43. Lust: Aug/Sept 97
Rituale unter Lesben und Schwulen
Was bedeuten die Tücher in der Lederszene? Die Bedeutung der Umarmung in den Gruppen und Freundeskreisen. Gibt es bestimmte Verhaltensrituale in Lokalen, Saunen, Diskotheken, im Park ?Gibt es lesbische und schwule Traditionen?
 
1. Traditionen
Ob es überhaupt Traditionen gibt, ist davon abhängig, ob es jemanden gibt, der sie braucht. Welche Traditionen es gibt, ist ebenfalls davon abhängig, was man braucht. Wozu? Für den eigenen Vorteil in einer aktuellen Situation. Ebenso ist es mit religiös-politischen Aussagen.
 
Etwas als eine Tradition auszugeben, bedeutet demnach, dieses zu mystifizieren, damit das aktuelle Interesse dahinter nicht erkannt wird. Bist du etwa gegen unsere Traditionen, das Heiligste unseres Vaterlandes oder unserer Kirche, du Schuft? Und traditionell ist das xy-Volk eben gegen Homosexualität eingestellt. Pech für dich, aber das ist nun mal so.

Gibt es nicht die Möglichkeit, diesen Umstand für uns gegenüber moralistischen Heterosexuellen nutzbar zu machen? Etwa so: ,,Schon immer gab es bei den Deutschen die Tradition, Minderheiten zu achten und ihnen wohlwollend zu begegnen." Nun ja, ich weiß schon, das glaubt uns kein Mensch.
 
Gibt es denn nicht wenigstens innerhalb der Lesben- oder Schwulenszene die Möglichkeit, die Lesben oder Schwulen glauben zu machen, daß es unter uns eine Tradition des massenhaften engagierten Aufbegehrens gibt? Eher kann man Lesben und Schwulen glauben machen, daß es eine Tradition des teuer Gekleidetseins gibt, verbunden mit dem Gebrauch einiger streng riechender Flüssigkeiten, wie uns das die entsprechenden Mode-Avantgardisten von Lagerfeld über Joop bis Jil Sander bestätigen werden. Irgendwie scheint es mit den Traditionen bei emanzipatorischen Zielen nicht so ganz zu gelingen. Die klappen da schon besser bei Geschäftsideen und konservativen Zielen.

Gibt es denn keine Verhaltensweisen in der Lesben- oder Schwulenszene, die uns aktuell nutzen und die wir deshalb als Tradition ausgeben können? Vielleicht war geradezu unser Glück, daß es in ,,unserer Geschichte" keine eigentlichen Traditionen gibt, wenn man von der 100-Jahr-Feier in Berlin absieht, die dort sicher jemand benötigte, was aber in der Szene eigentlich niemanden bewegte.
 
Ich glaube, daß die Menschen unserer Szene ihren Spielraum gerade daraus gewinnen, daß sie sich nicht eingrenzen und festlegen lassen, allen solchen Versuchen immer wieder entschlüpfen. Und dies geschieht nicht nur so zwischen uns, im inneren sozusagen.
Wir als Lesben und Schwule profitieren gerade davon, daß in der Gesellschaft sogenannte Traditionen aufweichen, daß die religiös-moralischen und politisch-konservativen kleinstädtischen, spießigen und menschenrechtsverachtenden Auffassungen, Rituale und Gebräuche gegenwärtig weniger Zuspruch haben. Dies sollten die bedenken, die mit uns in irgendeiner Form Geschäfte oder Politik machen wollen. ,,ln uns habt ihr welche, auf die ihr nicht bauen könnt."
 
2. Rituale
Tradierte Verhaltensweisen, an die sich die Angehörigen einer Szene halten, vermitteln Heimatgefühle. Diese Rituale hatten zumeist einmal einen nachvollziehbaren Zweck, der unterdessen abhanden gekommen ist. Das ist so, als ob man Sex nur nach einem bestimmten Ritus mit Parisern durchführen würde, obwohl der Grund dazu (die Aids-Gefahr) unterdessen fortgefallen wäre (was übrigens leider nicht der Fall ist).

Gibt es Rituale in unserer Szene? Ich glaube, daß dies nicht der Fall ist. Was sich bei uns abspielt auch wenn wir diese bestimmten Verhaltensweisen erst erlernen müssen, ist bei uns in der Regel auf vernünftige Überlegungen zurückzuführen, ist nicht von dem Zweck entfernt, für den sie sich einbürgert haben.

Versuche, Rituale oder Symbole einzuführen, sind nicht über die Stufe der Orientierungshilfe hinaus gekommen. So gab es in den USA den griechischen Buchstaben Lambda als Erkennungssymbol für Schwule. So wie das Pi für eine Formel zur Kreisberechnung steht, wird Lambda für die Frequenzformel bei der Antennenberechnung benutzt.
 
Menschen mit diesem Symbol haben also die gleiche Frequenz, sollte der Anhänger am Silberkettchen signalisieren. Durch die anfänglich diskriminierenden und schwulenfeindlichen Medienkampagnen gegen HIV-lnfizierte und an Aids Erkrankte (Aids wurde dort Schwulen-Seuche genannt), wurde das Lambda von der schwulenfeindlichen Presse als Erkennungszeichen für angebliche Seuchenherde (Schwule) ,,ge-outet", was das Lamda als heimliches Erkennungszeichen aus der Mode kommen ließ
 
Die Regenbogenfahne, die als Solidaritätssymbol mit den HIV-lnfizierten erfunden wurde, ist unterdessen zur Kennung der lesbisch-schwulen Gay-Szene geworden und soll dort die Vielfalt unserer Szene symbolisieren, während die Solidarität mit den Opfern nun durch die rote Schleife ausgedrückt wird. Rituale konnten sich nicht durchsetzen oder etablieren, wohl aber Erkennungssymbole.
 
3. Verhaltensweisen und Erkennungszeichen
Wie ,,Mann" sich in einer Sauna, im Park, auf der Klappe usw. verhält, kommt über Nützlichkeitserwägungen nicht hinaus, ist also auch erfreulich sachlich und nicht rituell begründet. Der Versuch einer Lesbengruppe in Nürnberg, ein Lesben-Cruising in einem Park zu installieren, scheiterte daran, daß keine anderen Lesben auftauchten. Und dabei hatte die Gruppe wirklich alles gut vorbereitet. Sogar für Schutz war gesorgt worden, eine Schwulengruppe erklärte sich dazu bereit. Daß ,,Frau" in der Lesbenszene nicht einmal über Erkennungszeichen verfügt, hat etwas damit zu tun, daß es eine solche Szene mit einigermaßen stabilen Strukturen noch weniger gibt als bei Schwulen. Meistens orientieren sich Lesben an den Schwulen, bisweilen auch an den Themen der Feministinnen.
 
Der Versuch, das Schamhaardreieck beziehungsweise eine Vagina mit einem Zeichen beider Hände andeutend zu einem Kennungszeichen zu machen, mußte schon an (doppel)moralischen Barrieren der eigenen Szene scheitern. In schwulen Kreisen haben sich in bestimmten Regionen der Erde ganz unsterschiedliche Erkennungszeichen entwickelt, so der Griff ans eigene linke Ohrläppchen in einigen orientalischen Ländern. Hier kommt es darauf an, daß nur die Szeneangehörigen dieses Zeichen erkennen können.
 
Der Griff an den eigenen Schwanz in den Jeans ist als sehr direkte Einladung zu Sexspielen in den USA entstanden und auch hier verstanden worden, hat aber nicht den Vorteil, es als zufällige Geste auslegen zu können und hat bei (doppel)moralischen Schwulen zu oft nicht die erhoffte Wirkung. In den 50er Jahren galt der blaue Rollkragenpullover als Kleidungsstück der Schwulen, und viele Schwule hielten sich dran. In einer Sauna erfuhr ich von einem Handtuchcode.
 
Hing ein Handtuch oben über die Kabinenwand (die Kabinen waren nicht verschließbar), dann signalisierte das, daß ein Eintreten nicht erwünscht war. Hing dort nichts, dann war man entweder eingeladen, oder die Kabine war leer. Eine ablehnende Handbewegung des in der Kabine Ruhenden bedeutete, daß die oberflächliche Prüfung des Eintretenden keine Begehrlichkeit geweckt hat. Kommt kein Signal, ist man am Bedientwerden interessiert, vom Eintretenden werden Aktivitäten erwartet. Ansonsten kann der Ruhende dem neben ihm Stehenden unter das Handtuch greifen. Auch mitten bei der Anwendung kann eine ablehnende Handbewegung den Besuch in der Kabine beenden.

Es fallt auf, daß alle Zeichen darauf angelegt sind, sich wortlos zu verständigen. Die Gepflogenheit, sich wortlos an den unterschiedlichen Plätzen der sexuellen Kommunikation zu begegnen, hat ihren Ursprung sicherlich in einer Zeit, in der es das Leben retten konnte, wenn man möglichst wenig übereinander wußte. Der Tuntenhaß hat außer den Geschlechtsrollenanpassungen mit den entsprechenden gegenseitigen Sanktionen auch noch den Hintergrund, daß man sich outet, wenn man mit einer erkennbaren Tunte gesehen wird.
 
Das ,,Schweigen der Schwulen" kam (und kommt immer noch) den Kommunikationsschwierigkeiten allgemeiner Art entgegen: Wenn eigentlich klar ist, was man nun miteinander möchte, können Worte das Einverständnis eigentlich nicht fördern, höchstens noch verhindern. Vieles mit Gesten Ausgedrückte würde, in Worte gefaßt, sehr provozieren, vielleicht sogar abstoßen, denn mit den Begriffen lernen wir auch Urteile Stimmungen und Meinungen mit, die das Erwünschte ungewollt negativ kommentieren, so daß man oftmals mit Worten nicht wertfrei ausdrücken kann, worüber man sich verständigen muß, zumindest ist nie im Vorfeld klar, wie der andere diese Worte auffassen könnte.

In Saunen, Dark-Rooms, Parks (auch im Gebüsch bei Autobahnraststätten) und Klappen geht es entsprechend wortlos ab. Viele lieben die prickelnde erotische Stille, die höchstens ein Keuchen erlaubt. Ein Gesprächsversuch wäre da ein krasser Stilbruch, zumal alle zuhören würden.

In den Parks ist es der Griff an den Schwanz in den Jeans, manchmal auch ohne Jeans, besonders dort, wo in der Nähe ein FKK-Strand ist. In solchen Fällen hat man meistens nur ein Handtuch für unterschiedlich Zwecke dabei, auch zum Verbergen natürlich, falls man nicht will, - Sehen lassen, falls man will.
 
Hier muß der Griff an die Jeans nicht unbedingt den eigenen Jeans gelten. Parks und Klappen sind auch gleichzeitig die gefährlichsten Orte, weil hier die Schwulenticker lauern. Es handelt sich um Jugendgangs, die mit unglaublicher Brutalität Schwule überfallen, sie zusammenschlagen oder ermorden, sie ausplündern. Schwule sind ihnen Menschen dritter Klasse, mit denen man derart

umspringen darf, und man tut auch noch etwas für das Gemeinwohl der schweigenden Mehrheit. Oft sind es Nazis oder ausländische Cliquen, die eine politische oder religiöse Begründung für ihr Handeln haben. Einer tut so, als wolle er mitmachen, die anderen kommen im entscheidenden Augenblick dazu und steigern sich in immer heftigere Beschimpfungen und dann in Schläge und Tritte, oftmals auch Messerstiche usw.
 
Es wurde versucht, die Parkbesucher zu bewegen, mit Trillerpfeifen um Hilfe zu rufen. Aber das führte dazu, daß die Trillerpfeife eher als Signal zur Flucht verstanden wurde. In San Francisco gab es eine Zeitlang eine lesbische Motorradgruppe, die zugunsten schwuler Parkbesucher dort Streife fuhr. Zum Kapitel der Gewalt gegen Schwule wäre an anderer Stelle noch manches zu sagen.

In Dark-Rooms bewegt man sich tastend und findet also so manches. In Klappen ist es die gegenseitig gezeigte Erektion, die ein Einvernehmen symbolisiert. Es ist dies so wie beim Gähnen. Gähnt jemand, muß man auch gähnen. Eine Erektion ruft eine andere hervor. Damit werden allerdings bisweilen auch Heteros erschreckt, die eine Klappe einfach zum Pinkeln mißbrauchen wollen (Wer es noch nicht weiß, Klappen sind solche öffentlichen Toiletten, die zu sexuellen Begegnungsstätten wurden).
 
In manchen Klappen sind die Kabinenwände durchbohrt, so daß man sich gegenseitig beim Wichsen beobachten kann. Unter den Kabinenwänden ist ein Spalt, der schwule Begegnungen verhindern soll, und der wird dann für Handreichungen ganz gerne genutzt. Manchmal sind die Löcher so groß, daß man seinen Schwanz dort durchstecken kann und dem Partner in der Nachbarkabine für dessen geschickten Finger, dessen Zunge vielleicht oder auch, wenn's vom Winkel her geht, anderen Organen überläßt.
 
Der in Safer-Sex-Praktiken Unterrichtete mag's mit Grausen lesen. Aber in den Cruising-Areals der Parks und Autobahnraststätten findet man heutzutage eben nicht nur die in der Natur leicht abbaubaren Kleenex oder Taschentücher, sondern die weit beständigeren Pariser, was schon für einige Irritationen sorgt, aber doch Beleg dafür ist, daß Safer-Sex stattfindet.
 
In der Lederszene hat sich ein Code mit unterschiedlichen Tüchern entwickelt, den Ihr in dem hier eingefügten Kasten vorfindet, und der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt. In Cliquen, die sich oberflächlich kennen, wie auch in Gruppen gibt es die angenehme Gewohnheit, sich beim Begrüßen und Verabschieden zu umarmen und zu küssen.
 
Damit wird, auch wenn eine Rivalität um den gleichen Typ zum Beispiel entstanden ist, eine Brücke gebaut. Diese Umarmungen geben auch die Möglichkeit, sich durch bestimmte Griffe oder intensivere Küsse verständlich zu machen, was oftmals seine Wirkung nicht verfehlt und in so manchem Gruppenklima mit der gegenseitigen Kontrolle, auszusprechen nicht immer einfach ist. Mich hat überrascht, daß Lesben in gemischten Gruppe ganz schnell an dieser Umgangsform teilnahmen und ich so einige Küsse erhielt, die so manche Schwulen nicht hinkriegen.
 
4. Prinzipien
Einige Verhaltensweisen, die angeblich seit undenklichen Zeiten existieren, lernte ich bei meinem Eintritt in die Schwulenszene kennen. Ich konnte sicher sein, daß ich nie von einem anderen Schwulen an einen Hetero verraten wurde. Schließlich muß jeder selbst entscheiden, ob er die Reaktionen der heterosexuellen Umwelt zu ertragen in der Lage ist. Das änderte sich mit der sogenannten Outing-Debatte.
 
Auch konnte ich immer für meine Neigungen, sexuellen Versuche und Handlungen in der Schwulenszene Toleranz und Akzeptanz erwarten, besonders auch von denen, die ganz andere Neigungen als ich hatte. Und bei allem Neid gegenüber dem, der mit einem solchen Typ abzog, den ich selber liebend gerne vernascht hätte, war doch dessen Recht mit diesem Typ Spaß zu haben viel größer als zum Beispiel die Vorbehalte einiger unverständiger Heteros, Heteras und solcher Schwuler, die ihr Coming-out noch nicht ganz geschafft haben. Auch das scheint sich unterdessen etwas geändert haben.
 
Moralapostel oder Doppelmoral-Gewinnler in den eigenen Reihen scheuen sich nicht, Kampagnen gegen andere zu fahren, mit dem Ziel, den anderen besonders auch vor Heteros unmöglich zu machen, wenn es der eigenen Geltung oder dem Geschäft nützen könnte. In der Lesbenszene ist es das Cliquenwesen, das es Newcomerinnen erschwert, Kontakte zu finde. Die Cliquenqueen wird abgeschirmt und schirmt ihrerseits ihre Anhängerinnen gegen Außenkontakte ab, manchmal auch sehr demütigend für die Newcomerin.
 
Daß die Prinzipien der gegenseitigen Achtung ausgerechnet in unserer Szene derart den Bach runtergehen, zeigt, daß auch die Schwulen und Lesben sich auf eine Art Normalität einstellen, wie sie sich in unserer Gesellschaft zunehmend zeigt. (Joachim Schönert)
 
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