbst antreibenden Kämpfers für politische Ziele ist in unserer Szene nicht oder kaum anzutreffen. Auch die politische Arbeit hat in unserer Szene dem eigenen Nutzen zu dienen. Und, genau betrachtet, geht es ja auch bei den politischen Zielen darum, Wege zu eröffnen, glücklich und zufriedenstellend zu leben. Die meisten Menschen unserer Szene erkennen deshalb auch keine politischen, sondern überwiegend persönliche Ziele.

Da gibt es bei uns eher den vergnügungssüchtigen Einzelkämpfer, der gegen alle anderen streitet, mit großer Skruppellosigkeit und allen Mitteln, über die er gerade verfügt. Er hat immer die politische Meinung, die ihm helfen kann, sein persönliches Ziel zu erreichen: Anerkennung durch die potentiellen Sex- und Beziehungspartner, Anerkennung im Sinne von Starkult. Während der politische Streiter anderer Szenen bisweilen Persönliches vorgibt, um politische Ziele zu erreichen, geben die Einzelkämpferinnen und -kämpfer unserer Szene oft Politisches vor, um persönliche Ziele zu erreichen. Das ist aber nicht zu verurteilen, sondern oftmals ein besserer Grund als der des altruistischen Kämpfers.

Und gerade das Verknüpfen von politischem Kampf und sexuellen Begegnungen beziehungsweise Beziehungen ist "das Leben" der jeweils Engagierten unserer Szene, macht ihr Engagement dadurch für sie erst sinnvoll und erträglich, ist aber auch schon immer der Schwachpunkt lesbisch-schwuler politischer Arbeit gewesen.

Die Lesben- und Schwulenszene ist eine Freizeitszene. Die Menschen unserer Szene gehen zur Zeit mit den Gruppen um, wie sie mit kommerziellen Betrieben umgehen: Sie wollen die tollsten Freizeitaktivitäten geboten bekommen, die möglichst nichts kosten sollen. Die Menschen unserer Szene erfüllen sich menschlich in ihrer Freizeit.
 
Das tun Menschen anderer Szenen auch. Der Unterschied ist, daß Menschen unserer Szene nahezu nur in der Freizeit in der Lage sind, sich gemäß ihrer Identität zu verhalten, oder es zumindest zu versuchen. Genauer gesagt, sie streben an, sich so zu verhalten, wie derzeit in der Szene behauptet wird, unsere Identität sei. Viele glauben, das Szenenleben sei ihr eigenes, ihr freies Leben. Aufgrund des Wunsches, sich in seiner Freizeit authentisch auszuleben, hat die Szene Familienersatzfunktionen.

Unsere Szene läßt den einzelnen wenig persönlichen Spielraum, verlangt ein großes Anpassungsverhalten des einzelnen. Sie ist überhaupt nicht tolerant, duldet keine Minderheiten und Außenseiter, ist zutiefst unhuman, unsolidarisch und zwischenmenschlich kalt, wie man es eben gegenüber Konkurrenten und Rivalen ist.

Die Identität aller Menschen, also auch die von Lesben und Schwulen, ist natürlich immer eng verknüpft mit Einflüssen, die aus dem ferneren und näheren Umfeld, der offiziellen Gesellschaft und dem Umfeld, in dem sie "sie selbst" sein können. Wir erzeugen so selbst die Leute, über die wir uns ärgern.

Eine politische Organisation im klassischen Sinne könnte keine Lesben- oder Schwulengruppe sein. Immer geht es um die Verknüpfung mit dem, wie Frau/Mann leben möchte, wir finden unsere Freundinnen und Freunde, PartnerInnen und RivalInnen dort, wo wir zusammen sind.
 
Dort finden wir Leute, mit denen wir über unser Leben und unsere Befürchtungen sprechen wollen. Streit zwischen Gruppen erklärt sich oft aus der Eifersucht um Einfluß über die potentiellen PartnerInnen. Inhaltlich können viele gar nicht so weit auseinander sein, denn sie sind überwiegend inhaltlich opportunistisch, reden das, was andere hören wollen, um persönlich anzukommen.
Diese Struktur hat ihren Ausweg gefunden. Aus den relativ einflußlosen politischen Gruppen sind einflußreichreiche Freizeitvereine geworden. Oder es wurden kommerzielle Unternehmen, halbstaatliche Organisationen gegründet, die einigen den Lebensunterhalt bestreiten. Oft konkurrieren sie direkt mit Betrieben der Subkultur und haben dabei aber angeblich die bessere Moral, nämlich angeblich immer noch einen ideologischen oder politischen Anspruch auf ihrer Seite.

Wenn politische Initiativen zum Beispiel in öffentlich geförderten Räumen Feste feiern, um Geld für ihre Projekte zu verdienen, ist dies etwas anderes, als wenn kommerziell ausgerichtete professionelle Freizeitclubs den Lokalen der Subkultur Konkurrenz machen, die ihrerseits nicht über öffentlich geförderte Räume verfügen.
 
Die Szene benötigt aber auch Einrichtungen, die eine längere Zeit lang kontinuierlich existieren und nicht nur bei kurzen großen kommerziellen Events ihr Geld machen. Während die kommerziellen Eventveranstalter in den Lokalen eine Szene vorfinden wollen, in der sie für ihre Events werben wollen, gefährden sie mit den Events oftmals auch den Bestand solcher Betriebe .
 
2. Bewegungsziele
Ehemalige Bewegungsleute sind also zu Geschäftsleuten in unserer Szene geworden. Andere ehmalige Bewegungsleute nutzen die Politik der Bewegung, um Parteikarriere mit ihren Eigengesetzlichkeiten machen zu wollen: gut dotierte Sitze in Parlamenten usw.
Zu den politischen Zielen einer solchen Bewegung kann nicht mehr das freche Einfordern von Klappen und Darkrooms, Cruising-Parks und anderen Begegnungsstätten der Promiskuität gehören, was doch zur Entscheidungsfreiheit der einzelnen nötig wäre.
 
Es geht nicht mehr um den provokanten Geschlechtsrollentausch und offene teilweise obszön zur Schau gestellte frei ausgelebte Sexualität gegen all das Verstecken. Aber dieser freche und provokante Hintergrund was das subversive Element der Szene, die von der Polizei in der Christopher Street gegängelt und geduckt wurde.

Es haben sich nun neue verlogene Moralitäten entwickelt. Während man zum Beispiel gegenüber den "politischen BündnispartnerInnen", den Familienangehörigen, in Szene-Gesprächen, in er eigenen Selbstwahrnehmungen und gegenüber Behörden die heile Welt der altersgleichen eheliebenden Dauerbeziehungen vorträgt, weiß in der Schwulenszene eigentlich jeder über Saunen, Darkrooms, Kaufhaustoiletten, Autobahnraststätten und anderen Cruising-Areas bescheid, und zwar aufgrund eigener Teilnahme. Und Lesben sehen sich dies schaudernd, anklagend und verachtungsvoll an und beklagen bisweilen auch, daß es für sie dies alles nicht gibt.

Die Szene gibt sich nach außen als eine lustige, wohlhabende Szene, was das stille Leid, ärmere Lesben und Schwule, die Einsamkeit Älterer, die in der eigenen Szene Angefeindeten weil nicht Angepaßten zudeckt, zufeiert, tanzend niedertrampelt.

Über all das wird in den Gruppen nicht mehr reflektiert, weil man andere Themen hat, man sich auch dort als Siegertyp profiliert, auch dort verlogen ist.
 
3. Analyse der CSD-Aktivitäten
Was als CSD gilt, ist heute mit großen bunten Paraden, Straßenfesten mit dem lustvollem Anmachen und einem im Hintergrund laufenden Programm verbunden. Andere, bescheidenere, besinnlichere, politischere Vorstellungen werden nicht mehr akzeptiert. Die VeranstalterInnen derart riskanter Ereignisse bleiben mit wenigen Gästen und hohen Schulden unter sich.

Wir haben in Wiesbaden 6 Mal einen CSD veranstaltet und dabei herausgefunden, daß man kaum Entscheidungsfreiheit hat, einen örtlichen CSD zu gestalten. Zuerst einmal ist da der Rahmen, den man sich selbst setzt, wofür man die Arbeit überhaupt leistet. Will man die örtlichen Gruppen und die Betriebe der Subkultur einbeziehen? In welcher Weise ist dies möglich und sinnvoll? Will man, sofern man eine politische Gruppe der linken emanzipativen Szene ist, andere (heterosexuelle) politische Gruppen mit einbeziehen? Welche Veranstaltungsformen hält man für Sinnvoll?
 
Demo oder Parade? Straßenfest? Saalfest? Programm oder Disco? Politik oder Unterhaltung? Wenn Politik, welche? Wie soll das alles finanziert werden? Kann man Geld aus öffentlichen Kassen oder von Sponsoren erhalten, mit Getränken oder Eintritt verdienen, um die Aufwendungen zu bezahlen? Denn das sind die wesentlichen Möglichkeiten, zu Geld zu kommen, wenn die Sponsoren ausbleiben: Entritt oder Getränke. Wenn man ohne Kapitaldecke starten will, wie geht man mit den Unsicherheiten des Wetters, der Beteiligung durch HelferInnen, durch Anzahl der BesucherInnen um? Überhaupt, wie will man die Aktivitäten bekanntmachen und dafür sorgen, daß BesucherInnen kommen?

Die großen Städte, ganz besonders Köln, sind Trendsetter geworden. Ihre Art, des Aufstandes in der Christopher Street gegen die Polizei zu gedenken, ist zum Maßstab geworden. Da marschieren bei der "Parade" die lesbischen Polizistinnen und schwulen Polizisten zusammen mit den SoldatInnen und, etwas weniger großartig und auch eigentlich unkenntlich, den PazifistInnen durch die Straßen. Bonbons und Pariser werden aus Wagen geworfen.
 
Der Carnevalsruf "Aloa" vom Kölner lesbischschwulen Carneval wird zum Ruf auf den Paraden und von den Bühnen bei den Straßenfesten. Ein großes Straßenfest findet dort statt, wo sich auch sonst die Menschen drängen, mit Bierständen, teuren Standmieten, Eßständen, großen Umsätzen, Verkaufsständen verschiedener Artikel, weniger beachteten politischen Ständen und riesigen Bühnen, auf denen immer was los ist. Sicherheits- und Ordnungsdienste sorgen auf ihre Art für den reibungslosen Ablauf der großen Feiern, die an Volksfeste erinnern, jedenfalls nicht an politische Demonstrationen. Wie ein Fastnachtszug mehr Leute begeistert als z.B. eine Anti-Kriegs-Demo, so begeistert eine CSD-Parade eben mit viel dargestelltem Fleisch mehr als eine Demo zugunsten politischer Ziele.

Paraden und kommerzielle Straßenfeste. Das alles kann eine Gruppe nicht einfach so nebenher machen, und - will sie es denn? Es gibt nur in wenigen Städten einen CSD mit einem eigenen Charakter.

Wir hatten in Wiesbaden ein anderes Konzept. Einmal wollten wir die Lokale der Subkultur in einer Weise beteiligen, daß die Veranstaltungen (außer dem Hauptabend) nicht die Gäste von den Lokalen abziehen, sondern sie in die Lokale bringen sollten. Dazu versuchten wir Unterschiedliches: Cruising-Day, CSD-Feiern in den Lokalen und anderes.
 
Der Hauptabend sollte auch für kulturelle und szenenpolitische Inhalte zur Verfügung stehen. Natürlich ging es auch um Spaß, aber auch darum, daß sowohl die KünstlerInnen wie auch die Gruppen eine Möglichkeit hatten, die BesucherInnen inhaltlich zu erreichen. Da wir kein Geld hatten, sondern Geld brauchten, luden wir die KünstlerInnen aus dem Umland ein, kostenlos als Benefiz für die LUST aufzutreten. Die anfalenden Kosten konnten durch den Eintritt gedeckt werden, es blieb auch noch etwas für die LUST übrig.
 
Und so konnten wir viele KünstlerInnen auftreten lassen und ihnen einen Rahmen schaffen, wo man sie auch wahrnimmt, also nicht als Hintergrundkulisse. Hätten wir allen Gage zahlen müssen, dann wären diese gigantischen Programme, die wir zusammengestellt hatten, unbezahlbar gewesen. Zwischen den einzelnen künstlerischen Darbietungen war es möglich, die Szene damit zu erreichen, die CSD-Grußworte der Aidshilfe und des BvH zu verlesen, die ortsansässigen Gruppen vorstellen zu lassen und so "we are a family" wirklich wirksam werden zu lassen.

Und genau das hat sich überholt, denn die meisten Leute sind anscheinend nur vordergründig an irgendeinem Programm interessiert. Wichtiger ist, daß "etwas los" ist. Und "etwas los" ist dann, wenn viele Leute kommen, die "feiern" wollen.

Äußerungen von Gästen am großen Abend im Schlachthof bei dem letzten von uns organisierten CSD 1998 waren eindeutig und klar. Die Szene will große Events und kein Kleinkunst- und Bildungsprogramm. Sie will Feiern unter dem Titel CSD, aber lieber einen Strip als eine Lesung, lieber einen Schlagerstar als einen Liedermacher der Szene. In der Szene nahmen die Verleumdungen und Diffamierungen gegen uns ein bisher nicht gekanntes Ausmaß ein, so daß beim 6. Wiesbadener CSD zum ersten Mal die Besucherzahlen sich nicht wie bisher von Jahr zu Jahr steigerten, sondern in diesem Jahr 1998 sogar etwas zurückgingen. Der Sinn dieser ganzen Hetzkampgne wurde dann klar.

Einige Tage nach dem CSD hielten die Leute, die nicht nur alles anders machen wollten, sondern in der Szene vieles über unsere "persönlichen Missetaten" rumlogen, in einem Brief und einer selbsthergestellten Zeitung über uns Gericht und verurteilten uns und unsere jahrelangen Bemühungen. Sie stellten das Konzept eines neuen CSD vor, der "dem politischen Ereignis des 30. CSD" angemessen sein sollte, wie sie ankündigten.
 
Sie sprachen bei ihren Treffen von angemessenen Ereignissen, z.B. von der Gruppe Rosenstolz, die in Wiesbaden zum CSD auftreten sollte. Der Schlachhof sei für solche Veranstaltungen ungeeignet. Alles sollte größer, schöner und strahlender werden. Man hatte vor, in Wiesbaden den CSD-Rhein-Main durchzuführen. Die Mainzer Initiative wurde unter Druck gesetzt, auf die Sommerschwüle zu verzichten und abwechselnd mit Wiesbaden in der Innenstadt einen CSD durchzuführen. Man freute sich auch, daß die Konstablerwache in Frankfurt verbaut werden sollte und es möglicherweise 1999 keinen Frankfurter CSD geben würde, was mehr Gäste nach Wiesbaden bringen würde.

So war der Weg für Gemeinsamkeiten sehr schwer geworden. Ganz besonders rührig gegen uns war eine lesbische Wiesbadener Stadtverordnete der Grünen. Diese Frau ist uns daher bekannt, daß sie vor Jahren Interesse äußerte, in der LUST mitzumachen. Aus unserer Sicht kam sie aus einer für uns völlig fremden Welt, der Welt der Karriere und der dazu gehörenden Auffasungen.
 
Als wir erfuhren, daß es ihr gelingt, bei den Grünen Karriere zu machen, bestätigte dies unsere Beobachtungen, daß sich bei den Grünen vieles geändert hat. Dies alles führte u.a. dazu, daß wir ab sofort jegliche Unterstützung der Grünen in unserem Medium einstellten, und schließlich hätten wir ja auch die Methoden diese Frau und ihre Feindseligkeit uns gegenüber unterstützt. Ich glaube, daß diese Frau in Wirklichkeit sowohl unserer Szene als auch den Grünen geschadet hat.

Als die Wirte bei uns anriefen, um sich mit uns über diese neue Initiative zu beraten, schlugen wir ihnen vor, mit der anderen Initiative zussammenzuarbeiten, wenn es in Zukunft in Wiesbaden noch einen CSD geben sollte. Wir hatten keine Lust mehr auf Auseinadersetzungen auf diesem Niveau. Im Gegenteil haben wir signalisiert, selbst dem Verein für den Wiesbadener CSD beizutreten. Wir haben auch bis zum letzen Tag den anderen Gruppen, die uns um unsere Meinung gefragt hatten, signalisiert, daß wir mit einem Infostand am "Wiesbadener CSD neuen Stils" teilnehmen würden.
 
Das sollte es ihnen erleichtern, sich zu beteiligen. Selbst waren wir dann doch nicht in der Lage, in diesem Jahr teilzunehmen. Die Verletzungen waren doch zu heftig, als daß sich nun genügend Leute unserer Gruppe gefunden hätten, sich bei dieser Feier vergnügt dazuzusetzen. Vielleicht schaffen wir es ja im nächsten Jahr.

Doch kommen wir von Wiesbaden wieder zur allgemeinen Fragestellung zurück. Gerade weil unsere Szene so unpolitisch ist, ist auch der Wissensstand über politische Zusammenhänge so schlecht. Und da kann es vorkommen, wie wir es im Fernsehen beobachten konnten, daß in Berlin die Demo unter dem Motto der Entprivilegisierung der Ehe steht. Die unter diesem Transparent demonstrierenden TeilnehmerInnen taten dies jedoch, als man sie fragte, zugunsten der Homoehe. Der in den Medien verbreitete Trend erreicht die Leute eben doch besser als unsere Versuche einer Aufklärung mit emanzipatorischen Zielen.
 
Zu 4. Schlußfolgerung
Der Wiesbadener CSD hatte all die Jahre wenig Politisches, aber immerhin doch das eine oder andere Szenenpolitische. Nun ist er völlig unpolitisch geworden. Die neue Initiative hat sich für das Straßenfest professionelle Hilfe besorgt. Es war eine Bühne da mit einem bescheidenerem Programm, als es den WiesbadenerInnen bisher geboten wurde. Anschließend gabs noch eine Disco in einem viel zu kleinem Kulturzentrum. Die Wiesbadener Szene war vergnügt anwesend. Insofern war dies ein Erfolg der MacherInnen des neuen CSD. Den aufopferungsvollen HerferInnen, die kostenlos zuarbeiten, sei auch von uns aus für ihre Arbeit gedankt, denn wir wissen ganz genau, was für eine Mühe es ist, ein solches Event hinzukriegen.

Was den CSD ganz allgemein betrifft, gibt es in fast keiner Stadt mehr einen Bewegungs-CSD. Wir haben auch von ähnlichen rüden Umgangsformen in anderen Städten gehört, die zur Ablösung inhaltlicher CSDs führten. Was wir in Wiesbaden erlebt haben, ist kein Einzelfall. In unsrer Szene gibt es einen neuen oben beschriebenen Zeitgeist.
 
Überall hat sich ein neuer kommerzieller Stil durchgesetzt. Dort gehen die offiziellen Medien, die Unterhaltungsindustrie mit anderen Teilen der Wirtschaft und Politik eine wirksame Verknüpfung ein. Dies zu erreichen, betrachten viele Szenekarrieristen als ihr politisches Ziel. Kostenlose Mithilfe beim Getränkeausschank, bei Aufräumungsarbeiten usw. durch helfende Hände aus der Szene sind erwünscht, Mithilfe an entscheidender Stelle könnte politische Laufbahnen und große Gelder gefährden.

Die CSD-Vereine sind große kommerzielle Vereine geworden, die ihrerseits gerade deshalb das Anliegen haben, nicht kommerziell zu wirken. Deshalb geben sie oft auch dem politischen Anliegen der Initiativen unserer Szene die Möglichkeit, sich zu präsentieren. Das ist gut so und verhindert vielleicht die Atomisierung und Selbstauflösung der Szene auf dem Höhepunkt ihrer Kraft. Denn sollten sich auch in unserer Szene immer größere kommerzielle Anpassungs- und Normalisierungsstrukturen durchsetzen, ist mit deren Sieg die Szene aufgelöst, hat damit unsere Szene sich selbst besiegt.
 
5. Gibt es eine Zukunft für einen politischen CSD?
Bei den heutigen CSD sind ungleich mehr Leute auf den Beinen als bei den politischer ausgerichteten früher. Das bewirkt, daß gesellschaftspolitisch weniger engagierte Menschen die bisherigen Engagierten von ihrer Masse her einfach überschwemmen. Ihnen ist es gar nicht wichtig, daß die kollektive Emanzipation unserer Szene vorankommt, aber sie haben durch die Arbeit der Engagierten früherer Jahre nun die Freiheit, deren emanzipative Arbeit zu beenden und einfach nun ein Teil der bestehenden Gesellschaft sein zu wollen, so gut und so schlecht wie sie ist, ohne sie zu durchschauen zu können.

Was soll aus politischer Sicht eine Teilnahme beim CSD bewirken? Es soll versucht werden, dort Lesben und Schwule für differenzierteres Urteilen, solidarischeres Lieben und Leben, engagierters Miteintreten für erstrebenswertere Ziele zu gewinnen. Dieses Werben für unsere Ziele kann hier geschehen, aber auch anderswo.
 
Es soll gleichzeitig die überall noch vorhandene Lesben- und Schwulenfeindlichkeit der Gesellschaft (auch in den eigenen Reihen) für die heterosexuellen Medien sichtbar benannt und verurteilt werden. Dazu müssen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit aber auch von unseren Leuten als solche erkannt werden und nicht sogar gegen andere Lesben und Schwule funktionalisiert werden. Dazu braucht es permanente Analyse und Aufklärung. Unsere eigenen Medien versagen in dieser Frage nahezu auf ganzer Linie. Können wir bei der gegenwärtigen Struktur des CSDs in diesem Sinne noch wirksam werden?

Ich meine: ja. Es sei den feiernden Gästen gegönnt, ganz einfach zu feiern. Nicht gut wäre die Vorstellung, die man gelegentlich von fundamentalistischen Bewegungsleuten zu hören bekommt, die TeilnehmerInnen politisch bevormunden zu wollen. Ein solches Verhalten führt nicht nur in die Isolation, sondern zeugt von der Menschenverachtung der politisch Handelnden und ist anti-emanzipativ. Die politischen Initiativen mit ihren Anliegen können sich nur als eines unter verschiedenen Angeboten präsentieren. Das ist so aber auch in Ordnung. Ein jährlicher CSD kann nur eine Bestandsaufnahme der Situation sein.

In der professionellen und kommerziellen CSD-Szene überwiegen die unpolitischeren Politparolen, die auf Gleichstellung und Anpassung ausgerichtet werden und in den offiziellen Medien als die wesentlichen Ziele unserer Szene ausgegeben werden. Es ist aber auch wichtig, die Probleme aufzuzeigen, die sich aus Gleichschaltung und Anpassung ergeben, nämlich dem Verlust unserer Szene als kommunikativen Zusammenhang und den Verlust der Identität unserer Szene.

Uns Kritikern der Anpassungsstrategie geht es um ein elementares Gut: der Verteidigung der eigenen Identität, die entstanden ist in kritischer Auseinandersetzung mit demütigenden, krankmachenden und angstmachenden Strukturen der normalen Gesellschaft. Gay-pride ist der Stolz, der aus der Auseinandersetzung damit entstanden ist. Das Anpassen an solche Strukturen wäre mit einer Aufgabe ihrer eigenen stolzen Identität verbunden und kommt für uns nicht in Frage.
 
"Gay-Pride", der lesbisch-schwule Stolz, das kämpferische Selbstbewußtsein, war das Ergebnis des Aufstandes in der Christopher Street, aber auch das Ergebnis von vielen kleinen Selbstbehauptungskämpfen bei vielen kleinen Anlässen vieler Lesben und Schwuler in den USA aber auch bei uns. Das Andenken am CSD war symbolisch für viele kleine Siege. Dieses Andenken ist bei den gegenwärtigen Veranstaltungen nur noch begrenzt möglich.
Es gibt nun aufgrund der inhaltleeren Kommerzialisierung die Dominanz der anderen, die im Anpassen und einmal jährlichen Ausflippen ihr Leben zu bewältigen versuchen.

Was spricht dagegen, wenn engagierte Gruppen eigene Angebote an Veranstalungen, demonstativen Aktionen, wo immer das möglich ist, durchführen und so die Vielfalt von CSD-Aktivitäten vergrößern? Sie erreichen dabei zwar nicht die ganze Szene, aber den Teil von ihr, der Fragen stellt und über Geschäften und Parteikarriere hinaus Grund hat, etwas zu tun, zum Beispiel zugunsten der eigenen und gesellschaftlichen Emanzipation.

Es gibt im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir emanzipativen Lesben und Schwulen suchen uns ein anderes Datum für politscher ausgerichtete aber schlechter besuchte Feiern. Das würde dazu führen, daß wir Leute, die vielleicht von uns erreichbar wären, nicht mehr erreichen könnten. Wir könnten zwar inhaltlich richtige Analysen und Kritikansätze gegenüber den Medien vertreten, aber würden sie uns zur Kenntnis nehmen?

Oder es gelingt uns, als Bestandteil der bunten Vielfalt in dem professionellen Trubel eigene Konturen aufzuzeigen. Wollen wir damit aber Bestandteil der Szene bleiben, dann müssen wir uns auch als Bestandteil zeigen.

Natürlich gibt es auch noch eine dritte Möglichkeit: aufzugeben und sich zurückzuziehen. Aber das ist nicht unser Ding, zumindest nicht meines. Eine Arbeit in unserer Szene und für die Menschen unserer Szene ist auch eine Arbeit für mich selbst im Sinne meiner Identität. Arbeit in der Lesben- und Schwulenbewegung wäre ohne der Möglichkeit, für persönliche und gesellschaftliche Emanzipation eintreten zu können, völlig ohne jeden Sinn. (Joachim Schönert)
 
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