- 52.Lust: Febr/März 99
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- Politik und sexuelle Befreiung
Lange haben die Schwulengruppen gegen
den staatlichen Eingriff in das Privatleben gekämpft, bis
1969 gab es noch das Totalverbot für männliche Homosexualität.
Können wir dem Staat und der Gesellschaft nun trauen?
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- 1. Der Staat und die Betten
1.1. Die Bevölkerung und der Staat
1.2. Lesben und Schwule und der Staat
1.3. Lesben und Schwule und die Bevölkerung
2. Lesben- und Schwulenpolitik
2.1. Lesben- und Schwulenpolitik gegnüber dem Staat
2.2. Lesben- und Schwulenpolitik gegenüber der Bevölkerung
3. Langfristige Strategien
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- 1. Der Staat und die Betten
Der Staat sieht seine Aufgabe auch darin, seinen Untertanen in
die Betten zu schauen, also, wie es in einem Gassenhauer, einem
Spottlied der 20er Jahre doppeldeutig heißt:
"Die Polizei, die regelt den Verkehr; so wie es früher
war so geht es jetzt nicht mehr. Gehst du übern Damm, stehst
du erst mal stramm, (...) Die kleinen Mädchen, ja die freuen
sich, an jeder Straßenecke ist ein Strich. Mensch, da mußt
du langgehn, so wie es sich gehört, daß keiner mehr
bei dem Verkehr verkehrt verkehrt."
Worin liegt eigentlich das Interessse des Staates, das Geschlechtsleben
regeln zu wollen? Ist es der Schutz der Bürgerin und des
Bürgers vor Übergriffen? Ist es der Schutz staatlicher
Institutionen (z.B. Ehe) vor selbstbestimmter Sexualität,
der Ehe vor anderen Lebensformen? Ist es der Schutz der (Doppel)Moral
vor freizügigem Umgang mit Sex?
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- 1.1. Die Bevölkerung und der Staat
Die Bevölkerung glaubt in der Regel, daß die Gesetze
zu ihrem Schutz existieren. So wurde auch der § 175 StGB
begründet und der Sinn eines solchen Gesetzes geglaubt.
Er wurde damit begründet, daß junge Menschen von Schwulen
zur Homosexualität verführt werden könnten. Niemand
verurteilte aber, daß die Medien ständig die Menschen
zur Heterosexualität oder zur Prüderie verführen.
(Trotzdem gab es Menschen, die lustvoll sowie auch lebisch und
schwul wurden.)
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- Die Sexualwisenschaftler konnten schrittweise
belegen, daß die Prägung zur homosexuellen Identität
schon lange vor dem Jugendalter abgeschlossen sei, und daß
man nur jemanden zu etwas verführen könne, zu dem die
Disposition längst vorhanden sei. Aufgrund der "Gefahr"
für die heterosexuelle Identität, die Familie und die
Moral verhängte man ein Totalverbot für männliche
Homosexualität, was seinen Höhepunkt in den Konzentrationslagern
des deutschen Nazi-Staates fand, was von großen Teilen
der Bevölkerung, der Gesellschaft also, für gut befunden
wurde.
Es gibt die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte,
die Nutzen aus der Kontrolle der Betten ziehen und deshalb moralische
Strömungen steuern. Kirchen, konservative politische Verbände,
die Sündenböcke zur Tarnung Ihrer Politik brauchen.
Sie nehmen immer wieder Einfluß auf die Gesetzgebung einerseits
und Stimmungen in der Bevölkerung andererseits.
Wir müßten, um mit unserer Bewegung die Lebensbedingungen
von Lesben und Schwulen in der Gesellschaft wirklich auf Dauer
abzusichern, es permanent mit ihnen aufnehmen. Wir müßten
ständig auf dem Sprung sein und immer wieder, wenn das sexuelle
Selbstbestimmungsrecht unter den unterschiedlichsten und raffiniertesten
Begründungen eingeschränkt werden soll, dagegen angehen.
Der Staat ist in seinen Handlungen das, was einflußreiche
Organisationen und Personen durchsetzen. Sie schließen
sich zu solchen Interessenverbänden zusammen, die sich Einfluß
in der Parteienlandschaft und der Wirtschaft verschaffen können.
Staatliche Handlungen entstehen auch aus der Eigendynamik staatlicher
Institutionen, der Behörden.
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- 1.1.1. Was ist "Staatsgebiet?"
Ein Teil der Erdoberfläche, das von einer gemeinsamen Verwaltung
verwaltet wird.
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- 1.1.2. Was sind "Staatsangehörige"?
Menschen, die nach den dort jeweils gültigen Gesetzen die
Statsbürgerschaft haben (die Reglungen können besagen,
daß jeder, der auf dem Staatsgebiet geboren ist, die Staatsangehörigkeit
hat, jeder der einer bestimmten Religion angehört, oder
jeder, der eine bestimmte Haut-, Haar-, Augenfarbe hat oder eine
bestimmte Sprache als Muttersprache hat usw.)
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- 1.1.3. Was ist der "Staat"?
Das ist der Verwaltungsapparat über einen bestimmten Teil
der Erdoberfläche, z.B. die Beamten.
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- 1.1.4 Was ist die "Regierung"?
Das ist die Führung des Staates. Sie kann nur mit Hilfe
des Staatsapparates regieren. Wenn der Staat die Anweisungen
der Regierung nicht befolgt, ist sie machtlos. Regierungen können
durch Ernennungen, Wahlen, Staatssteiche und Revolutionen an
die Macht kommen. Bei Staatsstreichen bleibt der Verwaltungsapparat
der gleiche, bei Revolutionen wird der ganze oder ein Teil des
Staatsapparates ausgetauscht.
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- 1.1.5 Was ist "Nationalität"?
Das Wort Nation beinhaltet das lateinische Wort "Natus",
geboren. Der Begriff wird unterschiedlich benutzt. In verschiedenen
Staaten wir der Begriff zur Kennzeichnung der Staatsangehörigkeit
benutzt. In anderen Gebieten wird er zur Kennzeichnung gemeinsamer
kultureller Eigenschaften benutzt. So war im rumänischen
Paß zu lesen: Nation - Rumänien, Nationalität
- deutsch. Der rumänische Staatsangehörige gehört
also der deutschsprachigen Minderheit an.
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- 1.1.6. Wechselspiel zwischen Gesellschaft
und Staat
Nationalität - lesbisch oder schwul? Die Gay-Nation? Natürlich
nicht. Uns verbindet untereinander nichts als der Wunsch, mit
Menschen deds gleichen Geschlechts sexuell zu verkehren. Schon
beim "wie" scheiden sich die Geister. Gemeinsam mit
nationalen Minderheiten ist bei uns das Erleben der Ausgrenzung.
Und das Umghehen damit unterscheidet uns wieder.
Viele glauben, sie könnten sich der gesellschaftlichen Ausgrenzung
durch Einhaltung der gesellschaftlichen Normen entziehen. Dieser
Irrtum zeigt sich immer dann, wenn Sündenböcke gebraucht
werden. Dann kommen die Entscheidungsfragen, mit wem man sich
solidarisiert: mit den anständigen BürgerInnen oder
mit den unmoralischen Lesben und Schwulen. Gut, in Sachen Moral
sind die Lesben nicht ganz so sehr verrufen wie die Schwulen.
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- Dann werden die lesbischen Lesbengegnerinnen
und schwulen Schwulenfeinde noch eine Zeitlang als DenuntiantInnen
gebraucht und später selbst von dem eingeholt, wobei sie
mitgeholfen haben. Das Denuntiantentum hat den jüdischen
Nazi-MitläuferInnen bei den Nazis nämlich das Überleben
nicht gesichert. Ein Dunkelhäutiger würde von Rassisten
umgebracht werden, selbst wenn er in Bayerischer Folklore-Tracht
rumlaufen würde.
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- Lesben und Schwule unterscheiden sich als
Minderheit von den nationalen Minderheiten dadurch, daß
diese in irgendeiner Form eine kulturelle Gemeinsamkeit zelebrieren,
die in aller Ausgeschlossenheit doch eine identitätsstiftende
"Heimat" bietet. Die bgroße Angst von Lesben
und Schwulen mit unvollendetem Coming-out ist, die bisherige
bürgerliche Heimat zu verlieren und nichts stattdessen zu
haben, denn unsere Szene bietet kaum geminsame Heimatgefühle.
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- 1.2. Lesben und Schwule und der Staat
Staaten handeln durch ihre Organe, manchmal, weil es Gesetze
dafür gibt, manchmal, weil die Organe längst ein Eigenleben
haben.
Lesben werden und wurden ignoriert, weiblicher Sex ohne Beteiligung
einesSchwanzes ist und war aus heterosexueller Macho-Sicht nicht
ernst zu nehmen, und außerdem entstehen dabei ja keine
Kinder.
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- Ein zärtlicher Kuß zwischen zwei
Frauen gilt als normal, zwischen zwei Männern wir er als
"unmämmlich" angesehen. Kaum jemand weiß,
daß in Österreich nicht nur Schwule, sondern auch
Lesben vom Staat verfolgt wurden. Die Zeit, in der Österreich
an das Deutsche (Nazi-)Reich angeschlossen war, wurden die österreichischen
Lesben vorübergehend nicht staatlich verfolgt, da man im
deutschen Nazi-Staat weibliche Homosexualität nicht für
Verfolgungswürdig hielt, währen männliche Homosexuelle,
mit einem rosa Winkel gekennzeichnet, im KZ umkamen.
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- Das soll aber nicht bedeuten, daß es
den Lesben in dieser Zeit besonders gut gegangen ist. Frauen,
die sich ihrer angeblichen Berufung als Hausfrau und Mutter entzogen,
konnten als Assoziale, gekennzeichnet mit einem schwarzen Winkel,
in ein Konzentrationslager gelangen.
Für Schwule ist und war es immer dann ganz verheerend, wenn
der Staat in die Betten der Bürger sah oder sieht, denn
der Staat verbot ja in Deutschland bis 1969 generell männliche
homosexuelle Handlungen. Sie wurden als "widernatürlich"
angesehen. Und je genauer er in die Betten sah und sieht, um
so schlimmer war die sexuelle Lage der Schwulen und in Folge
auch die persönlich Lage. Je mehr der Staat kontrollierend
ins Geschlechtsleben eingreift, um so kleiner ist unser Spielraum.
Je weniger er sich darum kümmert, um so mehr Möglichkeiten
der Entfaltung haben wir formal. Aber können wir uns auch
entfalten?
Ob wir uns so entfalten können, wie es uns gemäß
wäre, ist auch abhängig davon, ob ein Sexualitätsbejahendes
gesellschaftspolitisches Klima vorherrscht, oder ob der einzelne
Mensch generell von Tabus und Grenzen umgeben ist. Nicht nur
die heterosexuellen Nachbarn wenden ihre Vorbehalte und Tabus
gegen uns an, sondern Leute aus der eigenen Szene, die auch den
aktuellen Zeitgeistströmungen unterlegen sind oder aus ihnen
Nutzen ziehen wollen. In solchen Fragen folgen nämlich die
ganzen nützlichen Idioten der Moral den gesellschaftlichen
Strömungen und dem Staat.
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- Sie meinen, sie nehmen an einer wichtigen
Sache teil, und in ihrer moralischen Verurteilung anderer Lesben
und Schwuler unterscheiden sie sich nur in der Gewalttätigkeit
von heterosexuellen Saubermännern, wenn diese zum Beispiel
homosexuelle Männer in Parks auflauern. Das ähnelt
auch den homosexuellen Parkverächtern, die dann dort lediglich
ihren Hund spazieren führen. Viele glauben oftmals ehrlich,
etwas Sinnvolles zu tun, wie auch Soldaten an das glauben, was
man ihnen über die unmenschlichen Feinde erzählt, während
man sie in einen Krieg hetzt.
Das Sexualitätsfeindliche der Gesellschaft, die dafür
viele Ersatzbefriedigungen anbietet, zeigt sich auch darin, daß
es auch heute noch viele Lesben und Schwule gibt, die ihr Coming-out
nie ganz abschließen: nämlich bis zu dem Punkt, an
dem sie sich für ihre eigene homosexuelle Sexualität
nicht mehr vor sich selbst und anderen schämen. Es ist erstaunlich,
wie viele Lesben und Schwule schon seit Jahren wisen, daß
sie Lesben oder Schwule sind, aber nicht dazu kommen, es endlich
anzugehen. Hier vermischen sich die Vorstellungen von den schlimmen
unmoralischen sexuellen Handlungen mit der Angst, eine Grenze
zu überschreiten, hinter der es kein Zurück mehr in
die Welt der "anständigen Menschen" gibt.
Der Staat tuts nun bei uns Schwulen momentan nicht mehr so sehr.
Wir könnten also zufrieden sein. Es lohnt sich aber, genauer
hinzuschauen, was der Staat erlaubt, was er ächtet und was
er verbietet. Unsere Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung
ist nicht gegeben, wenn dafür gesorgt wird, daß aus
der Sexualität der Menschen oftmals sexuelle Not wird und
mit der sexuellen Not der Menschen möglichst gute Geschäfte
gemacht werden können.
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- Es ist keine Freiheit, wenn man erlaubt,
mit uns Geschäfte zu machen und uns dann, wenn wir zahlen
können, etwas von einem freieren Leben zubilligt. Und wenn
dann solche sexuellen Versionen beworben werden können,
mit denen sich Geschäfte machen lassen, während weniger
gewinnträchtige sexuelle Lüste eher weiterhin erschwert
werden, und wenn das nicht ausreicht, sie vielleicht auch verfolgt
werden, dann erkennen wir, daß wir auf dem sehr dünnen
Eis der gesellschaftlichen Toleranz nur ganz wenig Spielraum
haben.
Eine sexuelle Befreiung ist es auch nicht, wenn wir am Wochenende
in die Disco rausgelassen werden, wo die Hürden aus Mode-
und Jugendkult des gegenseitigen Begegnens im wesentlichen doch
sehr hoch sind, oder wenn für uns ein Bißchen Freiheit
dadurch rausschaut, daß wir bestimmte Telefonnummern anrufen
dürfen.
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- Dadurch sind noch keine Menschen zusammengekommen
und dadurch haben Menschen noch nicht gelernt, zusammen zu sein,
ohne sich gegenseitig zu bevormunden. Natürchlich ist es
für bestimmte Geschäfte gut, wenn die Menschen nicht
zusammekommen und wenn die Barrieren zwischen ihnen so hoch wie
möglich sind, höher noch als die Telefonrechnungen,
die zur Zeit übrigens ohnehin billiger werden.
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- 1.3. Lesben und Schwule und die Bevölkerung
Machen wir uns nichts vor. Beliebt sind wir nicht. Weder der
Staat noch die Bevölkerung kann wirklich mit uns etwas anfangen.
Nur die Lüge, daß schwule Männer und lesbische
Frauen über viel Geld verfügen, signalisiert vielleicht
etwas Stärke, was auch wieder in Form von Neid- und Verschwörungskampagnen
gegen uns gerichtet werden kann. Auf den Schutz durch eine Gesetzgebung
zu unseren Gunsten können wir nicht verzichten. Uns wird
immer noch so ziemlich alles zugetraut.
Im Moment hat die Beschäftigung mit erzwungener oder ernötigter
Sexualität auffallend intensive Konjungtur, während
das Bekämpfen der Behinderung der eigenen sexuellen Entfaltung
ganz aus den Augen verloren wurde. Sind wir alle so sehr befreit?
Es gehört ja zu den üblichen Tricks, gegen widerliche
extreme Verbrechen Menschen zu mobilisieren und dann diese Verbrechen
mit freien nichtnormgerechten Verhaltensweisen in einen Topf
zu werfen. Es wird zum Beispiel versucht, einvernehmliche sexuelle
Begegnungen oder erotische Freundschaften zwischen Jugendlichen
und Erwachsenen mit den Verbrechen der sexuellen Ausbeutung von
Kindern in Verbindung zu bringen.
Dabei ist das Bekämpfen zum Beispiel der sexuellen Ausbeutung
von Kindern (aber natürlich auch von Erwachsenen, übehaupt
das Bekämpfen der Ausbeutung von Menschen) das Bekämpfen
der Kindermorde z.B. in Belgien und das für die sexuelle
Befreinung der Menschen einzutreten, gar kein Gegensatz, wie
konservative Leute und Medien uns Glauben machen wollen, sondern
beide Bestrebungen dienen eigentlich dem Recht auf persönliche
Entfaltung und dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht.
(Dabei bleibt festezuhalten, daß das Gerücht, durch
diesen Mann da wird jemand zur Sexualität genötigt,
erfolgreicher zum eigenen Nutzen verbreitet werden kann als das
Gerücht, dieser andere Mann da versucht durch üble
Nachrede oder Verdrehungen das freie Ausleben der Homosexualität
zu behindern.)
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- 2. Lesben- und Schwulenpolitik
Schwule, manchmal Lesben und Schwule, haben es mit unterschiedlichen
GegnerInnen zu tun. Hinter so manchen Anfeindungen auf politischer,
gesellschaftlicher und persönlicher Ebene, bei denen uns
Intoleranz oder Ähnliches vorgeworfen wird, steckt auch
Homosexualitätsfeindlichkeit, oftmals auch Lesben- und Schwulenfeindlichkeit.
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- Gefährlich ist die Homosexualitätsfeindlichkeit,
die hinter Sprüchen versteckt ist, die Toleranz gegenüber
Lesben und Schwulen erkennen lassen. Lesben und Schwule sind
selbst nicht frei von Lesben- und Schwulenfeindlichkeit, auch
besonders nicht frei von Homosexualitätsfeindlichkeit. Der
Grund: auch wir sind der gleichen Propaganda ausgeliefert wie
andere Menschen, auch wir sind Kinder der gleichen Gesellschaft.
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- 2.1. Lesben- und Schwulenpolitik gegenüber
dem Staat
In manchen Fällen ist es eine heilige Allianz zwischen Kirchenleuten,
rechten Politikern und angepaßten Schwulen bis hin zu Feministinnen
und linken oppositionellen PolitikerInnen, die ihre Moralauffassung
zum Maßstab der Verurteilung unseres Lebens machen wollen.
Da entstehen manchmal Koalitionen, die niemand für möglich
halten würde.
Um versteckte Homsexualitätsfeindlichkeit bekämpfen
zu können, muß offene und versteckte Sexalitätsfeindlichkeit
bekämpft werden. Das Recht, so lieben und leben zu dürfen,
wie man es gerne möchte, erreicht man nicht, indem man Verbeugungen
vor moralischen oder antisexuellen Personen, Gruppen und deren
Argumenten vornimmt. Sexuelle Befreiung bedeutet: Ich alleine
entscheide, wann und mit welchem Menschen ich welche sexuelle
Erbenisse habe und die anderen Menschen, meine Partner, entscheiden
dies auch selbst in Hinblick auf mich.
Von diesem Recht des mündigen Menschen auf den eigenen Körper
darf man sich unter keinen Umständen unter irgendwelchen
Vorwänden abbringen lassen. Dort treffen wir uns mit den
Frauen, die ein Recht auf Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft
einklagen: mein Bauch gehört mir. Ließen wir uns,
die politisch aktiven Lesben und Schwulen, davon abbringen, dann
könnten wir vielleicht noch Parties organisieren, die politischen
Interessen der sexuellen Befreiung und damit der homosexuellen
Befreiung könnten wir dann nicht mehr vertreten. Wir müßten
beim Party-Organisieren im Gegenteil darauf achten, daß
sich niemand "anstößig" verhält, damit
man immer wieder Parties durchführen kann. Wir müßten
selbst die Zensur der Moralisten anwenden, oftmals auch gegen
uns selber.
So kann diese grundlegende Richtschnur in den einzelnen Politikfeldern
nur bedeuten, daß wir die politische Forderung erheben
müssen, daß der Staat sich neutral verhält, wenn
über Liebes- und Lebensformen die Rede ist und er nicht
zugunsten einer Lebensform die anderern gesetzlich benachteiligt.
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- Es geht also nicht darum, daß wir uns
an die Ehenorm anpassen müssen, um in Beziehung leben zu
können. Dies bedeutet auch, daß wir z.B. auch dafür
eintreten müssen, daß Staat und Kirche zwei deutlich
getrennte Institutionen sind, denn das, was manche Kirchen und
Religionen für Moral halten und von ihren Mitgliedern verlangen,
hat der Staat noch lange nicht gegen die Bevölkerung anzuwenden.
Und das bedeutet natürlich auch, daß die Staatsbürger
sich mit ihren jeweiligen Moralauffassungen nicht gegenseitig
zu bevormunden haben.
Der Staat ist letztlich nur ein Apparat, ein Handwerkzeug der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machteliten und kann
tatsächlich gegen sogenannte Sündenböcke immer
wieder funktionalisiert werden.
Damit er auch uns und nicht nur den anderen nutzen bringen kann,
muß die Neigung, sich ständig in die persönlichen
Angelegenheiten anderer mischen zu wollen, sie zu bewerten und
zu kommentieren, in der Gesellschaft allseitig bekämpft
werden. Gerade der herabwürdigende Tratsch über andere
ist ja einer der moralisierenden, zensierenden und steuernden
Wegweiser. Hier werden Menschen verantwortungslos lustvoll gerichtet
und hingerichtet, die dabei kein Anrecht auf einen Anwalt oder
irgendeine Verteidigung erhalten. Moralische RichterInnen sind
immer auch selbstgerecht.
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- Im Tratsch toben sich Doppelmoralisten aus
und ihre Opfer sind immer die, die für freiere Formen der
Sexualität eintreten. Das kann so weit gehen, daß
einzelne Menschen in die Verzweiflung getrieben werden oder daß
die angeblichen Missetaten derart aufgebauscht werden, bis dann
Staatsorgane wirksam werden und sogenannte bürgerliche Existenzen
gefährdet werden (Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung).
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- 2.2. Lesben- und Schwulenpolitik gegenüber
Trends in der Bevölkerung
"Diese Frau da sieht eigentlich so nett aus, daß sie
sicherlich viele Männer haben könnte. Sie grüßt
freundlich und ist immer nett angezogen. Daß sie aber eine
so junge Freundin hat, mit der sie Mundverkehr ausüben soll,
grenzt schon an sexuellen Mißbrauch."
"Diese Frau ist ganz patent,repariert Autos und stellt sich
dem Leben wie ein Mann, aber daß sie eine andere Frau unter
ihrer Kontrolle hält, grenzt schon an Unterdrückung
und Freiheitsberaubung."
"Der nette Schwule von nebenan ist mir angenehm. Er grüßt
immer so nett und hilft mir immer mal. Daß der sich aber
von einem 20 Jahren jüngeren Jugendlichen bumsen läßt,
ist nicht in Ordnung, obwohl der Jugendliche dies offensichtlich
will und es dagegen kein Gesetz mehr gibt. Der Jugendliche kann
ja noch gar nicht wissen, was er will. Und der Mann sollte sich
schämen und seine Verfehlungen einsehen."
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- Solche "Missetaten" werden erfolgreich
dramatisiert und gerne weitererzählt und geglaubt, weil
sie in gängige Normen und Vorurteile passen. Die Vorwurferheber
von außen können selbst an den Jugendlichen interessiert
sein oder Vorurteile gegen Ältere haben, eifersüchtig
sein oder Ähnliches. Sie werden sowohl in der Hetero-Szene
wie auch in der lesbischen, der feministischen, der schwulen
Szene alle Sympatien für ihre "ehrliche Besorgnis"
haben.
Wenn sich ein Jugendlicher, eine Jugendliche, selbst beschweren
würde, könnte man vielleicht über einen solchen
Fall nachdenken. Ansonsten müßte man sich wohl mit
dem oder der befassen, der oder die solche Sprüche klopft.
Bei Schwulenfeindlichkeit oder auch Lesbenfeindlichkeit, ganz
besonders bei Homosexualitätsfeindschaft geht es im Kern
um die individuelle sexuelle Freiheit. Für homosexuelle
Handlungen gibt es keinen anderen Grund als den der Lusterfüllung
der Beteiligten. Wem zugestanden wird, einer Arbeit nachzugehen,,
zur Wahl oder zum Militär zu gehen, dem müßte
auch zugestanden werden, entscheiden zu können, mit wem
er was erleben möchte. Ab welchem Alter gestehen wir einem
Menschen zu, daß er entscheiden darf, mit wem er sexuell
verkehrt? Das ist auch eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang,
denn oft verbergen sich hinter dem BeschützerInnenverhalten
eigene unterschiedliche Interessen.
Aber die Frage, ab welchem Alter man dem Jugendlichen erlaubt,
seine ersten PartnerInnen selbst zu wählen, ist in unserem
Land nun vom Gesetzgeber weitgehend zufriednestellend geklärt
und muß nur von der Bevölkerung noch nachvollzogen
werden, damit nicht immer Jugendliche bis zum 50. Lebensjahr
noch als unmündige Wesen dargestellt werden, die nicht wissen
können, was ihnen gefällt.
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- 3. Langfristige Strategien
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, daß
wir am Ziel sind, wenn wir die "Gleichstellung" erreicht
haben. Erstens werden wir immer mißtrauischer angesehen
als die anderen Teile der Bevölkerung, sogar von Menschen
der eigenen Szene. Zweitens sind die heterosexuellen Menschen
in ihren sexuellen Entscheidungen auch nicht so sehr frei. Auch
sie leiden an Zwängen, Normen, Doppelmoral usw.
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- Auch ein heterosexueller Jugendlicher weiß
anfänglich nicht, wie er seine Sexualität ausleben
soll, ohne sofort in eine Ehe oder eheähnliche Struktur
eingefangen zu werden. Auch er wird derzeit häufiger mit
den entsprechenden Telefonnummern sexuell verkehren als mit anderen
Menschen. Da hilft die Gleichstellung der Lesben und Schwulen
mit den Heteros gar nicht so viel weiter.
Wir haben es also mit einer Strategie zu tun, die über die
Grenzen des lesbischen und schwulen Lebens hinausreichen muß.
Da Schwule und Lesben in den verschiedenen geschichtlichen Epochen
verschiedene unangenehme Erlebnisse hatten, die Heterosexuelle
nicht erleben mußten, ergeben sich für uns folgende
Ziele, die ich als Zusammenfassung merines Diskussionsbeitrages
hier darstelle:
- 1. Eines der wichtigsten Hauptziele der schwulen
Bewegung war es, daß sich der Staat so wenig wie möglich
um das Bettverhalten seiner EinwohnerInnen kümmert. Dieses
wichtige Hauptziel sollte all unser politisches Handeln überlagern
und in allen Bereichen unseres gesellschaftspolitischen Handelns
eine Leitschnur sein. Es darf aber auch nicht zugelassen werden,
daß sich Ersatzorganisationen statt des Staates in unser
Leben einmischen.
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- 2. Ein zweites wichtiges Ziel unserer Bewegung
muß sein, in der Bevölkerung eine sexualitätsbejahende
Athmosphäre zu schaffen, auch gegenüber anderen einvernehmlichen
sexuellen Begegnungen zwischen Menschen, die man selbst für
völlig unverständlich hält.
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- 3. Ein weiteres wichtiges Ziel ist, daß
von Menschen selbst gewollte Lebensentwürfe in Hinsicht
auf Lebens- und Sexpartner zu achten sind und nicht aus der Sicht
irgendeiner Moral verächtlich gemacht oder verurteilt werden
dürfen. Es ist z.B. nicht selbstverständlich, daß
Sexhandlungen zwischen Menschen in ein sentimentales Gefühlsmodell
eingebaut werden müssen. Niemand hat das Recht, sich in
sexuelle Handlungen, die nicht ihm gelten, einzumischen, so lange
sie einvernehmlich sind. Menschen, die aufgrund von Abhängigkeiten,
Behinderungen, aus Alters- (z.B. Kinder) oder Krankheitsgründen
nicht in der Lage sind, Sexualität anzustreben oder Übergriffe
abzuwehren, benötigen gesellschaftlichen Schutz und gesellschaftliche
Hilfe. Es handelt sich also bei unseren Zielen um die Selbstbestimmung
des mündigen Individuums in der Gesellschaft.
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- 4. Ein schon jetzt anzustrebendes Fernziel
muß sein, die den Menschen zugewiesenen Geschlechtsrollenmodelle
ganz generell in Frage zu stellen und nach Möglichkeit ganz
aufzuheben. Der "richtige Mann" ist ebenso ein gesellschaftliches
Kunstprodukt wie die "richtige Frau". Ebenso verhält
es sich übrigens mit der "richtigen Lesbe" und
dem "richtigen Schwulen". Geschlechtsrollen ergaben
sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Geschlechtsrollen
waren die ersten Klassenmodelle und haben wie die gesellschaftlichen
Hierarchien nichts mit einer "natürlichen Veranlagung"
zu tun. Erst wenn jede Frau sich so verhalten kann wie jeder
Mann, ohne Anstoß zu erregen, und wenn jeder Mann sich
so verhalten kann wie jede Frau, ohne lächerlich zu erscheinen,
erst dann ist die Aufhebung der Geschlechtsrollen erreicht.
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- 5. Homosexuelle und heterosexuelle Menschen
gibt es dadurch, daß das gesellschaftliche Rollenbild der
einseitig heterosexuelle Mensch ist, was Homosexualität
ausschließt. Wären wir wirklich am Ziel, würde
kein Mensch mehr darüber nachdenken, ob er homo- oder heterosexuell
ist, sondern könnte und würde sich bei jedem Menschen
entscheiden, wie ihm nun ist und ob ihm dieser Mensch zur Zeit
sexuell anregt. Auch der andere Mensch würde sich bei einer
entsprechenden Einladung zum Sex nicht fragen: "Bin ich
vielleicht homosexuell?" oder gar: "Hält der mich
etwa für einen Homosexuellen?", sondern würde
ganz einfach nach seinen Befinden annehmen oder ablehnen.
(Joachim Schönert)
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