50. Lust: Okt./Nov. 98
 
PC oder "Sexual Correctness"
Bei der "Political Correctness" (PC) handelt es sich um Sprach- und Verhaltensregeln. Man redet höflich miteinander, entzieht sich kontroverser Auseinandersetzungen. Man sagt nichts, was einen Menschen anderer politischer Meinung ärgern könnte. Unangenehme Entscheidungen werden so formuliert, daß sie für den Leidtragenden notwendig und erträglich erscheinen. Diese Verhaltensweisen sind für den Umgang am Arbeitsplatz entwickelt worden, greifen aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. In vielen Untersuchungen wird der normative Charakter der PC gebrandmarkt und die harmonisierende Wirkung belegt, die dazu führt, daß Kritik an bestehenden Verhältnissen als nicht-normgerechtes Verhalten erschwert oder unmöglich gemacht werden. Diese Untersuchungen belegen, daß PC letztlich politisch rechts ist, obwohl auch politisch links Eingestellte sich entsprechend "politisch korrekt" verhalten und andere verurteilen, die sich nicht entsprechend verhalten.

Was bislang weniger systematisch untersucht wird, ist, daß zunehmend auch normative Strukturen unter dem Deckmantel des guten Benehmens und der Moral in Fragen der Sexualität wirksam werden. Diese "Sexual Correctness" wird genauso unkritisch hingenommen und ermöglicht zunehmend die moralische Verurteilung von Menschen, die sich nicht gemäß der SC verhalten.

Immer deutlicher tritt dies auch in der Schwulen- und der Lesbenszene hervor. Am moralischsten geben sich solche Gruppen nach außen, in denen jugendlichen Schwulen und Lesben sogenannte Coming-out-Hilfe angeboten wird, die aufgrunddessen im wesentlichen ein großer Beziehungs- und Kontaktmarkt sind. Die dort vertretenen Normen nach "wahren" altersgleichen Dauerbeziehungen sind wegen möglicher Vorwürfe, Verdächtigungen und Gerüchten über Gruppen und Personen vielleicht erklärlich. Aber nach außen vertretene Normen wirken immer auch in die Gruppen zurück. Da selbstverständlich die breite Palette der Verhaltensmöglichkeiten auch weiterhin praktiziert wird, treten hier die üblichen Mechanismen der Doppelmoral auf.

Sexual Correctness kann man in vielen Bereichen lesbischen und schwulen Lebens beobachten. Und da Sexualität immer noch zu einer problematischen, tabuhaften und auch oftmals unerklärlichen Sache erklärt wird, da Sexualität mystifiziert und mit aus anderen Bereichen stammenden Regeln, Werten und Normen verknüpft wird, spielen noch immer viele unterdrückte Gefühle mit, wenn über Sexualität und das sexuelle Verhalten (anderer) geredet wird.

Wo man aber mit einer solchen Emotionalität aus dem Bauch heraus wertet, fallen auch die Urteile entsprechend aus. Bei Urteilen über Sexualität kann man zumeist nicht mit sachlich vernünftigen Erwägungen rechnen, sondern Neid, Doppelmoral, verborgener Lüsternheit, Sehnsucht, Futterneid, Haß, Konkurrenz usw. Das macht es schwer, solche Probleme aufzuarbeiten. Und der Wunsch, solche Probleme aufzuarbeiten, ist der immer frei von eigenen Motiven?

Die erste zentrale Aussage der SC ist, daß Sexualität und das öffentliche Leben, z.B. Arbeitswelt, miteinander unvereinbar sind. Arbeit hat nichts mit Sex und Lust zu tun. Die Lust an der Arbeit hat etwas mit der Unterdrückung der Bedürfnisse des Menschen, also auch der Sexualität, zu tun, das Ausleben sexueller Lust dagegen meistens nicht. Und so ist es kein Wunder, daß der Wunsch der Hurenverbände nach Anerkennung der Dienstleistungen einer Sex-Arbeiterin oder eines -Arbeiters als Berufsarbeit mit absolut moralischen bzw. doppelmoralischen Argumenten vom Tisch gewischt werden.

Anonyme Lesben oder Schwule bemerken am Arbeitsplatz, wie Sexualität in vielen Bereichen mitschwingt. Würde man einem Kollegen sagen: "Du redest gerade deiner Kollegin nach dem Mund, weil du bei ihr landen willst", dann könnte man die entrüstete Zurückweisung erfahren, denn sexuelle Belange haben ja im Arbeitsleben nichts zu suchen. Oder die Montagsgespräche in der Frühstückspause nach dem Wochenende.
 
Würde man die sexualisierte Atmosphäre bloßzustellen versuchen, dann fänden sie einfach an anderer Stelle statt, wo wir sie nicht hören können. Warum sollten wir auch etwas dagegen haben. Es ist nur die Doppelmoral, die stört. Oder bestimmte Szenen bei Betriebsfeiern. Hier zeigt sich der verdiente Mitarbeiter mit Gattin. Besser: man führt dort die "bessere Hälfte" vor. Ab einem bestimmten Alkoholpegel haben dann die Imponiererotiker ihre Auftritte. Die Sexualität ist selbstverständlich unterschwellig überall vorhanden, in der Arbeitswelt darf's aber nicht entlarvt werden.

Da hört man, daß in den USA die Frauenverbände in Betriebsräumen der Uni gegen irgendwelche Abbildungen aus der Antike Sturm laufen, weil diese pornographisch seien, sie sich zumindest dadurch sexuell belästigt fühlen. Aidsaufklärung ist kaum mehr sinnvoll möglich, weil das direkte Benennen der Körperorgane und Funktionen als "sexuelle Belästigung" und als "pornographisch" eingeordnet und bekämpft wird. Hier wird der ursprüngliche gute und richtige Gedanke, daß Vorgesetzte ihre Macht nicht mißbrauchen können, um sich ihre Angestellten sexuell gefügig zu machen, zu einer allgemeinen moralisierenden gesellschaftlichen Strömung, wo die Menschen auf der Suche nach Erotischem und scheinbar Erotischem sind, um es anzuprangern.
 
Diese Entwicklung, die in der Bundesrepublik gerade beginnt, ist in den nächsten Jahren auch hier verstärkt zu erwarten. Es ist immer so, daß fortschrittliche gesellschaftliche Bewegungen von konservativen Interessen in ihr Gegenteil gedreht werden. Um selbst aus dem Schußfeld zu geraten, projiziert man den Zorn der kleinen Leute auf Sündenböcke, und wer die Sündenböcke in sexuellen Fragen sind, das ist schon ausgemacht: sexuell Freizügige und lustvolle, also auch die Menschen unserer Szene.

Die zweite zentrale Aussage der SC ist, daß Sexualität in eine Beziehung eingesperrt gehört. Anonymer oder spontaner Sex in unterschiedlichen Formen ist somit schon gleich einmal verteufelt. Und wenn Menschen untereinander Beziehungsstrukturen haben, dann sind die Formen dieser Strukturen auch schon vorgegeben. Zuerst einmal, es müssen immer zwei sein.
 
Und praktiziert es jemand anders, dann sind die selbstlosen RatgeberInnen mit weisen Gesichtern dabei und haben Mitgefühl mit der oder dem, den sie als Opfer des Normbruches ausweisen können. Zum Beispiel leidet die Gattin des amerikanischen Präsidenten darunter, daß ihr Gatte Oralverkehr mit einer anderen Frau praktiziert. Vielleicht steht sie gar nicht auf Oralverkehr? Warum soll er nicht mit einer anderen das ausleben, was zu Hause nur Widerwillen erzeugt? Peinlich, daß man solche Sachen dort offensichtlich abstreiten muß, um ein höheres Amt zu bekleiden. Das macht die Leute erpreßbar. Und man hört, daß Sexualität außerhalb bestehender Beziehungen schlecht, ein Treuebruch sei.

Klappensex? Darkrooms? Sauna-Abenteuer? Parks? Autobahnraststätten? One-Night-Stands? Das alles ist dann minderwertiger Sex, weil er nicht die Weihe der sentimentalen Bindung, die Liebe genannt wird, hat. Und Liebe kann niemand definieren, wird aber vielfältig interpretiert. Bei den One-Night-Stands kann man ja behaupten, man strebe eine Bindung an, nur habe es eben in diesem Fall nicht so recht geklappt.
 
Das Beziehungsgebot der Sexualität hat nun wiederum in verschiedenen Bereichen kuriose Auswirkungen. Wenn in einer Klappe (einer Herrentoilette, in der anonymer Sex praktiziert wird) ein recht junger geiler Kerl und ein in die Jahre gekommener geiler Kerl miteinander rumwichsen, dann kann man in (selbstverständlich verurteilenden) Kommentaren selbsternannter TugendwächterInnen hören, daß die Beziehung dieser beiden nicht egalitär sei. Der Ältere sei Täter, der Jüngere sei Opfer, da der Ältere seine Überlegenheit in vielen Bereichen der Beziehung nutzen könne.

Wie wenig die doch wissen. Die beiden Ungleichen gehen nämlich zumeist danach wieder auseinander, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Wo ist also die nicht egalitäre Beziehung? Höchstens ungleichzeitige Orgasmen kann man hier feststellen. Und bei einer altersungleichen Beziehung, so sie eine Zeitlang dauert, ist da immer der ältere Partner der stärkere, wenn man den Jugendkult und die Altersfeindlichkeit unserer Szene berücksichtigt?

Auf jeden Fall kann man daraus lernen, erotische Verbindungen haben ungefähr altersgleich zu sein, weil eine Beziehung nur dann halbwegs ertragen wird, wenn der Altersunterschied nicht allzu groß ist. Merke: jede erotische oder sexuelle Verbindung wird nach dem Maßstab der Beziehungstauglichkeit, hinter der sich die Ehetauglichkeit verbirgt gewertet.

Nach dem Strafgesetzbuch und im Arbeitsrecht ist ein Mensch bis zum Erreichen des 14. Lebensjahres ein Kind, bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres ein Jugendlicher und darüber ein Erwachsener. In Büchern, in denen die wichtige Arbeit des Verhinderns sexuellen Mißbrauchs an Kindern geleistet werden soll, wird aber oftmals von einem "Kind unter 18 Jahren" geredet.
 
Als Mißbrauch wird gewertet, wenn der Partner fünf Jahre älter ist, also z.B. 22, unabhängig davon, ob diese Handlung einvernehmlich ist. Damit werden nahezu alle oder zumindest sehr viele sexuelle Handlungen zu "sexuellem Mißbrauch an Kindern" erklärt, die z.B. in einer sogenannten schwulen Jugendclique angebahnt werden. Hier wird eine wichtige Sache, das Schützen der Kinder vor sexuellen Übergriffen durch ihre Eltern oder Verwandten oder vor Fremden derart verschleiert, daß das Problem nicht mehr ernst genommen werden kann.
 
Ein Anwalt, der einen des sexuellen Mißbrauchs an seiner Tochter Beschuldigten vor Gericht verteidigte, wurde von einer Frau in einem Redaktionsgespräch in einer befreundeten linken Zeitschrift als "Schwein" beschimpft. Hat denn ein Beschuldigter (nicht ein Überführter oder Verurteilter) nach Auffassung einiger Menschen nicht einmal mehr das Recht auf Verteidigung? Glaubt ihr wirklich, daß unter solchen Bedingungen die Menschen noch lange zwischen lesbischen und schwulen altersungleichen Beziehungen und sexuellem Mißbrauch an Kindern differenzieren?

Klar ist seit einiger Zeit in den Medien, daß Schwule freundliche, ordentliche und moralische Menschen sind, die gerne heiraten möchten und besser verdienen. Klar ist den meisten Menschen, daß Lesben eigentlich nicht häufiger Ehemänner ermorden als heterosexuelle Frauen, daß Lesben in festen Beziehungen leben und treu sind. Klar ist auch, daß sexueller Mißbrauch an Kindern, gewalttätige und sexuelle Übergriffe von Ehemännern auf ihre Ehefrauen usw. die Ehe und Familie als Hort der Harmonie in Frage stellen. Klar ist weiterhin, daß immer weniger (heterosexuelle) Menschen in Beziehungen den Weg zum Standesamt gehen.

Was können also die konservativen TugendwächterInnen machen, um die Ehe und Familie wieder heilig zu sprechen und als Norm der Gesellschaft zu bestätigen? Man muß den Blick von der fragwürdig gewordenen einzigen staatlich geförderten Lebensgemeinschaftsform "Ehe" lösen und auf irgendwelche Sündenböcke richten. Und wer eignet sich zum Sündenbock?
 
Solche Menschen, die den "gesunden, normalen Eheleuten" ohnehin nicht ganz geheuer waren, die ohnehin nicht damit einverstanden sind, daß Schwule und Lesben straffrei ausgehen sollen. Über Lesben, die Ehemänner umbringen, hört man jetzt wieder öfter mal. Man beachte auch die Presseveröffentlichungen der letzten Zeit zu den Vorfällen in Zandfort. Besonders Spiegel und Stern lenken den Blick wieder auf Pornonetzwerke usw. auf die "homosexuellen Päderasten".
 
Warum soll es in unseren Reihen nicht dasselbe geben wie bei den Heteros? Schlimm ist nur, daß nun wieder die Blickrichtung "stimmt". Die Schwulen waren den (doppel)moralischen Heteros ja nie ganz geheuer. Es ist zu erwarten, daß da noch Einiges auf unsere Szene zukommt. Das Blödeste wäre nun, uns anpasserisch zu verhalten und, wie es die Schwulenbewegung in den 50ern machte, also nun auf Anpassung, Moral usw. zu setzen. Daß wir heute (noch) in großer sexueller Freiheit leben, hat etwas damit zu tun, daß die Schwulenbewegung der 70er Jahre die schlimmsten Befürchtungen der TugendwächterInnen bestätigte und verlangte: so sind wir, so müßt ihr uns akzeptieren. J
 
a, es ist wahr. Schwule haben ihre Klappen und Parks, Darkrooms und Saunen. Schwule pflegen häufig wechselnde Sexualkontakte. Ja, Schwule haben auch Analverkehr usw. Ja, es gibt Jugendliche, die auch Sex mit erwachsenen Schwulen praktizieren und erwachsene Schwule, die Sex mit Jugendlichen praktizieren wollen (wie es das in der heterosexuellen Szene im übrigen auch gibt). Schwule seien keine richtigen Männer? Nun, einige von uns legen keinen Wert darauf, wie Machos und Soldaten zu erscheinen und immer nur grau angezogen zu sein. Na und? Und damals, bei einer solchen Argumentation der studentischen Schwulenbewegung, mußten nun die Heteros sich mit ihrer eigenen Spießigkeit auseinandersetzen.
 
Es gab Veröffentlichungen, in denen Heteros zugaben, daß sie auch Analverkehr bevorzugen. Heterosexuelle Frauen bekannten, daß ihnen die von ihnen erwartete Rolle als anpassungsbereite Miezekatze nicht gefällt, Männer stellten die Männerrolle in Frage und einige gaben zu, Frauenkleider gerne anzuziehen. Heterosexuelle Frauen und Männer gaben zu, gelegentlich durchaus gleichgeschlechtliche Erotik zu empfinden, und der heterosexuelle Jugendkult wird ja auch in aller Breite in einer neuen Jugendbewegung zelebriert. Freilich mündete dies damals zeitlich alles in einen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß, bei dem neue Offenheit die alten moralischen Zwänge verdrängte. Das Übertragen der Taktiken der Schwulenbewegung während der 68er Revolte auf das heutige gesellschaftspolitische Klima, würde nicht zum gleichen Ergebnis führen, weil uns da der Trend "Sexual Correctness" entgegensteht.

Unsere eigene Szene neigt zu größerer Verdrängung, Doppelmoral und zur äußerlichen Anpassung. die aber auch als Doppelmoral auf uns zurückschlägt. Wirtschaftliche Unterschiede führen zu einer stärkeren Entsolidarisierung, weil die, die wirtschaftlich oder auch in der Politik etwas zu verlieren haben, lieber elegante geachtete Leute sein wollen anstatt Mannweiber, Klappengänger, Tunten, Arschficker und die Moral der Jugend gefährdende Sexmonster.

Und Lesben, die sich mit dem Vorwurf des Mannweibes konfrontiert sehen, sollten die zarten Pflanzen einer sexuellen Freizügigkeit untereinander verteidigen, anstatt mit Selbstzensur in Richtung auf treue eheähnliche Beziehungen auszuweichen. Sie dürfen sich ihre Entscheidung, wie sie leben möchten, nicht von den heterosexuellen Tugendwächtern abnehmen lassen (und ihren homosexuellen HelferInnen), selbst wenn sie es zeitweilig oder länger vorziehen sollten, eine eheähnliche Beziehung zu pflegen.

Wir müssen beraten, was zu tun ist. Deshalb haben wir einen bundesweiten Aufruf an solche Lesben und Schwule gerichtet, die nicht nur darüber miteinander sprechen wollen. Wir haben zwei Rhein-Main-Gebiets-Treffen unter dem Namen "Kleiner Ratschlag" durchgeführt, sowie zwei bundesweite Treffen unter dem Namen großer Ratschlag. Nähere Infos findet Ihr unter der Datei Rosa Lüste, dort Linke Lesben und Schwule. (Joachim Schönert)
 
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