- 52.Lust: Febr/März 99
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- Kuscheln oder Sex?
Geborgenheit und Wärme oder Abenteuer
und Sex-Sensationen? Die beiden Bedürfnisse, scheinbar zusammengehörig
aber doch oft im Widerspruch miteinander im Beziehungsalltag
und im freien Single-Leben.
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- Jede und jeder weiß doch, daß
es unterschiedliche Gefühle sind, die beim Kuscheln und
bei sexuellen geilen Begegnungen entstehen.
Das Kuscheln hat etwas mit Vertraulichkeit zu tun, Wärme-
und Geborgenheitsgefühlen. Aus dem Kuscheln kann Geilheit
wachsen, die wird aber möglicherweise vom Partner als störend
empfunden. Das kann darauf hindeuten, daß der eine Partner
lieber kuscheln möchte anstatt "schon wieder Sex"
zu haben, der andere Partner lieber Sex hätte anstatt "nur
immer kuscheln" zu sollen.
Sexuelle Anziehung erlebt man auch, ohne miteinander vertraut
zu sein, oftmals ohne den/die anderen näher zu kennen. Sexuelle
Lust ist flüchtiger als das kuschelnde Anlehnungsstreben.
Sex ist am erregensten, wenn er sofort stattfindet, wenn die
Gefühle des Begehrens sofort ausgelebt werden können,
wenn das einender und sich selbst Entdecken erregende Steigerungen
verursacht, wenn Neues und Unbekanntes aneinander das kreative
Gefühl der Einmaligkeit vermittelt.
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- In unserer Gesellschaft scheint klar zu sein:
Sexualität gehört in eine Bindung. Bindungslose Sexualität
wird in irgendeiner Form immer negativ gesehen. Und wirklich,
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind so eingerichtet,
daß bindungslose Sexualität möglichst erschwert
wird und daß bindungslose Sexualität oft unter unwürdigen
Rahmenbedingungen hinter der Bindungssexualität mit ihrem
positiv positionierten Rahmen zurücksteht. Und doch findet
sie ständig statt und wird dementsprechend gesellschaftlich
geächtet. Und die Strafe für den Seitensprung mag man
eigentlich nicht zahlen: die Lösung der Bindung:
Diesen einen Menschen möchte man nicht missen, man fühlt
sich mit ihm gut, nur die sexuellen Sensationen haben nachgelassen.
Sie haben nicht generell in mir als Person nachgelassen, aber
sie haben in dieser vertrauten Konstellation nachgelassen.
(Quergedanken in Richtung von Geilheit = Potenz = Manneskraft
sind hier zulässig. Geilheit gilt als männlich, Zärtlichkeit
und Romantik als weiblich. Eine geile Frau gilt unter Frauen
und Männern als unerotisch und unweiblich. Transvestiten
nehmen die Rolle der geilen Frau ein und werden dafür neidvoll
bewundert. Sie dürfen als Männer eigentlich nur in
dieser Rolle ihre Geilheit an Männern demonstrieren, in
einer Frauenrolle. Die Frauenrolle signalisiert: die Geilheit
dieses Mannes ist nicht ernst zu nehmen, wie weibliche Sexualität
nicht ernstgenommen wird.)
Zwei Wege zeigt die Gesellschaft für den Seitensprung auf:
entweder 1. die Beziehung retten und auf freie Sexualitäten
verzichten oder 2. die Sexualitäten erleben und die vertraute
Beziehung beenden.
Das erste Beispiel, den Verzicht, führen immer die an, die
ihre erste Beziehung noch anstreben und das Beziehungsopfer noch
nicht in der Realität kennengelernt haben oder es noch nicht
so oft erlebt haben. Jugendliche, die die Zwänge der Gesellschaft
nicht infrage stellen, sondern ihren Platz durch Anpassung oder
Doppelmoral suchen, kommen auf eine solche Lösungen.
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- Sie sehnen sich nach ihrer Beziehung, die
ihnen wie ein Wunder und nicht wie Alltag erscheint und sind
bereit, dafür Opfer auf sich zu nehmen. Wenn sie noch sehr
jung sind, überdeckt die jugendliche Geilheit eine Zeitlang
den hier diskutierten Vorgang: aus der brisanten geilen Sexualität
wird zunehmend das zärtlich-erotische Spiel, bis das Erotische
an diesem Spiel schrittweise auch noch nachläßt. Dann
verschwindet die Sinnhaftigkeit des Verzichtens, der Partner
(die Partnerin) taugt eben nichts, meinen die Jugendlichen dann.
Ältere, die die Position des Verzichts predigen, sind solche,
die selbst verzichtet haben und dies nun von anderen verlangen.
Das zweite Beispiel kommt auch aus dem jugendlichen Kategorismus,
dem entweder-oder-Denken. Wenn die Sexualität "nicht
stimmt", muß schlußgemacht werden. Erstens ist
es anmaßend zu sagen, die Sexualität würde nicht
stimmen, denn gerade in dieser Form stimmt sie. Sie stimmt, nur
das Eingesperrtwerden verträgt sie nicht. Zweitens kann
nur das so einfach "schlußgemacht" werden, was
nicht in längerer Zeit gewachsen ist und die beteiligten
Personen verändert hat. Also auch hier das Urteil von außen,
entstanden durch begrenzte Wahrnehmung.
Dann, als dritter Weg, die Lösung des Adels: Mätressen,
die im Image negativ besetzt waren, damit sie nicht die Ehe und
die Erbfolge gefährden konnen. Die Prostitution unserer
Tage ist ähnlich zu sehen: die (der) Prostituierte kann
nicht mit der Ehefrau (oder so) konkurrieren, so lange sie/er
nicht gesellschaftlich anerkannt ist; also, der dritte Weg: Ehe
mit sexuellen Ergänzungen.
- Kleiner historischer Ausflug
Als Frauen über die wirtschaftliche Macht verfügten,
im Zeitalter des Matriarchats, konnte die Besitzerin der Produktionsmittel
die brünstigen Männer, die ihre wirtschaftliche Macht
vergrößerten, mit körperliche Freuden belohnen.
Die Frau war die Besitzerin der Ackerfurche und somit der Erträge.
Männer haben sie umschwärmt, wie Motten das Licht.
Sie war das Wesen in der Mitte, das seinen Reichtum an die Tochter
weitergibt.
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- Wenn es ihr um Macht ging, waren andere starke
Frauen ihre Konkurrentinnen, es war, so läßt sich
denken, auch männliche Homosexualität eine Gefahr,
besonders die zwischen Männer und Jünglingen, weil
die Jünglinge dann nicht unbedingt große Anstrengungen
verrichten wollten, um die Gunst der hohen Frau zu erringen.
Ein Mann, der sich von Jünglingen besuchen läßt,
war also auch eine Konkurrenz.
Die erwachsenen Männer in dieser Zeit wurden auf die Jagd
geschickt. Die Jagd war vom Jagdglück abhängig, die
Männer brachtetn sozusagen nur ein Zubrot mit, waren von
den Erträgen des Ackers abhängig und somit von der
Besitzerin der Ackerfurche.
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- Die matriarchalische Gesellschaft wurde abgelöst
durch Männergruppen, die sich durch die Zucht von jagdbaren
Tieren von den Zufällen des Jagdglückes befreit hatten
und mit ihren Jagdwaffen nun schwächere Frauenstaaten eroberten,
Frauen zu ihren Sklavinnen machten, sich so auch noch die Ackerprodukte
beschafften. Eine Zeitlang existierten matriarchalische und patriarchalische
Sklavenhaltergesellschaften nebeneinander, bis sich dann (vorerst?)
die patriarchalischen Gesellschaften durchsetzten.
Bei der patriarchalischen Ehe ist die Frau immer noch in der
Mitte von Haus und Hof, der Mann ist aber sowohl ihr Besitzer
als auch der Besitzer von Haus und Hof. Will er seinen Reichtum
an seinen ältesten Sohn vererben, muß er sicherstellen,
daß sein Besitz, seine Frau nämlich, sich nicht mit
einem anderen Mann einläßt, damit sein Sohn auch wirklich
von ihm ist. Die Frau muß also um die Verfügung über
ihre eigene Sexualität gebracht werden, über die nun
alleine der Ehemann verfügt.
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- Das kann bis hin zu Klitorisbeschneidungen
gehen, sozusagen als Schloß vor dem Besitz. Ideologisch
wurde die hingebungsvolle Liebe der Ehefrau für Mann und
Kinder zur Fessel der Frau, während der Mann seiner Abenteuerlust
weiterhin außerhalb der Ehe nachging, oft sogar von der
Frau geduldet, die den unfreien Vollzug der lieblos gewordenen
"ehelichen Pflichten" mehr erdulden mußte statt
sie lustvoll mitgestalten zu können. Auch die Migräne
war eine Flucht aus den Pflichten.
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- Die Ehe heute
Viele Frauen haben sich zunehmend mit ihrer Lage als Ehefrau
arangiert und dort auch ihre Interessen untergebracht. Sie suchen
nicht nach neuen Sensationen, sondern verlangen nun von ihren
Besitzern, (sofern sie sich das Recht dazu erstritten haben)
auch auf sexuelle Sensationen zu verzichten, ihre sexuellen Beutesuche
einzustellen. Eifersucht ist ihnen wie der mehr oder weniger
freiwillige Verzicht: ein Beweis der Liebe.
Sie unterdrücken also zurück, anstatt sich zu befreien.
Statt der rauschenden lustvollen Sexualität nach den Jagdausflügen
der Männer, ersehnen sie die zärtlichen liebevollen
Zuwendungen von ihrem Mann. Direkte sexuelle Geilheit des Mannes
wird zu etwas, dessen er sich zu schämen hat, wenn sie nicht
zumindest in die große Sentimentalität und Zärtlichkeit
eingebunden und durch die große Liebe geadelt ist.
Zur Rolle der in patriarchalischen Mustern emanzipierten Frau
unserer Tage gehört, die Moralinstanz in der Familie und
in der Gesellschaft zu sein. Und diese Macht über die Sexualität
der Männer zu haben, entschädigt sie für die eigene
Unterdrückung.
- Bei den Sexumfragen, die wir durchgeführt
haben, gehört zu den gewünschten sexuellen Techniken
von jungen Frauen im wesentlichen die Zärtlichkeit, das
Kuscheln.
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- Und Männer wissen, wie sie Frauen gefallen:
indem sie vorgeben, kein sexuelles Abenteuer zu suchen, sondern
die zärtliche, die erotische wahre und tiefe Freundschaft.
Männer, die alleine den Fragebogen ausfüllen, beschreiben
ihre Geilheit und sehen es so, daß ihre jeweiligen Partnerinnen
genauso geil seien. Wenn sie die Bögen zusammen mit den
Partnerinnen ausfüllen, dann sind auch die Männer nicht
so sehr geil, sondern wollen mehr kuscheln. Lesben beschreiben
Deftigeres, Bi-Frauen und Bi-Männer scheinen mit am sexliebensten
zu sein.
Junge Männer, die noch nie einen Sexkontakt mit einer Frau
oder einen Mann hatten, sind allzugerne bereit, gegenüber
Frauen anzudeuten, daß es ihnen um wahre Liebe und Zärtlichkeit
gehe. Das ändert sich im Bett dann besonders schnell, wenn
der Abgang noch während der ersten zaghaften Vorspielansätze
in der Hose landet.
Besonders junge Frauen oder mütterliche Beschützerinnen
glauben, daß die direkte ausgelebte Lust zwischen jungen
Männern und ihren älteren Freunden die jungen überfordert,
nur der Lust der älteren diene, sogar mit Vergewaltigung
oder sexuellen Mißbrauch von Kindern gleichzusetzen sei.
Denn eigentlich wollen sie ja nur mit ihnen kuscheln, meinen
sie. Sie sollten mal hören, was in heterosexuellen Männerrunden
darüber geredet wird, wenn sie nicht dabei sind.
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- Während sich schwule Männer einfach
gegenseitig die Hosen aufknöpfen und schon das Ziel ihrer
Träume in ihren Händen halten, mußten heterosexuelle
Männer lernen, daß es ein sexuelles Vorspiel gibt.
Meist ist der Mann dann schon so weit, daß er eigentlich
sofort loslegen möchte. Das kuscheln-Müssen wird ihm
dann zur Plage. Männer und Frauen passen im Bett einfach
nicht zueinander.
- Um nicht mißverstanden zu werden: ich
spreche mich hier gar nicht gegen das Kuscheln aus, das ich auch
immer wieder gerne praktiziere und sowohl aktiv als auch passiv
genieße.
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- Wenn es aber beim Kuscheln bleibt, obwohl
mich die nun männliche Nähe zunehmend scharf macht,
bekommt Kuscheln den Stellenwert des "anstatt". Und
tatsächlich, im mannmännlichen Bereich sind die Kuschelszenen
meistens dann doch wieder Vorstufen für sexuelle Entladungen,
oder sie bahnen sie an, und bei einem Abbruch des Kuschelns ohne
Sex bleibt ein Frustgefühl. Warum auf eine sexuelle Entladung
Verzichten? Das Kuscheln danach ist auch ganz schön.
Aber viele zwangskuschelgeschädigte Männer machen das
Kuscheln nur mit, bis sie entspannt sind. Dann können sie
sich endlich aus der nun unerträglichen Lage lösen.
Was drückte, ist zum Abschluß gekommen. Zumindest
vorläufig.
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- Lösungswege
In der Zeit, in der ich keine sogenannte "feste Beziehung"
hatte, war es oft so, daß mich meine inneren Sexualwünsche
auch in Situationen getrieben haben, die ich dann später
für nicht so erfüllend einordnete und im Nachhinein
oftmals auch nicht mehr verstand. Genauer: hinterher habe ich
oft nicht verstanden, warum ich mich vorher darauf eingelassen
hatte. Hinterher denkt man eben "entspannter" darüber
als vorher. Aber kein Erlebnis war im eigentlichen schlecht,
aus allen habe ich gelernt und seien es nur mehr oder weniger
geglückte oder interessante Erfahrungen gewesen. Sie haben
mich geprägt; ein bißchen Experimentierfreudigkeit
kann nichts schaden, eröffnet mir schneller meine bisher
vielleicht noch verborgenen Neigungen.
Nur von solchen Abenteuern zu leben, läßt zu oft eine
große Leere und unerfüllbare Sehnsüchte zurück.
Häufiger ging ich alleine nach Hause, mein sexueller Hunger
war zu selten gestillt.
Das ist eine Lebensphase, die jeder Jugendliche und junge Mann
eine Zeitlang erlebt, genießt, aber nicht auf Dauer aushält.
Während dieser Zeit hat er einen riesigen Männerverschleiß.
Jeder Mann ein Erlebnis; jedes Erlebnis ein Mann. Das zweite
Erlebnis verblaßt schon hinter den Erwartungen, weil man
sensationelle Gefühle nicht wiederholen kann.
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- Das Verhältnis zwischen der Anzahl der
Männer und der Anzahl der sexuellen Handlungen verlagert
sich erst langsam in Richtung der Handlungen. Lust und Sensationen
aber auch Enttäuschungen durch nicht-kombatible Sexualtechniken,
gegenseitige Unverbindlichkeit und Notlösungen gehören
zu den Erfahrungen dieser Zeit. Wer hier mal wieder danebengegriffen
hat, sehnt sich nach dem Traumprinzen, der immer den richtigen
Griff hat. Und Träume brauchen sich nicht im Alltag zu bewähren.
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- Ich selbst bin ein Beziehungsmensch, kann
nicht ohne Beziehung leben, lebe auch nicht ohne Beziehung. Andererseits
hat eine langjährige Beziehung später nur noch sehr
selten wirklich große sexuelle Höhepunkte. Muß
man deshalb auf sie verzichten? Warum soll ich mich nicht auch
immer mal unter solche Männer begeben, die den großen
Verschleiß haben?
Die Lösung: die Beziehung bietet das Gemeinsamkeitsgefühl
und die Vertrautheit, die (für mich) lebensnotwendig aber
eben das Gegenteil von neuen Abenteuern ist. Und die jungen Männer
mit dem großen Männerverschleiß, die das traurige
Gefühl hinterlassen, wenn man mit ihnen eine Beziehung suchte,
die bringen so manches exotisches Gewürz auf den kuscheligen
Familientisch. So läßt sichs dann leben. (Joachim
Schönert)
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