45. Lust: Dez.97/Jan. 98
Sozialabbau, oder das Ende der "sozialen Marktwirtschaft"
Die Existenz unserer Szene ist zum großen Teil davon abhängig, wieviel Geld den Arbeitnehmern in der Tasche bleibt. Auch unsere Lebensqualität ist davon abhängig.
 
Wenn man in die Gay-Blätter schaut, erhält man den Eindruck, als bestünde unser ganzes Leben aus Schmink-Tips, Disco-Events, die tollste Frau, wie bekommt frau sie und wer ist das überhaupt? Der tollste Mann, wer ist das überhaupt, wie und wo findet man ihn? Wo ist frau/man "in" im Urlaub, was sind die tollsten Platten usw.
 
Ist das unser Leben oder ist daß eher die Ablenkung, der Urlaub von dem, was man/frau "das Leben" nennt? Verständlich, daß die Ablenkung mehr Spaß macht als die Realität, mit der frau/man sich im öden und grausamen Alltagsleben genug rumzuschlagen hat. Und so geschieht es beinahe unbemerkt, daß in Generationen erarbeitete und erreichte soziale Standards im Stile der Salamitaktik verschwinden. Salamitaktik? Die abgeschnittenen Stücke werden dicker, sind keine Scheiben mehr, und man schneidet auch gleichzeitig an allen Seiten ganze Stücke heraus.
 
Warum ich so etwas behaupte? Ich behaupte noch mehr. Der Abbau geschieht teils offen und teils so perfide, daß man schon in verschiedenen Bereichen Spezialist sein muß, um dies zu erkennen.

Nehmen wir die Rentenreform, die von der Koalition verabschiedet wurde und die nicht vom Bundesrat zustimmungspflichtig ist. Eine Reihe flankierender Maßnahmen wurden bei anderen Gesetzesentwürfen versteckt, die so - von vielen unbemerkt - in Kraft treten. Man bemerkt sie, wen man betroffen ist. Es kommen hier verschiedene Faktoren zusammen, wenn man den Grund erfahren möchte, warum unser bewährtes Sozialsversicherungssystem nun nicht länger eine relative soziale Sicherheit leisten soll. Die gegenwärtig regierende Koalition hat von Anfang an alles drangesetzt, staatliche Aufgaben (und die Betriebe dazu) zu "privatisieren".
 
Sie hat auch alles drangesetzt, das öffentlich-rechtliche System zu unterlaufen, abzubauen usw. Für sie ist es richtig, wenn z.B. im Wohnungsbau keine sozialen Gesichtspunkte, sondern der "Markt" ausschlaggebend ist, also wenn auf der einen Seite die Gefahr der Obdach-losigkeit zunimmt, auf der anderen Seite die Gewinne aus Vermietung und Umwandlung der Innenstadtmietswohnungen in Eigentumswohnungen zunehmen. Gewinner sind hier die Banken.
 
Schon von Anfang an ging es um die Privatisierung der öffentlich-rechtlichen Medien, beziehungsweise das Zurückdrängen der öffentlich-rechtlichen Medien zugunsten der großen Medienkonzerne. Ziel ist nicht eine faire Unterrichtung der Bevölkerung über für sie wichtige Zusammenhänge, Ziel ist nicht das Garantieren eines gewissen kulturellen Niveaus, sondern das Anbieten solcher Filme und "Meldungen", die gewinnbringend an den Konsumenten verkauft werden können, oder die deshalb an den Konsumenten verkauft werden können, weil sie von den Werbeabteilungen der Industrien, Konzerne, Banken subventioniert werden.
 
Es ist schon wichtig, daß die Menschen glauben, der soziale Abbau geschehe zu ihrem Besten und sei notwendig. Es gab genügend Propaganda dafür und so konnte die Privatisierung von Bahn, Lufthansa, Post ohne großen Widerstand durchgeführt werden. Diese Einrichtungen wurden zwar von der Bevölkerung längst über Steuern bezahlt, aber jetzt werden sie von uns an private Unternehmen noch einmal bezahlt. Nun kann dort verdient werden, wo es sich gehört nämlich dort, wo das große Kapital ist. Davon lenken die Volksaktien nicht ab, die letztlich den Einfluß der Banken verstärken. Ist der Service nun besser geworden? Eingesparte Postämter und das Ersetzen des bekannten Postbeamten durch schlechter ausgebildete und bezahlte Teilzeitbeschäftigte belegen das Gegenteil.

Die Krönung ist das Liquidieren des öffentlich-rechtlichen Versicherungssystems zugunsten der privaten Versicherungen, die damit Gewinne machen wollen, Aber die Gewinne des einen sind ja die Verluste des anderen. Diese Liquidierung geschieht dadurch, daß die Sozialversicherungen zwar nahezu die gesamte Bevölkerung zu versorgen haben (über 80 %), aber nicht von der gesamten Bevölkerung Geld erhalten. So haben die sogenannten "versicherungsfremden Leistungen" durch die Portokassen-Wiedervereinigungs-Lüge den Versicherungen Ausgaben-Lasten gebracht, aber der staatliche Auftraggeber hat keine staatliche Finanzierung mitgeliefert. Das Umwandeln eines Arbeitsplatzes in drei versicherungsfreie 6lO-DM-Jobs kann zwar im Stile des USA-Wirtschaftswunders zwei neue Stellen schaffen (von denen sich kaum jemand ernähren kann), aber den Sozialversicherungen entgehen die Einnahmen.
Es ist aber nicht denkbar, daß 61O-DM-Verdiener noch Geld für eine private Versicherung haben und die Gemeinden können auch nicht unbegrenzt Sozialhilfe zahlen. Aber da hört man ja schon aus Regierungskreisen, daß es den Sozialhilfeempfängern zu gut gehe, so daß sie nicht bereit seien, zu arbeiten (etwa zu 610 DM). Letztlich leidet das Sozialversicherungs-System aber auch am Arbeitsplatzabbau, da beißt die Maus keinen Faden ab.
Aber für diesen Fall gibt es ja den Staatsvertrag. Der sieht vor; daß Überschüsse der Sozialversicherungen (die keine Gewinne machen dürfen) an die Staatskasse gehen die dafür bei Unterdeckung ausgleichen muß. Und davor will sich der Staat nun drücken. Da wird (Kohl) von der "sozialen Hängematte" gesprochen, auf die sich zu viele verlassen würden.
Ich springe mal in die Arbeitswelt, von der ein großer Teil von uns lebt. Dort findet zur Zeit ein Umbruch statt. Statt des Managers im unteren Management, statt Vorarbeiter und gut ausgebildete und deshalb gut bezahlte Spezialisten sucht man nun Teammitarbeiter. Teams sind kleinere sich selbst (gegenseitig) überwachende Einheiten bei denen Menschen mit laientheoretischem Verständnis und Menschen mit solider Qualifikation gemeinsam ihr Können und Wissen zusammentragen, um eine gemeinsame Arbeit zu leisten. Derzeit wird aber alles genutzt, um Menschen und Gehälter abzubauen. Und da sind gezielte Spitzen von weiter oben gegen die angebliche Arroganz der Qualifizierten natürlich Wasser auf die Mühlen solcher Leute. die angeblich alles können und wissen, unabhängig der Realitäten, denn sie können sich in konkreten Situationen schnell hinter den Spezialisten verstecken. wie etwa "Das mach du mal, du wirst ja dafür bezahlt!" Für die Entlohnung bedeutet dies, daß die Minderqualifizierten ihre bisherige Bezahlung für zu niedrig ansehen, wenn sie nun die scheinbar gleiche Arbeit machen wie die Höherqualifizierten, und sie sind dann natürlich innerhalb des Teams nicht solidarisch, sondern eher schadenfroh, wenn den Leuten mit längerer Ausbildungszeit und höherer Qualifikation der Reallohn schrittweise gekürzt wird. So mancher fragt sich deshalb, warum er eigentlich noch eine höhere Qualifikation unter zunehmend erschwerten Bedingungen erwerben soll. Er hat dann (z.B. bei der Rente) aufgrund der längeren Ausbildungszeiten einer verkürzten Lebensarbeitszeit Nachteile, hat aber zunehmend nicht mehr den Vorteil eines höheren Gehaltes. Und wozu sollen sich Jugendliche dem widerwärtiger werdenden Arbeitsleben mit seinen Tugenden fügen, wenn sie ohnehin kaum eine Stelle erhalten? Vielleicht hilft ja einigen gut aussehenden Jugendlichen die Protektion eines Managers in höherer Position? Der Abbau der Qualifizierung strahlt auch auf den Bereich der Bildung aus. Wozu sollen denn die Bibliotheken viel Geld erhalten, soll für die allgemeine Bildung viel Geld ausgegeben werden, wenn die wirtschaftliche Rentabilität dafür nicht vorhanden ist? Bildung also nur für die, die es sich leisten können. Herr Herzog fordert eine Reform des Bildungswesens ein. Religion und nationale Werte für die unteren Schichten der Bevölkerung sollen an die Stelle der Aufklärung treten. Unter heutigen Bedingungen ist jede Reform ein Abbau. Das könnte der nächste Bereich sein, der "reformiert" wird. Von privaten Eliteschulen bzw. deren Förderung hört man ja aus der FDP Gleiche Chancen durch Bildung? Sozialromantische Träume aus den späten 60ern und frühen 70ern.
Mobbing ist das "Modewort" der gegenwärtigen Verhältnisse an den Arbeitsplätzen, bis hin zu Psychiatrie oder den Suizid. (Übrigens, die Psychiatrie könnte vielleicht auch noch abgebaut werden, oder geschieht das schon und ich hinke mit meinen Befürchtungen hinter der Realität her?) Bullying - das ist Mobbing durch den Chef, setzt da ein, wo Mobbing das erwünschte Ziel nicht brachte. Endlich kommt die Arbeitswelt wieder aus dem Verdacht raus, etwas mit Erfüllung, Menschenwürde und Berufung tun zu haben! Viele ältere Arbeitnehmer·, die die "besseren Zeiten" der Arbeitswelt, die Zeiten des Ost-West-Konfliktes, kennengelernt haben, Versuche sich einzuigeln und die Zeit zu überstehen, bis es in die Rente geht. Viele werden versuchen, so früh wie möglich in die Rente zu fliehen, wenn sie es können. Aber Vorsicht: die Rentenreform! Und damit wäre ich wieder bei meinem Ausgangsthema der Rentenreform.
Natürlich ist auch diese "Reform" ein Abbau. Und wenn man die Äußerungen über die zu erwartende Rentenzahlung hört, gewürzt mit dem Hinweis, man solle sich doch zusätzlich privat versichern, bestätigt dies die vorher geäußerten Thesen. Die normale Rente berechnet sich nach folgender Formel: (Ep x ZT)x Rafx aRw = Monatsrente. Das bedeutet: "Ep" das sind die Entgeltpunkte, die man pro Arbeitsjahr erhält. Bei durchschnittlichem Verdienst und ganzjähriger Beschäftigung 1 Punkt. Verdient(e) man etwas weniger, dann vielleicht 0,8 oder 0,9 Punkte. Verdiente man etwas mehr; dann vielleicht 1,2 Ep. Dies wird multipliziert mit dem Zugangsfaktor ZF, der eine Minderung bei vorzeitigem Renteneintritt bewirkt (pro Jahr 3,6 %) oder bei späteren Renteneintritt eine Erhöhung bewirkt. Die Summe wird darum mit Raf, dem Rentenartfaktor multipliziert, z.B. Faktor 1,O bei Altersrente und Erwerbsunfähigkeitsrente, 0,66 bei Bcrufsunfähigkeitsrente. Das Resultat wird dann mit dem aktuellen Rentenwert aRw multipliziert, z.B. 38,40 DM im Jahr·1989 So bekommt ein normaler Rentner, der seit dem 15. Lebensjahr bis zum 65. gearbeitet hat, ca. 70 % des bisherigen Netto raus. Das, so erfährt man in den Medien, soll nach der Reform auf 64 % gesenkt werden. Leider wird aber verschwiegen, daß nur 17,8 % der erwerbstätigen männlichen Bevölkerung eine normale Altersrente erhält. Alle anderen sind schon vorher ausgelaugt. So erhalten ca. 40 % eine Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente, die gemäß Zugangsfaktor und Entgeltpunkte natürlich viel niedriger ist. Nehmen wir mal an, es ist jemand Fernfahrer. Dann ist nach 10 bis 15 Jahren nämlich seine Wirbelsäule berufsunfähig beschädigt. Bekäme er dafür ca. 700 DM Berufsunfähigkeitsrente im z.B. Alter von 35 Jahren, dann könnte er davon zwar nicht leben, er würde aber der Rentenversicherung nun möglicherweise 700 x 12 Monate = 8.400 DM jährlich kosten. Da er nicht arbeitet, könnte er vielleicht noch bis zum 80. Lebensjahr leben, also noch 45 Jahre, das wären dann 378.000 DM. Außerdem würde er vom 35. bis zum 65. Lebensjahr, also 30 Jahre lang nicht einzahlen, wodurch ja auch noch ein Verlust entsteht. Deshalb gibt es den Grundsatz "Rehabilitation geht vor Rente". Er würde umgeschult in einen anderen Beruf, z. B. Speditionskaufmann. Dies kostet die zuständige Sozialversicherung zwar ca. 150.000 DM, was aber schon nach 3 1/2 Jahren eingearbeitet wäre. Der Arbeitnehmer könnte also wieder einzahlen, würde nichts kosten und vielleicht auch noch früher sterben, so daß er nur eine Rentenzeit von 2 1/2 Jahren hätte, was der durchschnittlichen Lebenserwartung von abhängig Beschäftigten entspricht. Für den Versicherten ist es finanziell natürlich auch besser, durchschnittlich 2.800 DM netto zu verdienen statt von 700 DM monatlich leben zu müssen bzw. ergänzt durch Sozialhilfe.
 
Dieser Grundsatz "Rehabilitation geht vor Rente" ist aber nach dem neuen Rentengesetz abgeschafft worden, denn wenn gesunde Leute schon keine Arbeit haben, braucht man nicht für 150.000 DM anders ausgebildete Arbeitslose zu produzieren. Allerdings soll auch die Berufsunfähigkeitsrente abgeschafft werden.
 
Statt dessen wird nun die ''Erwerbsminderungsrente'' konstruiert, die man etwa in der Höhe der Berufsunfähigkeitsrente erhalten kann, sofern man täglich nicht mehr als drei Stunden arbeiten könnte. Das waren in unserem Beispiel die 700 DM monatlich. Wenn man 3 bis 6 Stunden noch arbeiten kann, erhält man die halbe Erwerbsminderungsrente. Als Anreiz wird verkauft, daß man ja jetzt zur Rente Arbeitsentgelt dazu erhält. Aber auf der Suche nach einer Teilzeitarbeit besteht nicht der geringste Berufsschutz, sondern der "Behinderte" muß jede nur denkbare Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich ist, ausüben".
 
Bisher hatte: der Berufsunfähige das einklagbare Recht, einen gleichwertigen Beruf zu erlernen und damit einen vollwertigen neuen Beruf auszuüben. Vor dem Hintergrund von 5 Millionen Arbeitslosen gibt es weder genug Teileitarbeitsplätze für Behinderte in ihren alten Berufen noch werden für die Teilzeitarbeitsplätze aufwendige Qualifizierungen finanziert. Behinderte werden so auf Teilarbeitslosengeld, Teilarbeitslosenhilfe verwesen. Als flankierende Maßnahme, in einem anderen Gesetz versteckt, wurde die Erwerbung auf Arbeitslosengeld während der Umschulungen, die noch genehmigt werden, beendet. Bisher war es so, daß die Umschüler nach der Umschulung, sofern sie nicht sofort Arbeit finden. Anrecht auf Arbeitslosengeld erworben haben. Dies, wie gesagt, entfällt nun, und sie bekommen dann nur Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe.
 
Die SPD will, falls sie 1998 in Regierungsverantwortung gewählt werden sollte, das Rentenreforrngesetz rückgängig machen. Sie will die versicherungsfremden Leistungen über Steuern finanzieren, die Lohnnebenkosten senken und ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm auflegen.
 
Ob davon nach der Wahl, falls die dazu erforderliche Mehrheit zustande kommt, noch die Rede sein wird, ist mir unklar. Schon jetzt gibt es von Schröder Hinweise, daß er mit der CDU den Kompromiß sucht, was verdächtig nach großer Koalition riecht. Ich hoffe aber, daß es für die Kohl-Regierung nicht mehr reichen wird, die dabei ist, den Sozialstaat an die Wand zu fahren.
 
Angesichts solcher pessimistischen Prognosen kann man vielen Jugendlichen nicht verdenken, daß sie von der bösen Welt nichts sehen wollen, Romantiker oder Träumer werden, auf dem Vulkan tanzen und für Religion, Esoterik und platten Vorurteilen leichter zu begeistern sind als für die nüchterne Analyse der Zusammenhänge. (Joachim Schönert)
 
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