54.Lust: Juni/Juli 99
 
Trend zur Doppelmoral
Die Sehnsucht nach der großen Liebe und der lebenslangen Bindung geht aus den Kontaktanzeigen und aus der Beurteilung der sexuellen Arrangements anderer hervor, während die eigene Praxis dennoch im Sinne unserer Szene "normal" geblieben ist. Zeit für eine neue Aufklärung oder Zeit für dasWerben für eine ehrliche Moral?
 
"Ei, isses nicht süß?" Martina genoß die Bemerkungen des jungen Mannes, der sich über den Kinderwagen beugte und das Kind begutachtete. "Was soll es denn mal werden?" "Ich würde mich ja schon freuen, wenn er, wie ich, eine Ehefrau und Mutter werden würde", antwortete sie und strich sich nachdenklich über das kratzige Kinn ihres Eintagesbartes.

Der junge Mann begutachtete nun Martina besonders intensiv und griff sich an die Beule seiner Jeans. "Martina heißt du? Als Martin wärst du mir lieber", sagte er lächelnd, "können wir uns nicht mal irgendwo treffen?"

Martina errötete,schob schnell die Falte ihres Kleides über ihren wachsenden Slip, hoffte, daß der junge Mann die Verdickung unterm Rock nicht bemerkt hatte und lenkte das Gespräch auf ihren Lebenspartner, der heute, wie jeden Tag, ins Büro gefahren war. Vor 17 Uhr würde er nicht nach Hause kommen. Und insofern wäre ja Gelegenheit für eine kleine gegenseitig entspannende Begegnung gewesen, stahl sich als klarer Gedanke in ihr Bewußtsein.

Aber eine Ehe (die Hochzeitsfeier in Anwsenheit von Volker Beck und Hella von Sinnen war vor noch nicht einma 6 Jahren gewesen) ist doch etwas Wertvolleres als eine freiwillige PartnerInnenschaft, die ja täglich neu bewiesen werden müßte und dadurch recht unstabil wäre. Die Gleichstellung- und Integrationspolitik der vergangenen Jahre hatte schon ihr Gutes.

Da konnte sich ihr damals ständig fremdgehender Freund, der nun zu ihrem langjährigen treuen Ehemann geworden war, schon auf sie verlassen. Als sie Uwe kennenlernte, war er als älteres Anhängsel einer sogenannten schwulen Jugendgruppe an sehr jungen Typen interessiert. Je jünger um so besser. Nun war die sexuelle Begierde zwischen beiden eigentlich nicht mehr so brisant und aktuell, so daß höchstens einmal monatlich noch etwas stattfand. Sie waren, wie man so schön sagt, zur Ruhe gekommen. Aber, man blieb sich treu.

Außerdem war das adoptierte Kind ihrer gemeinsamen Verantwortung anvertraut worden. Dies machte ein Gelingen ihrer Ehe und ihr Leben als moralische Vorbilder zu einem Muß.

Die früher nur für Heterosexuelle geltende Ehe als privilegierte und steuerlich begünstigte Lebensform begründete sich ja, wissenschftlich gesehen, im Schutz von Kindern. Auch die Monogamienorm der Ehe hatte letztlich ihre Bedeutung in Hinblick auf die Kindererziehung. Diese Erkenntnis von SexualwissenschaftlerInnen führte dazu, daß das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare dann erleichtert worden war.

Martina erinnerte sich noch an ihre Kreuzzüge als "der coole Martin" durch die Diskotheken, Saunen und Darkrooms der Szene. Nun ging sie völlig in der Rolle Hausfrau und Mutter auf.

Diese Betriebe hatten nun nahezu alle geschlossen. Es war, um die "Treue" besser aufrechterhalten zu können, für die vielen nun verheirateten Paare besser, sich von der Szene fernzuhalten. Bestenfalls ging man nun noch zusasmmen esen, in Konzerte und ins Theater. Dort warf man scheue Blicke nach den anderen Parren und unterhielt sich über deren Garderobe und was man so alles über sie gehört hatte.

Für "Fremdgehen" könnte man ihnen das Kind auch wieder entziehen, was beide unbedingt vermeiden wollten. Die engagierte Vorsitzende Ruge des paritätisch besetzten Vormundschaftsrates, ein Mitglied des Regierungsverbandes LSVD, hatte ein waches Auge auf solche Fehltritte.

Martina ärgerte sich nun doch über sich selbt. Kaum sah sie einen solchen gutaussehenden jungen Mann, war es so schlimm wie früher, als sie sich nach staken Männern sehnte und nichts anbrennen ließ. Außerdem ärgerte sie sich über den jungen Mann, der in verführerischer Kleidung und aufreizender Gebährde sie in Versuchung zu führen suchte.

Deshalb hatte sie ja die Gründung des Verbandes gegen erotischen Mißbrauch begrüßt. Stolz trug sie das Lambda-Zeichen des Verbandes am Kinderwagen. Sie wollte nicht immer wieder durch aufreizende Kleidung und Verhalten von manchmal sogar recht jungen Leuten provoziert werden. Homosexuelle Menschen wurden nun in der Gesellschaft akzeptiert, da dürfen sie nicht durch provozierendes sexualisiertes Verhalten alles Erreichte in Frage stellen.

"Kennst Du eigentlich den "Verband gegen erotischen Mißbrauch?" beantwortete sie die Frage des jungen Mannes nach einem Treffen. Dieser antwortete: "Ich interessiere mich nicht für Politik. Aber gegen Mißbrauch bin ich auch. Was ist denn das für ein Verband?" "Da ist heute abend eine Versammlung im lesbisch-schwulen Kulturhaus. Möchtest du da nicht mal hinkommen? Der Polizeibeamte für Gewalt gegen Schwule wird eine Rede halten. Ich werde mit meinem Uwe auch hingehen."
 
Das ist der Beginn einer satirischen Erzählung, die ich dann doch nicht weitergeschrieben und veröffentlicht habe, weil mir so viele Leute begegnet sind, die das gar nicht als Satire angesehen haben. Der Beginn der Geschichte hatte ihnen zwar gefallen, aber sie lachten über ganz andere Stellen, nämlich über die Geilheit der Tunte im Rock statt über den Verzicht auf eine nette Begegnung mit der Ehemoralbegründung. Ich mußte einsehen: unsere Szene, zumindest der schwule Teil von ihr, wird moralisch. (Renate meinte an dieser Stelle: "... und die Lesbenszene war nie anders als moralisch.")
 
Was spricht für und gegen Zweisamkeit und eine Partnerschaftsmoral?
Nun ist eine PartnerInnenschaft, falls es sich um eine zu zweit handelt, nicht unbedingt an die Ehenorm gebunden. Aber wir leben in der gleichen Gesellschaft wie die Heterosexuellen, die Bildzeitung erreicht mehr Lesben und Schwule unserer Szene als die LUST. Deshalb sind die Vorstellungen über eine Zweierbeziehung auch durch die Medien geprägt, eine Dreierbeziehung oder ein Beziehungsnetz wird da als unmöglich und unnormale Abweichung angesehen. Interessant ist, daß unter Partnerschaft und PartnerInnenschaft tatsächlich überwiegend nur das Muster der heterosexuellen eheähnlichen Zweissamkeit gesehen wird. Da waren wir mit der Kommunebewegung der späten 60er und frühen 70er schon mal weiter. Interessant ist auch, daß das Zussammensein immer mit monogamer Sexualität gleichgesetzt wird, als könnten auch bei uns daraus Kinder entstehen.

Ich untersuche also erst einmal die Alternativen Zweisamkeit mit der Einssamkeit des promisken also beziehungslosen Lebens, das in unserer Szene am verbreitesten ist. Alles oder nichts, das scheint hier immer das Motto zu sein und führt dann meistens zu nichts mit dem angeblichen ständigen Wunsch nach allem.

Zweisamkeit bedeutet einerseits ein intensiveres gegenseitiges Aufeinandereingehen und andererseits eine Einschränkung in Hinblick auf andere potenzielle Sex- und BeziehungspartnerInnen von außerhalb.

Zweisamkeit ermöglicht leichter ein gemeinsames Alltagsleben, da die ganze Gesellschaft dies so sieht, verlangt also nicht immer nur das Feiertagsverhalten, das bei Anmachen erwartet wird. Aber das Alltagsverhalten ist später auch oft ein Fallenlassen vom Aufeinanderzugehen.

Zweisamkeit befreit vom Streß der PartnerInnensuche. Dies wird anfänglich als angenehm empfunden, besonders vor einer Partnerschaft. Bei längeren Partnerschaften ist sie dann aber auch eine Belastung, da die gegenseitige soziale Kontrolle und die Eifersucht den Zweck des gegenseitigen Fesselns hat.

Zweisamkeit ist kostengünstiger als ständige PartnerInnensuche in Lokalen, Saunen Discotheken usw.. Dadurch bleibt mehr Geld für den Ausbau des gemeinsamen Haushaltes übrig. Der gemeinsame Haushalt kostet unterm Strich aber so wenig auch nicht, weil vieles, was vorher irgendwo getan wurde, nun zu Hause gemacht wird, also aus der Kneipe ins Haus geholt wird.

Zweisamkeit ist undemokratischer, denn in der Partnerschaft erheben die PartnerInnen auch gegenseitigen Anspruch auf die Teile der Persönlichkeit des/der anderen, die diese(r) lieber mit anderen teilen möchte.

Zweisamkeit ermöglicht durch gegenseitiges Kennenlernen eine intensivere gegenseitige Hilfe zum Beispiel im Krankheitsfall, es ermöglicht dadurch aber auch eine schärfere gegenseitige Kontrolle.

Zweisamkeit ermöglich anfänglich ein gegenseitiges intellektuelles Anregen, führt aber auch in eine intellektuelle Isolation zu zweit und somit in eine Abgestumpftheit.
 
Kann ein Mensch ohne die angenehmen Seiten der Zweisamkeit oder anderer Beziehungsformen leben, um dann besser die Annehmlichkeiten des freien Lebens zu genießen?

Die Bedingungen für das freie Single-Leben sind in unserer Szene überwiegend relativ schlecht, so daß für eine solche Entscheidung die Nachteile in der Beziehungslosigkeit spürbar werden. Die "Welt" ist mit einer Infrastruktur für heterosexuelle Familien eingerichtet. Auch in unserer Szene ist das "Fündig-Werden" zunehmend erschwert. Duch immer schärferen Schönheits- und Jugendkult, durch die Einteilung in unterschiedliche Szenen wird es in der Szene immer aufwendiger und schwieriger, jemanden spontan zu finden.
 
Wer eine "Beute" errungen hat, will sie so lange wie möglich fesseln und der Szene entziehen. Mit dem Aufwand, der nötig ist, sich darauf vorzubereiten, immer mal den Menschen für die Nacht zu werben, können 5 Ehen gestiftet, gelebt und wieder geschieden werden.

Ein Teil unserer emanzipatorischen Arbeit wäre es aber, daß wir mithelfen, eine gute Infrastruktur für freies, ungebundenes Leben aufbauen, und zwar so, daß wir wieder Mensch sein dürfen und nicht nur Modepuppen und Body-Builder sein müssen, um gelegentlich fündig werden zu können. Damit treffen wir uns mit den Interessen der Wirte/Wirtinnen lesbischer und schwuler Einrichtungen, die ihre Einrichtungen besonders dann für uns interessant ausbauen können, wenn es eine nennenswerte Szene gibt, die gute Gründe hat, dort hinzugehen. Hallo Wirtinnen und Wirte, Eure Vorgänger(innen) waren Vertrauete der Gäste und Kuppler(innen) für die Begegnungen dieser Nacht.

Ein weiteres emanzipatorisches Ziel ist es, daß wir uns von der Zweisamkeitsmoral frei machen, die die Nachteile der Zweisamkeit und der Ungebundenheit für naturnotwendig erklärt. Die Moral schafft Schuldgefühle gegen freies Ausleben und rechtfertigt gegenseitiges Unterdrücken.

Kaum jemand möchte alleine ohne zwischenmenschlicher Wärme in einer wie immer gearteten Partnerschaft leben. Aber jeder möchte nach dem Abklingen der brisanten Verliebtheit ehrlich sein können, und zwar gegenüber sich selbst und den(m) vertrauten Menschen. Man will weiterhin cruisen dürfen, körperlich und intellektuell von anderen Menschen angeregt werden usw. Muß man sich nun dafür gegenüber der PartnerInnenmoral für schuldig oder verworfen halten? Gut, Menschen, die das Gefühl haben, nun zu sündigen, tun dies oftmals dann ganz besonders intensiv. Aber zu seiner Lust ganz selbstverständlich stehen zu können, ist einfach befriedigender.
 
Haben wir die gleichen Möglichkeiten, uns für freien Sex zu entscheiden, wie für eine monogame Partnerschaft?
Warum wird ein Partner, der über dieses Verhalten frustriert wäre, weil er seinen Partner noch stärker besitzen und kontrollieren will, bedauert, während der Partner, der sich außerhalb der Partnerschaft anregen will, aber durch eigene Skrupel und fremder Überwachung daran gehindert fühlt, kein Mitgefühl erhält?
 
Klar, die PartnerInnenmoral wird für selbstverständlich gehalten, entspricht der vorherrschenden religiösen und gesellschaftlichen Norm und auch hier funktioniert die zunehmende Gleichstellung mit der Hetero-Szene.

Daß Sexualität nur innerhalb einer monogamen Beziehung etwas sauberes, etwas zu akzeptierendes sei, setzt sich zunehmend in der Erkenntnis der Leute in unserer Szene durch. Aber die Ehe im Heterobereich funktioniert eigentlich auch nur in Verbindung mit der Kaiserstraße, den Stöhntelefonen und anderen Ergänzungen, weil sexuelle Lust erstirbt, wenn sie eingesperrt wird. Man spricht nicht umsonst vom kritischen dritten und dem verflixten siebten Jahr. Danach ist ohnehin alles uninteressant geworden.

Daß der Seitensprung moralisch verwerflich sei, führt nicht nur zur Ausdünnung und dem Verschwinde unserer Szene, führt vor allem dazu, daß die Menschen unserer Szene wieder immer weiter vereinzelt werden. Jeder ist moralisch, bewundert die anderen Moralischen, hält sich für einen Sonderfall beim Scheitern der Monogamienorm. Und die Moralisten tun das Ihrige, die vielen Seitenspringer für bedauerliche Einzelfälle zu erklären. Verbündete der Aufklärung: die real existierenden sexuellen Bedürfnisse jenseits der moralischen Normen.
 
Ist nicht die Moral der Monogamie in Bezug auf die AIDS-Vorbeugung eine sinnvolle Einrichtung?
AIDS wird nicht durch Seitensprünge, sondern durch ungeschützten Verkehr weitergegeben. Viele Paare versprechen sich gegenseitig monogames Verhalten, betrachten die Sexlust des anderen als ihr Eigentum, um untereinander ungeschützt verkehren zu können. Beim Fremdgehen gefährden sie dann tatsächlich sich und den Partner, weil sie dann ungeübt sind oder durch das Mitnehmen von Condomen dem Partner signalisieren würden, daß sie nun fremzugehen wünschen, was dann natürlich unterbleibt.
 
Die Cruiser, für die die Szene und die ganze Stadt ein Jagdgebiet darstellt, haben sich (hoffentlich alle) auf die Möglichkeit einer Übertragung eingestellt und verzichten schon aus persönlichen Gründen auf ungeschützten Verkehr. Auch die schon Infizierten verhalten sich entsprechend, weil eine Mehrfachinfizierung die Gefahr des Krankheitsausbruches erhöht. Wer Sex in der Szene genießt, der weiß, wie er sich schützen kann. Die Verliebten und Monogamen, die glauben, so etwas nicht nötig zu haben, die ihre Seitensprünge einfach verdrängen und ignorieren, die freilich sind gefährdet.
 
Was also spricht für eine moralische Moral oder eine neue Aufrklärung in unserer Szene?
Kann Moral etwas anderes sein als Doppelmoral? Man möchte vom Partner das Einhalten von Normen, die man selbst nicht immer einhalten kann. Die eigenen Seitensprünge und sexuellen Phantasien, die man unterdrückt statt sie auszuleben, berücksichtigt man nicht. Man schämt sich sogar dafür, obwohl sie doch die Ereignisse sind, von denen man noch lange zährt, die das moralische Leben erst erträglich machen. Genauer: mit jedem Porno, durch den man sich anregen läßt, geht man ja gedanklich fremd. Aber man geht nicht wirklich fremd und ist dann insofern moralisch.

Mir fallen da gar keine Gründe ein, die eine Moralisierung rechtfertigen. Mir fallen aber viele Gründe für eine neue Aufklärung ein. Eine neue Aufklärung würde zur Erkenntnis führen, daß auch die anderen genau solche "unmoralischen" Bedürfnisse haben, wie wir selbst. Die anderen, die einfach frech das tun, was wir erträumen, sind dafür aber nicht hassenswerte Menschen, die wir bestrafen wollen. Sie sind nur ehrlicher, oftmals erfüllter und deshalb sichtbarer. Sie werden von den Moralaposteln gerne verteufelt und verleumdet. Es ist bezeichnend, daß der Sex-Medien-Mark immer noch boomt, ob im Internet oder im Zeitschriftenbereich. Hier geht es in Wirklichkeit doch um Ersatzbefriedigung.

Vom emanzipatorischen Ziel einer befriedigenden Sexualität sind wir noch sehr weit entfernt, auch wenn wir für unseren Sex nicht mehr eingesperrt werden. Wären wir befreiter, käme von den MoralistInnen wieder das Ansinnen, uns zu bestrafen. Eine neue Aufklärung, die den Menschen viele innere und äußere Konflikte ersparen würde, könnte den Moralaposteln die Macht über unsere Entbehrungen entziehen. js
 
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