53.Lust: April/Mai 99
 
Linke und Homosexuelle
Die Arbeiterparteien waren die ersten Unterstützerinnen der Homosexuellen gegen die Kriminalisierung und Psychiatrisierung. Dennoch erlebten Lesben und Schwule von Linken oft Diskriminierung und Ausgrenzung, während die Rechten moralische und juristische Verurteilung, Sexualitätsverbote, Diskriminierungen und Todesurteile und das KZ für uns bereit hielten.
1. Linkes Selbstverständnis
2. Sexuelle Identität im linken Weltbild
3. Erfahrungen aus der Geschichte und der Gegenwart
4. Zukunftsperspektiven
 
1. Linkes Selbstverständnis
Wie wird man eine Linke, ein Linker? Irgendetwas muß Auslöser sein. Es kann sich um die Empörung über die sozialen Ungerechtigkeiten handeln, die marktwirtschaftliches Produzieren erzeugt: das Produzieren, um einen möglichst großen Gewinn zu erzielen. Da der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist, erschreckt man über die Opfer der Marktwirtschaft. Neben der prunkvollen Villa verhungern Menschen. Einerseits die riesigen Gewinnen für die einen, andererseits lungern Arbeitslose auf der Straße, bereit, sich für alles und jedes zu verkaufen.
 
Die wirtschaftseliten der Wohlstandländer verteidigen ihren Vorteil, den sie durch die Strukturen aus dem Kolonialismus erhalten haben, und ganze Völker sind verdammt, in Armut und Hoffnungslosigkeit zu leben. Deren Staatsoberhäupter sind häufig gut verdienende Sachwalter der Wirtschaftsinteressen großer multinationaler Konzerne. Die Ungerechtigkeiten der Marktwirtschaft werden mit biologistischen und rassistischen Stammtischmeinungen gerechtfertigt oder zugedeckt, und manche soziale oder nationale Minderheit ist traditionell der Sündenbock für die unsozialen Zustände, die die Marktwirtschaft nicht nur ständig erzeugt, sondern erst möglich macht.
 
Dieses vor Augen, ist es kein Wunder, wenn man eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung anstrebt. Alle wichtigen sozialen und gesellschaftlichen Reformen und Verbesserungen für den sogenannten "kleinen Mann" kommen letztlich von "links". Erst durch den Widerspruch zum Bestehenden und das kritische Analysieren der Verhältnisse kann man zu einem linken Weltbild gelangen. Wie sollte man da nicht links sein?

Aber wir müssen bei der Frage, die uns heute beschäftigt, zwischen dem Konzept einer anderer Wirtschaftsordnung als der Marktwirtschaft einerseits unterscheiden und der revolutionären Strategie und reformerischen Taktik linker Parteien andererseits, die sich als GegnerInnen der konservativen und rechten Parteien in der politischen Parteienlandschaft unserer, also der parlamentarischen Repräsentativdemokratien wiederfinden.

Linke Parteien setzen sich unter diesen Bedingungen oftmals reformerisch für Minderheiten usw. ein, in Wirklichkeit sind die individuellen Besonderheiten der einzelnen Menschen oder sozialen Gruppen den sozialistischen Linken immer auch suspekt gewesen.
In Wirklichkeit ist die Forderung nach der "Freiheit der eigenen Entscheidung über sich selbst" schon immer eine aus dem Bürgertum stammende Forderung gewesen, also keine sozialistische Forderung.
 
Das bürgerliche Recht, der Code Napoleon, der mit den napoleonischen Truppen gegen Kirche und Adel in den deutschen Kleinstaaten verbreitet wurde und den Klassenkampf des Bürgertums gegen den Adel unterstützte, ging vom Selbstbestimmungsrecht eines Menschen über 14 Jahren über sich selbst aus und infolgedessen gab es keine Bestrafung homosexueller Handlungen über dem 14. Lebensjahr, was z.B. im Bayerischen Gesetzbuch verankert war und erst bei Staatsgründung des Deutschen Reiches 1871 durch die Übernahme des preußischen Rechts zu Fall gebracht wurde.
 
Und der linksradikale Flügel der bürgerlichen Revolutionäre, die Libertären oder Anarchisten, ging wie die Radikaldemokraten ebenfalls vom individuellen Selbstbestimmungsrecht aus. Allerdings steckt hinter diesem Selbstbestimmungsrecht auch der Verlust der gegenseitigen Fürsorge füreinander, nach dem Motto: dem Tüchtigen gehört die Welt, was zwar nicht gemeint ist aber in Marktwirtschaften wirtschaftlich bedeuten kann und auch oft bedeutet: dem Skrupellosesten und Unsozialsten gehört die Welt.

Die sogenannte Sexrevolte der 68er, die uns die ersten Reformen am § 175 StGB bescherte, wurde von der damaligen "Antiautoritären Bewegung" vorangetrieben, in der sich anarchistische, sozialistische und pazifistische Ansätze diffus verbanden.
 
2. Sexuelle Identität im linken Weltbild
Wie im 1. Abschnitt schon dargestellt, ist die Errungenschaft des individuellen Selbstbestimmungsrechtes eine bürgerliche, eine radikaldemokratische Forderung, die in Texten der bürgerlichen Linken wie der Libertären und Anarchisten durchaus in vielfältiger Form seine Entsprechung fand, während dort freilich auch die Linie: "Mach einfach, was Du willst. Ich selber bin normal, also laß mich damit in Ruhe", vorherrschend ist. Der individuelle Selbstbestimmungsansatz birgt nämlich die Gefahr der Ignoranz gegenüber Kritik und des Ausweichens vor Selbstreflektion in sich.

Anders sieht es in den Texten der sogenannten proletarischen Linken aus. Da wird die proletarische Ehe als Schutz- und Trutzbündnis gegen die Doppelmoral der bürgerlichen Ehe gestellt. Individualismus ist aus dieser Sicht gefährlich, denn er wendet sich hier gegen das gemeinsam handelnde Kollektiv. In vielen Texten von Lenin kritisiert er das Infragestellen einiger Beschlüsse der Zentralkommitees durch Linksintellektuelle als bürgerlichen Individualismus.
 
Zwar interpretiert Engels in seinem "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" den Staat als Klassenkonstrukt der jeweils herrschenden Klasse, dessen Entwicklung parallel laufe mit der Entwicklung des Privateigentums und der Familie. Engels belustigt sich hier über Moralspießer, die doch Doppelmoralisten seien, stellt ihnen aber nicht das individuelle Recht über den eigenen Körper als Befreiungselement gegenüber, sondern die zur "individuellen Geschlechterliebe" verfeinerte heterosexuelle Zweierbeziehung, die so lange andauert, wie eben die Liebe andauert, die danach in neue "treue" Beziehungen mündet, da ja keine wirtschaftlichen Zwänge mehr eine über die Liebe hinausgehende Bindung am Leben halte.
 
Da wissen nicht nur wir Lesben und Schwule, daß auch ohne wirtschaftliche Bindung es noch Bindungen zwischen Menschen gibt, nachdem die Verliebtheit und die sexuelle Begierde aneinander nachgelassen hat. Er stellt die bürgerliche Ehe, die von einer/m PartnerIn auch aus wirtschaftlichen Gründen eingegangen wird mit Prostitution auf eine gleiche Stufe. Perversionen (dazu gehört für ihn die Homosexualität, aber auch die Sexualität ohne Beziehungseinbindung) sind für ihn die Folge der Dekadenz einer zerfallenden Gesellschaft, der bürgerlichen Gesellschaft also. Die Kritik an der Spießigkeit wandte Engels nur gegenüber solchen Menschen an, die seine heterosexuelle Neigung mit spießigen Geboten belegten. Gegenüber Schwulen fand er ganz andere Töne, Lesben ignorierte er einfach, wie dies auch durch das Bürgertum geschieht.

Als sich der schwule Jurist Ulrichs in der Hoffnung auf Unterstützung aus der Arbeiterbewegung an Marx wandte, daß bei Staatsgründung 1871 des Deutschen Reiches nicht das preußische Recht mit der Verurteilung der Homosexualität eingeführt werden solle, übersandte Marx dies an Friedrich Engels, dem Kritiker der bürgerlichen Doppelmoral, der wie folgt reagierte:

"Das ist ja ein ganz kurioser `Urning´ (Ulricht erfand für Männer mit homosexueller Identität die Bezeichnung `Urning´), den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an, sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staate bilden. `Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul (Krieg den Fotzen, Friede den Arschlöchern)´, wird es heißen. Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlichen Tribut zahlen zu müssen." (MEW, Bd 32, S. 324)

Man merke, der `Urning´ wird hier zum Päderasten, also zu einem gefährlichen Mann uminterpretiert, auch wenn damals mit Päderasten wahrscheinlich nicht die Kinderliebhaber, sondern die Jünglingsliebhaber benannt wurden. Der Kritiker der bürgerlichen (Doppel)Moral denkt bei diesem Thema nur an seine heterosexuellen zusammengekniffenen Arschbacken. Für Homosexualität gibt es ja auch nur die Begründung der individuellen Lust der Betreffenden, und da ist die Verurteilung der Homosexualität letztlich auch das Verurteilen der Lust ohne soziale Einbindung und ohne sozialen Zweck.

Lenin bringt in der neu gegründeten Sowjetunion die Sache der linken Moral in Fragen der Sexualität an sich auf den Punkt. Er weist die "ungestümen" Genossen zurück und verweist sie auf glücklichere Zeiten, die kommen werden:

"Eine Sexual- und Eherevolution ist im Anzuge, entsprechend der proletarischen Revolution. Es ist naheliegend, daß der dadurch aufgerollte sehr verwickelte Fragenkomplex wie die Frauen, so auch die Jugend beschäftigt. Sie leidet wie jene ganz besonders schwer unter den heutigen sexuellen Mißständen. Sie rebelliert mit dem vollen Ungestüm ihrer Jahre dagegen. Das begreift sich. Nichts wäre falscher, als der Jugend mönchische Askese zu predigen und die Heiligkeit der schmutzigen bürgerlichen Moral. Allein es ist bedenklich, wenn in jenen Jahren psychisch das Sexuelle zum Mittelpunkt wird, das schon physisch stark hervortritt. Wie verhängnisvoll wirkt sich das aus." (Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände, in Werke Bd. 31, S. 218 und 248) Leider fehlen Anmerkungen, was denn das Verhängnis sei.

In der jungen Soejetunion hatten sich wie übehaupt in der Diskussion der weltweiten Linken verschiedene Ansätze freierer Moral entwickelt, die Lenin kritisierte. Seine Lebensgefährtin Krupskaja schrieb Texte über den Wandel der Moral bei Beobachtung von drei Generationen. Lenin selbst kritisiert auch seine zeitweilige Geliebte Ines Armand (von der Krupskaja akzeptiert) über deren Forderungen nach der Befreiung der Sexualität.
 
Er äußert sich negativ über die, wie er es nannte, sogenannte Glas-Wasser-Theorie:
"... Obgleich ich nichts weniger als ein finsterer Asket bin, erscheint mir das `neue sexuelle Leben´ der Jugend - manchmal auch des Alters - als rein bürgerlich, als eine Erweiterung des bürgerlichen Bordells. (Hier wird von Lenin die ungebundene Sexualität mit der käuflichen Sexualität in einn Topf geworfen. Diese ist freiwiliger und lustvoller Natur, jene ist oft wenig lustvoll, besonders für die Prostituierten und die Ergänzung der monogamen Ehe und der Ehemoral) Das alles hat mit Freiheit der Liebe nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiß die famose Theorie, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens so einfach und belanglos sei wie das `Trinken eines Glases Wasser´. Diese `Glas-Wasser-Theorie´ hat einen Teil der Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. Ihre Anhänger behaupten, daß sie marxistisch sei. Ich danke für solch einen Marxismus, der alle Erscheinungen und Umwandlungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft unmittelbar und gradlienig aus deren wirtschaftlicher Basis ableitet (...)." (Lenin, A. a. O.)

Er behauptet weiter, die Anhänger des unproblematischen Auslebens der Sexualität würden ihre Theorie aus der wirtschaftlichen Basis der Gesellschaft ableiten und das "Kulturgewordene" übersehen und verweist auf Friedrich Engels Passagen. Und so urteilt er schließlich:
"Nun, gewiß. Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist?" (Lenin, A. a. O.)

Es lassen sich eine ganzen Menge Texte finden, die belegen, daß die befreite Sexualität, die wir Lesben und Schwulen lebensnotwendig brauchen, nicht aus dem Marxismus-Leninismus abzuleiten ist. Die Unterdrückungsformen gegenüber der Sexualität und sexuell freier lebender Menschen, die heutzutage so gerne als Entartungserscheinungen im Linken Weltbild dargestellt werden, sind in den grundlegenden theoretischen Texten von Marx, Engels und Lenin schon vorzufinden und nicht nur in solchen Texten, in denen sie sich schlicht als Kinder ihrer Zeit zeigen, sondern auch in grundlegenden analytischen Texten, die zu Maßnahmen, Gesetzgebungen und Eingriffen in das Leben von Menschen führ(t)en.
 
3. Erfahrungen aus der Geschichte
Wir wissen ja, daß die angekundigte Ehe- und Sexreform in den ca 70 jahren er Sowjetunion auf haber Strecke stehenblieb und die Emanzipation der Frau auf sich warten ließ. Die Rolle der Frau war insofern in der proletarischen Ehe besser als in der bürgerlichen, als Frauen auch selbständig Geld verdienten und somit ihrem Gatten nicht mehr auch noch finantiell ausgeliefert waren. Das Infragestellen der Männer- und Frauenrolle blieb aus, und so waren viele Frauen dennoch die Putzhilfen für das Wohlergehen des Mannes. In einigen "sozialistischen" Staaten wurden tatsächlich die äußeren Voraussetzungen für eine Gleichstellung der Frau geschaffen.
 
Aber im Inneren der Frage gab es keine weitergehenden Fragestellungen und daraus resultierende Reformen, denn diese Frage wurde als Nebewiderspruch bezeichnet und damit aus den Diskusionen ausgeblendet. Verkündete Lebensform war die proletarische Ehe und die proletarische Moral. Dies Behandlung hieß im Klartext, daß die Veränderung der ökonomischen und sozialen Rahmenverhältnisse von alleine die anstehenden Fragen kären würde.
 
Die hatte im täglichen Leben dann die Auswirkung, daß oftmals Menschen Opfer kleinlicher Beamtenseelen wurden, die ihre eigenen (Doppel)moralvorstellung zur Grundlage ihres Wirkens machten, weil ihre eigenen Phantasien einfach auf die Handlungen dieser Menschen projiziert wurden. In allen (außer der DDR) "realsozialistischen" Staaten wurde die Strafbarkeit der homosexuellen Handlung beibehalten oder eingeführt, wenn sie vorher noch nicht bestand, in einigen (z.B. Ungarn) später schrittweise gelockert.

Überall dort, wo keine revolutionären Durchbrüche stattfanden, erfolgte sehr schnell die Restauration konservativer Strukturen. Dies hatte zur Folge, daß das Abschieben der sexuellen Revolution als Nebenwiderspruch zu traditionellen Verhaltenweisen führte, oft trotz geänderter Rahmenbedingungen. So schreibt Wilhelm Reich, der wohlwollend zur Kenntnis nahm, daß in der jungen Sowjetunion Homosexualität anfangs nicht bestraft wurde, weil auch hier die Diskusion über das Thema fehlte:

"Im März 1934 erschien ein Gesetz, das den Geschlechtsverkehr unter Männern verbietet und bestraft, von Kalinin unterzeichnet. Es erschien nach einem Privatbericht als Notverordnung, da Gesetzesänderungen nur vom Sowjetkongreß beschlossen werden könnten. Diesem Gesetz nach wurde der Geschlechtsverkehr unter Männern als `soziales Verbrechen`, das in leichten Fällen mit 3 - 5 Jahren, und im Falle der Abhängigkeit des Partners vom anderen mit 5 - 8 Jahren bestraft wird. So erschien die Homosexualität wieder in der Reihe der anderen sozialen Verbrechen wie Banditismus, Konterrevolution, Sabotage, Spionage ect. Die Homosexuellenverfolgungen standen in bestimmten Zusammenhang mit dem Vorgehen in Deutschland anläßlich der Röhm-Affäre 1932 - 33. Die Sowjetpresse hatte einen Feldzug gegen Homosexualität als eine `Entartungserscheinung der faschistischen Bourgeoisie´ eröffnet. Wie mir berichtet wurde, schrieb der bekannte Sowjetjournalist Kolzow eine Artikelserie, in der er von den `warmen Brüdern des Propagandaministeriums Göppel´ und von den `sexuellen Orgien in den fascistischen Ländern´ sprach. Entscheidend wirkte das Eingreifen Gorkis, der in einem Artikel `Proletarischer Humanismus´ schrieb: `Das Gedächtnis streubt sich dagegen, auch nur jener Abscheulichkeiten zu gedenken, die der Fascismus so üppig erzeugt.´ Gemeint waren Antisemitismus und Homosexualität. Es hieß dann wörtlich: `Während in den Ländern des Fscismus, die Homosexualität, die die Jugend verdirbt, ungestraft agiert, ist sie in dem Lande, wo das Proletariat kühn und mannhaft die Staatsmacht erobert hat, als ein soziales Verbrechen erklärt und streng bestraft. In Deutschland ist schon das geflügelte Wort entstanden: Rottet die Homosexuellen aus und der Fascismus ist verschwunden´ ..." (Wilhelm Reich, Sexualität und Kulturkampf, Koppenhagen 1936, Seite 188)

Dies wurde geschrieben, während die deutsche Regierung Schwule in Konzentrationslager verbrachte und dort durch Arbeit vernichtete. Wilhelm Reich teilte übrigend die Auffassung vieler damaliger Linker, daß Homosexualität verschwinden werde, wenn die individuelle Geschlechterliebe zwischen Mann und Frau nicht mehr behindert würde.

Nicht nur an diesem Beispiel zeigte sich die in sexuellen Fragen unglaubliche Spießigkeit in den "realsozialistischen" Ländern, von China über Rußland bis nach Cuba.

Aber nicht nur die Marxisten-Leninisten haben ein merkwürdiges Verhältnis zur sexuellen Frage und zur Homosexualität erkennen lassen.
Ohne die Sozialdemokraten hätte es die reformerischen Schritte am § 175 StGB nicht gegeben, ohne die SED nicht die Abschaffung des restlichen § 175 StGB in der Bundesrepublik nach dem Anschluß der DDR und der Rechtsangleichung, denn den gab es in der DDR nicht mehr. Die sozialreformerische bürgerliche Linke, die Sozialdemokraten, haben sich immer gegen den § 175 StGB gewandt, in ihrer Politik allerdings oftmals sehr viel Janusköpfiges vorgewiesen. Da gibt es das Aufdecken der Eulenburg-Affäre durch die sozialdemokratische Presse, die damit die Ehrfurcht vor dem Kaiser erschüttern wollten.

Dann die Affäre um den Krupp-Erben, womit man die Kanonenboot-Politik schädigen wollte. Der sozialdemokratische Vorwärts schrieb hintergründig einen Artikel gegen den § 175 StGB, ließ dabei die Homosexualität von Krupp durchblicken, der sich darufhin umbrachte. Die Boote wurden trotzdem gebaut. Immer ging es ihnen auch um den Schutz der Jugend, doch hieß das im Klartext, den angeblichen Schutz der Heterosexualität der Jugendlichen.

Auch das Vorgehen gegen die Nazis, indem die sozialdemokratische Presse einen Liebesbrief des Führers der Nazi-Schläger-Organisation SA, Röhm, an dessen Freund veröffentlichen, schadete nur den Schwulen, nicht aber den Nazis. Es sollten mit dieser Veröffentlichung Eltern gewarnt werden, die Jugend in die SA zu lassen. Hitler erwiderte auf entsprechend Vorwürfe, die SA sei kein Bibelkränzchen. Die schwulenfeindlichen Nazi-Anhänger glaubten, es sei alles gelogen, und die schwulen Nazis fanden es toll, daß der Führer zu seinen Leuten stand.
 
Als es aber Hitler und der hinter ihm stehenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftselite in den Kram paßte, Röhm auszuschalten, nahm er dessen Homosexualität zum Vorwand, ihn zu ermorden und die SA-Führungsriege einzusperren.

Das Bürgertum braucht zum Ablenken der breiten Masse von den Enteignungen der kleinen Leute durch die wirtschaftliche Elite von Zeit zu Zeit Sündenböcke, wozu Minderheiten, die sich nicht wehren können, prädistiniert sind. Juden, Schwule, Ausländer und gelegentlich andere Minderheiten dienen dann dazu.

Wir Lesben und Schwule haben in unserer Geschichte mit der politischen Linken vielfältige Erfahrung gemacht. Einerseits wurden wir in den kapitalistischen Staaten von unterschiedlichen linken Gruppierungen in unseren Widerstandaktivitäten gegen bürgerliches Spießertum und faschistische Schläger- und Mörderbanden unterstützt.
 
Andererseits ist wenig Toleranz und nahezu keine Akzeptanz gegenüber ausgelebter wirklich freier Sexualität (d.h. Sexualität außerhalb gesellschaftlich anerkannter Normenbilder) zu finden. Man könnte somit urteilen, daß man bisweilen die Solidarität linker Gruppen bekommt und auch braucht, um sich vor Schlimmerem zu schützen, daß man aber tunlichst darauf achten soll, niemals in seinem persönlichen Leben auf deren Urteil oder Zuspruch angewiesen oder ihnen sogar ausgeliefert zu sein.

Nun hat die politische Linke die sexuelle Revolution nicht gerade zum Hauptthema. Wenn man nun selbst links ist, bleibt in linken Reihen zumeist ein Doppelleben, indem man sich als schwuler Genosse anständig im bürgerlichen Sinne "nicht anstößig" verhält oder gar seine Homosexualität verbirgt, oder man beschreitet den dornigen Weg, zu versuchen, seine Genossen zu überzeugen, daß die sexuelle Revolution ein Bestandteil der allseitigen Emanzipation des Menschen ist.
 
Wenn man damit aber seinen Genossen lästig fällt, kann das sehr in die Hose gehen. Man wird dann einfach ausgeschlossen, isoliert, verfemt. So zum Beispiel Pier Paolo Pasolini, der aus der italienischen KP ausgeschlossen wurde, als gegen ihn das Gerücht der "Verführung" von Jugendlichen lief. Hier hätte die KP die Lächerlichkeit dieser spießigen Behauptung aufgreifen können. Ab welchem Alter gestehen die Sozialisten oder Kommunisten Jugendlichen zu, über ihre Sexualität selbst entscheiden zu dürfen? Etwa ab dem Alter, in dem sie der Jugend zubilligen, politisch selbst entscheiden zu können?
 
Es kann natürlich sein, daß diese Organisation sich nur vor dem Vorwurf aus Kirche und anderen konservativen bürgerlichen Kräften schützen will, in der KP träfen sich schwule Jugendverführer. Aber die angemessene Reaktion darauf wäre wohl, gegen die verlogenen Spießer vorzugehen und nicht gegen die Genossen. Das würde es allerdings notwendig machen, das sexuelle Thema endlich einmal angemesen zu berücksichtigen. Wir könnten hier noch viele Beispiele aus unserer eigenen Lebensgeschichte anführen.
 
4. Zukunftsperspektiven
Die Schwulen und Lesben sind insofern in unsere Gesellschaft weitgehend integriert, als daß man uns im Moment im allgemeinen keine Schwierigkeiten macht. Im Gegenteil können wir uns in den meisten Bereichen unseres Lebens sogar gesetzlich gegen Diskriminierung und Benachteiligung durch Mitmenschen von rechts oder links wehren.
 
Ein Anti-Diskriminierungsgesetz ist in Vorbereitung und könnte noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, was uns ermöglichen würde, auch gegen allgemeine anti-homosexuelle Hetze vorzugehen, und nicht nur, wenn man persönlich beleidigt wird. Auch unsere Beziehungen können wir zunehmend legitimieren, was für uns in vielen juristischen Bereichen Benachteiligungen abbaut, etwa im Erb- und Steuerrecht usw., wenn auch der Weg, der zur Zeit beschritten wird, weitere emanzipative Entwicklungen in der Gesellschaft verbaut.

Dies alles baut auf eine Situation, in der das Bürgertum sich allgemein liberal gibt. Es gibt aber Anzeichen, daß Minderheitenhetze zunehmend bestimmten konservativen Bürgerlichen politische Erfolge bringt. Das liberale Bürgertum verkriecht sich in solchen Zeiten in das Reich Beethovens oder ähnlich. Die Sozialdemokraten gehen in solchen Situationen gewöhnlich in die Knie, bis sie selbst Opfer dieser Hetze sind.
 
Und auch dann gehen sie bis auf wenige achtenswerte Ausnahmen auf Tauchstation. Erfahrungsgemäß leisten in solchen Zeiten nur links von den Sozialdemokraten stehende Kräfte entschlossenen Widerstand. Rein taktisch gesehen schon müssen wir mit ihnen paktieren, auch wenn sie gerade dann eher grobschlächtig mit unsereren Anliegen umgehen. Deshalb müssen wir schon vorher für unsere Anliegen bei ihnen Durchbrüche erzielen. Sie müssen sich auch jetzt und gerade jetzt um Fragen der sexuellen Befreiung kümmern.

Dort bekommen wir es aber auch mit Fraktionen von Feministinnen zu tun, die das gesllschaftliche Weltbid danach ausrichten, ob irgendwer oder irgendwas von der Biologie männlich oder weiblich ist. Das legt Lesben und Schwule auf Rollenbilder fest, von denen sie sich oft zu emanzipieren versuchen. Da liest man zum Beispiel: die Männer stecken die Frauen mit AIDS an. Man bekommt es zum Beispiel mit den Toleranten zu tun, die sich gut fühlen, wenn sie uns großkotzig in solchen Fragen tolerieren, die das konservative Bürgertum schon vor ihnen akzeptiert hat, aber wehe, man maßt sich an, ihren Umgang mit Sexualität usw. zu hinterfragen.
 
Das geht ihnen dann doch zu weit. Und man bekommt es in der Linken mit solchen Schwulen und Lesben zu tun, die sich nicht trauen, dort offen aufzutreten, und ganz besonders moralisch und spießig gegen uns polemisieren. Wir bekommen es auch mit solchen Linken zu tun, die lieber mit bürgerlichen Lesben und Schwulen paktieren anstatt mit uns linken lesben und Schwulen, weil das angenehmer ist und diese Lesben und Schwulen in ihren Forderungen eher bescheiden sind, vielleicht auch dankbarer. Deshalb ist es wichtig, daß wir selbst emanzipatorische Vorstellungen für innerhalb dieser Gesellschaft und für eine Utopische Zielsetzung als Orientierungsleitbild entwickeln.

Ich bin davon überzeugt, daß nur eine soziale Umgetaltung der ganzen Gesellschaft in der Lage ist, für die Masse der Menschen halbwegs erträgliche Zustände zu garantieren. Der Weg in den immer größeren Abstand zwischen den superreichen Nutznießern der wirtschaftlichen Verhältnisse einerseits und den auf der Strecke bleibenden Outdrops der Gesellschaften andererseits wird zu weiteren Spannungen und Konflikten führen, die dem bürgerlichen Staat immer autoritärere Züge und die bürgerlichen Parteien zu einem immer grobschlächterischen Populismus verleiten wird.
 
Ist die Vorstellung denn Attraktiv, daß einige Wohlhabende Leute in gut gesicherten luxeriösen Wohngebieten leben, während der Rest der Bevälkerung durch nationalistische oder religiöse Praopaganda ruhiggehalten und angeleitet wird und sich gegenseitig quält und so in Schacht hält, wie das in vielen armen Ländern schon der Fall ist und zunehmend hier auch in Ansätzen zu erkennen ist? Der vormarsch faschistoider Fundamentalisten ist eine weltweites Phänomen. Das ist keine menschenwürdige Zukunft, in der sich selbst der amerikanische Präsident nicht mal einen blasen lassen kann, wenn ihm und anderen danach ist.

Aufzulösen ist das ganze durch eine Alternative zu diesen Verhältnissen. Das würde aber bedeuten, daß die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums anders werden muß. Und das kann nur durch die Linke in der Gesellschaft geschehen. Es soll aber keine solche Linke sein, die ihrerseits mit autoritären Zügen uns in unserer Entfaltungsfreiheit plattmacht, wie dies schon vielfach geschehen ist.
 
Bestimmte Grunlagen müssen in der Linken neu diskutiert werden. Dazu müssen wir aber auch fähig sein und uns einsetzen, damit es auch für uns einen Sinn macht, Linke zu sein. Es geht gar nicht anders, als daß wir Linke sind, wenn wir eine menschenwürdige Zukunft haben wollen. Deshalb muß die Linke sich in einigen grundlegenden Fragen ändern. (Joachim Schönert)
 
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