47. Lust: April/Mai 98
Gesundheit und Krankheit als soziale Normen
Diskurs über den Umgang mit Minderheiten (z.B. Behinderten) in unserer Szene
"Das ist ja krank!" sagt unbedacht ein junger Mann über einen älteren, der ein Verhalten an den Tag legt, das der junge Mann für ungewöhnlich hält, ihn vielleicht auch aus eigenen Interessensgründen ärgert. Gleichzeitig bestimmt er wortlos, daß seine Anordnung der Verhaltensweisen in "gesund" und "krank" "gesund" sei. Ich beschäftige mich also mit gesellschaftlichen Normen, mit Vorurteilen und Interessenswahrnehmungen, die sich hinter scheinbar unumstößlichen und unwidersprechbaren Kategorien verstecken.
 
1. Problemstellung
"Gesund" und "krank" sind Einordnungen positiver und negativer Art, hinter denen nicht das Ziel einer Verhaltensänderung steht. Das gilt auch für positiv empfundene "angeborene" normerfüllende Verhaltensweisen oder negativ empfundene angeblich angeborene Normabweichungen. Mit den Kategorien "angeboren" und "krank" werden die (den Normen und/oder den eigenen Interessen zuwiderlaufenden) Verhaltensweisen in einer Weise definiert, daß sie nicht veränderbar sind. Die Lösung: der/das Kranke muß weg, das Gesunde muß geschützt werden. Und Kranke sind oftmals auch noch schlau und deshalb besonders gefährlich.

Würde die Beschreibung des negativen Verhaltens nicht mit "krank" sondern mit "falsch" umschrieben, dann könnte der andere es ja ein anderes Mal "richtig" machen. Allerdings steht hier hinter "falsch" auch eine persönliche Schuld. Er ist "schuld", soll heißen, der andere hat noch andere Möglichkeiten, z.B. sich zu verändern und die Schuld wieder gut zu machen. Bei "krank" hat er zwar keine schuld, er stört jedoch, ist vielleicht sogar gefährlich (ansteckend), er muß weg. Bei der Kategorie "krank" gibt es entweder herablassende Toleranz oder Ausgrenzung, vielleicht sogar Vernichtung. Bei "falsch" hat der andere die Möglichkeit, seine "Schuld" einzusehen, sofern er bereit ist, sich zu unterwerfen.
 
2. Erfahrungen
Wir haben die Erfahrung, daß homosexuelles Verhalten als krankhaft definiert wurde. Mittels Strafgesetz wurde aber auch eine Schuld an diesem Verhalten definiert. Die "Endlösung der Schwulenfrage" wurde bei den Nazis durch Kastration und Ausrottung angedacht (das liegt auf der Ebene einer biologischen Unnormalitiät, etwa des "schwulen Gens", für die man nichts kann).
 
Aber im deutschen Nazistaat hatte sich in der Praxis oft die inhaltliche Haltung der katholischen Kirche durchgesetzt, die in Homosexualität einfach nur ein unmoralisches weil zweckfremdes Verhalten sieht. Der Zweck der Sexualität hatte nämlich das Zeugen zu sein. Die Nazis hielten dieses unmoralische Verhalten bei Männern für gefährlich, daher die "Umerziehung" in den Konzentrationslagern, was für die Rosa-Winkel-Häftlinge in den meisten Fällen aufgrund des Umgangs durch Bewacher und Mithäftlingen den Tod bedeutete. Sie hielten Homosexualität bei Frauen für unbedeutend, denn es kommt ja (bei den Nazis) letztlich auf den Mann an, was die Sexualität betrifft.

Und die "Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung" sorgte nur dafür, daß das Produktionsmittel "Arbeit", also die Produktion von billigen Arbeitskräften, reibungsloser funktioniert. Überhaupt muß man sagen, daß sowohl heute als auch damals im deutschen Nazistaat der Wert eines Menschen (auch im Privaten) letztlich darüber bestimmt ist (war), wieviel Marktwert als Arbeitskraft ihm innewohnt, also wieviel Gewinne sich mit ihm machen lassen.

Körperlich und geistig behinderte Menschen waren für die Nazis "Kranke". Leute, die, marktwirtschaftlich gesehen, der "Volkswirtschaft" nichts einbrachten, sondern etwas kosteten, waren "lebensunwertes Leben" und das wurde einfach vernichtet. Viele Behinderte wurden also umgebracht. Überhaupt kann man eigentlich definieren, daß der deutsche Nazistaat in seinem Handeln (nicht in seiner Ideologie) eine Weiterentwicklung des brutalen Staates der aggressiven Marktwirtschaft ohne soziale Verantwortung war.

Daß auch heute noch der Wert eines Menschen im wesentlichen in einer wirtschaftlichen Verwendbarkeit liegt, das ändert im Grundsatz auch nicht, daß es in den letzten Jahren zunehmend einklagbare Rechte für Behinderte gab, daß also eine gewisse repressive Toleranz (Adorno) gegenüber Behinderten gibt. Im Zusammenhang mit den neoliberalen Tendenzen in der Wirtschaft sind solche Errungenschaften allerdings wieder in Gefahr.
 
3. Behinderte
Was eine Behinderung ist und was nicht, ist eine Definitionssache. Eine Behinderung ist zuerst einmal eine Abweichung von der Norm. Obwohl eine Behinderung immer nur in Hinblick auf eine als Norm vorgegebene Fertigkeit existiert, wird eine definierte Behinderung zum Stigmatisierungsanlaß schlechthin. Da wird der Mensch dann eigentümlicherweise "ganzheitlich" gesehen (was sonst in der Marktwirtschaft eher vermieden wird). Und die gesellschaftliche Norm ist das, was die Marktwirtschaft von uns verlangt.
 
Daß die immer unmenschlicheren Anforderungen der Marktwirtschaft zur eigentlichen Norm in allen Lebensbereichen wurden, zeigt sich schon daran, daß die alltägliche Werte-Skala in vielen (auch privaten) Lebensbereichen von den Attributen der Marktnützlichkeiten ausgeht, als seien dies Naturgesetze. Wenn etwas nicht klappt, wird es oft auf menschliches Versagen zurückgeführt, nicht etwa darauf, daß die Produktionsprozesse Tür ArbeitnehmerInnen immer unmenschlicher werden. Wie sollen da Behinderte im immer brutaleren Wettlauf um die weniger werdenden Verdienstmöglichkeiten mithalten können, wenn schon viele kraftstrotzende junge nichtbehinderte Menschen keine Chance erhalten?

Behinderungen sind natürlich körperliche, geistige oder psychische Handicaps gegenüber irgendwelchen Zielen im persönlichen und beruflichen Umfeld. Das Ziel der freien Fortbewegung in einem Umfeld von Lebewesen, die Beine dazu benutzen (können), kann von solchen Behinderten nicht auf gleiche Weise erreicht werden, die sich auf Rädern fortbewegen (müssen), besonders, wenn es um Treppen usw. geht. Wären wir alle so auf die Welt gekommen, daß Räder im Alltag gebräuchlich waren, gäbe es z.B. keine Treppen. Also, die Behinderung besteht eigentlich immer in Hinblick auf Ziele.

Nun will ich hier nicht die "Ziele" aller Menschen derart herunterschrauben, daß jeder sie erreichen kann, denn das wäre auch nicht nötig. Es ist auch nicht nötig, sich ständig mit den "Helden" der jeweiligen Leistung zu vergleichen. Trotz "normaler" Beine und wahrscheinlich auch Lunge habe ich weder die Fähigkeit noch den Ehrgeiz, Marathonläufer zu werden. Nicht jeder Mensch muß alles können. Desweiteren kann heute mittels Technik viel gemacht werden. Dennoch bewerten die Menschen jemanden mit einem Handicap rundum negativ. Und Leute wie der Australier Singer möchten sogar durch die Hintertür wieder Menschen, die gewissen Normen nicht entsprechen, frühzeitig abtreiben oder ähnliches.
 
4. Pflegeabhängigkeit
Manche Behinderte sind pflegeabhängig. Aber bedeutet das, daß pflegebedürftige Menschen eine "unangenehme Last" sind, die sich Eltern und Partner ersparen möchten? Solche Meinungen tauchen dann auf, wenn die Pflege zur privaten Frage gemacht wird.
Pflege gehört in professionelle Hände und darf nicht den Angehörigen aufgebürdet werden. Es handelt sich hier um eine gesellschaftliche Aufgabe. Jeder Mensch war in seiner Kindheit in der Lage, pflegebedürftig zu sein, und kommt oft im Alter in diese Lage.
 
Das Machen sich manche Menschen nicht klar, die Behinderte ausgrenzen. Im Moment erleben wir eine unglaubliche Bereicherung bestimmter wirtschaftlich profitierender Eliten, die sich alle gierig aneignen, was sich andere mühevoll aufgebaut haben. Soziale Einrichtungen sind ihnen ein Ärgernis, weil sich mit ihnen kaum Geld verdienen läßt. Sie rechnen sich marktwirtschaftlich nicht, was im Klartext heißt, daß sie diesen Eliten zuwenig abwerfen. Die an Leistung (der "nützlichen" Mitglieder der Gesellschaft) und Gewinn (für die eigene Klientel) orientierten wirtschaftlichen Führungskräfte sind dabei, alle gesellschaftlichen Bereiche, die ihnen keinen Gewinn versprechen, ebenso zu privatisieren wie ihren Gewinn, nur mit dem Unterschied, daß die nicht profithaltigen Bereiche dann schlicht pleite gehen.

Als gegenwärtig nicht Pflegebedürftiger kann ich die Welt natürlich nicht aus der Sicht eines sogenannten Betroffenen wahrnehmen. wenn ich mir Gedanken darüber mache, wie unangenehm es doch wäre, ständig "dankbar" dafür sein zu müssen, daß ich überhaupt noch leben könnte. Das ist aber das Resultat der Situation, daß die Pflege zu einer privaten Sache der nächsten Angehörigen gemacht wird: Almosen statt Lebensrecht. Darüber sollten zum Beispiel auch Ehebefürworter nachdenken, denn die Ehe ist die Einrichtung, in der die gesellschaftliche Verantwortung für Mitmenschen privatisiert wird, zum Beispiel durch die gegenseitige Fürsorgepflicht. Selbst wenn jemand auf Arbeitslosenhilfe angewiesen ist, wird das Gehalt der näheren Verwandten mit herangezogen.
 
Die finanziellen Pflichten der Ehe werden sogar auf Wohngemeinschaften und nichteheliche Lebensgemeinschaften ausgeweitet, ohne freilich diesen die Benachteiligungen zu ersparen, durch die alle anderen selbstgewählten Partnerschaftsformen benachteiligt werden. So lange die Ehe eine Zwangsinstitution ist, die der Moralkontrolle und der Abwälzung gesellschaftlicher Aufgaben dient, kann sie von Menschen, die das emanzipatorische Ziel der Selbstbestimmung haben, nicht befürwortet werden.
 
Daß die Pflege in professionelle Hände gehört, daß die Mühen und Kosten nicht den näheren Angehörigen aufgebürdet werden sollen, heißt nicht, daß Pflegebedürftige abgeschoben werden sollen, denn sie brauchen ja ihr soziales Umfeld. Dieses Umfeld würde es leichter haben, in freundschaftlicher Gemeinschaft mit den Pflegebedürftigen zu verkehren, wenn ihnen nicht automatisch die Pflege und ihre Finanzierung aufgebürdet würde.
 
6. Unsere Szene
Die Szene, die sich in den Lokalen, Diskotheken und Saunen (und oft auch Gruppen) abspielt, zeichnet sich dadurch aus, daß eine groß Konkurrenz im gegenseitigen Imponieren mittels primitivster Attribute und Methoden besteht. Brutalste abwertende Äußerungen über "Minderheiten" in der eigenen Szene sind an der Tagesordnung.

Es gehörte schon ein gehöriges Maß an individueller Rücksichtslosigkeit dazu, trotz diskriminierender Einstellungen z.B. der Familie gegenüber den ersten schwulen Begegnungen, diese durchzusetzen und durchzustehen. Diese Rücksichtslosigkeit gegenüber bisheriger sozialer Bindungen und ihren flankierenden ideologischen Konstruktionen, scheinbar zugunsten der egoistischen (homo)sexuellen Vergnügungen, ist Teil des Coming-outs eines jeden homosexuellen Menschen. Man stellt sich taub gegenüber den Wünschen der Umwelt, die doch so gerne eine Hochzeit in weiß, ein Enkelchen oder ähnliches vorweisen würden.
 
Mir scheint, daß diese Rücksichtslosigkeit (besonders in der Jugendszene) um so größer ist, je weniger das eigene Coming-out bewältigt ist. Und nun soll "ich" einen Behinderten achten, vielleicht sogar auch noch wohlwollend in Erwägung ziehen, wo ich mich doch nach den Leitbildern der Backstreet-Boys und der Joop-Reklame richte? Ich will schließlich den Besten haben, und der da ... ist das nicht. Nicht weil er behindert ist, aber ich stehe einfach nicht auf ihn. Das muß jeder akzeptieren. Er ist halt nicht mein Typ.

Tja und dann steht dort einer mit seinem Rollstuhl, falls er überhaupt damit in das Lokal hereingekommen ist. Er trinkt sein Bier und sieht zu, wie sich die anderen aneinander anpirschen. Nach einiger Zeit zahlt er, der (heterosexuelle) Pfleger, der interessiert gemustert wird, kommt und fährt ihn aus dem Lokal. Nachdem sich die Türe hinter ihm geschlossen hat, verändert sich allmählich der Geräuschpegel. Die Menschen verhalten sich kaum spürbar anders, als seien sie froh, daß die anstrengende Situation vorbei ist, in der man sich zu beweisen hatte, nämlich, daß man selbstverständlich niemanden diskriminiert.

Ich habe beobachtet, daß manche Leute mit ungläubigem Erstaunen reagieren, wenn ich beiläufig den Freund dieses Behinderten erwähne. Aber auch das ändert nichts, denn dann ist man ja entlastet, daß da jemand ist, der sich seiner annimmt. Ich glaube, unsere Szene ist noch sehr weit davon entfernt, Minderheiten in den eigenen Reihen zu integrieren. (Joachim Schönert)
 
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