42. Lust: Juni/Juli 97
Lesben und Schwule haben Geld
Das wird zumindest überall verbreitet und es scheint auch viel dafür zu sprechen. Die Kaufkraft der Lesben und Schwulen interessiert vielleicht auch deshalb, weil im Konsumbereich nicht nur Grenzen erreicht sind, sondern auch Umsätze und Gewinne zurückgehen. Im Spiegel und im Focus werden "Gay-Manager" interviewt, die sich zunehmend in einer eigenen Organisation zu Wort melden. In Diskotheken, auf großen Festen, in der Kneipenszene, in den Saunen, überall sieht man gutgekleidete elegante Lesben und Schwule (in den Saunen vielleicht doch nicht) mit teuren Frisuren hinter teuren Getränken im Alter von ca. 25 - 35 Jahren, Sonnen- und Solariengebräunt. Vielleicht muß eine Frau nur lesbisch, ein Mann nur schwul werden, um aus der finanziellen Misere zu kommen und um jung und begehrenswert zu bleiben?
 
Haben wir 1. mehr Geld in den Taschen als die Heterosexuellen? 2. Wenn ja, warum? 3. Wenn nein, weshalb dann das Geld-Image? Schließlich noch Punkt 4, eine politische Würdigung der Vorgänge, denn als schwulenbewegter Mann habe ich auch an gesellschaftspolitische Auswirkungen zu denken. Ich beginne mit Punkt 2. Das darf ich, weil wir als Lesben und Schwule das Recht haben, anders zu sein, uns deshalb zumindest das Recht nehmen sollten, es anders zu machen.
 
2. Warum haben wir mehr Geld in der Tasche?
Weil Lesben und Schwule aufgrund ihres Stigmas einen besonderen Karrierewillen haben und deshalb häufiger in führenden Positionen anzutreffen sind? Weil Lesben und Schwule zumeist nicht für eine Familie sorgen müssen, und wenn sie in Beziehung leben, gehören sie zur Gruppe "DINK" (Double Income, no Kids).
 
Gay-Zeitschriften werben unter den Produktanbietern um Werbekunden für bezahlte Anzeigen mit dem Argument, daß es sich bei uns um eine Szene mit gehobenen Einkommen und gehobenen Ansprüchen handelt, im Bereich Körperpflege, Body-Building, Mode, Freizeit, Kultur. Bevor diese Firmen in schwulen Zeitschriften warben, was taten Lesben und Schwule da? Verzichteten sie auf ihre Körperpflegemittel?
 
Es wird verkündet, daß Angehörige der schwul- lesbischen Gay-Szene mit Recht besonders umworben werden sollten, da sie in den betreffenden Konsumbereichen Meinungsführer seien. Die Hausfrauen orientieren sich also an den modischen Trends der Lesben, die Hetero-Body-Bilder an schwulen Body-Bildern? Der SVD, zusammen mit einer Maklerfirma, bot für schwule Rentner mit Kapital eine komfortable Möglichkeit, auch den Lebensabend unter wohlhabenden Schwulen zu verbringen.
 
Allerdings wehrten sich die dort schon wohnenden wohlhabenden Heterosexuellen, die Stricher, Drogen und Unmoral durch ein schwules Altersheim befürchteten, was widerum die möglichen schwulen Kapitalanleger davon abhielt, gerade hier ihr Kapital zu investieren. Oder gab es einfach zu wenige schwule Wohlhabende, die dort investieren konnten oder wollten? Von den Wirtschaftsverbänden, so verkündete der Vorsitzende des Völklinger Kreises, Franjo Körner, sei der DGB homosexuellen Fragen gegenüber relativ aufgeschlossen, die Herren des BDI und des BDA seien dagegen knallhart dagegen. Dennoch käme man ständig weiter.
 
1. Haben wir wirklich mehr Geld in der Tasche?
Ich meine, daß dies nicht der Fall ist. Lesben und Schwule verdienen für die gleiche Arbeit genausoviel wie Heterosexuelle in gleicher Position. Ob es vergleichbar mehr Lesben und Schwule in beser bezahlten Berufen und in höheren Positionen gibt, kann nicht belegt werden, weil Menschen in höheren Positionen nicht irgendwo zu Protokoll geben, welche sexuelle Identität sie haben.
 
Und da nicht einmal alle Lesben und Schwule sich irgendwo statistisch registrieren lassen, kann auch nicht erforscht werden, ob Lesben und Scwule im Verhältnis zu ihrer Population öfter in höheren Positionen beschäftigt sind als Heterosexuelle. Vielleicht treten Lesben und Schwule mit bestimmten Berufen häufiger in Erscheinung, was auch damit zu tun haben könnte, daß z.B. ein Student weniger negative Sanktionen erfährt als ein Bauarbeiter.
 
Es könnte aber sein, daß Lesben und Schwule nach ihrem Coming-out versuchen, in solche Arbeitsherhältnisse überzuwechseln, die weniger Repressionen und Mobbing vermuten lassen. Aber sind Friseur, Verkäufer oder Krankenpfleger Berufe, bei denen so viel verdient wird? Fest steht allerdings, daß arbeitslose Lesben und Schwule seltener in unseren Betrieben auftauchen, weil sie das Geld dazu nicht haben.
 
Und die das Geld nicht dafür haben, jede Woche auszugehen und dort als wohlhabend zu gelten, gehen eben nicht jede Woche aus. Aber die, die ausgehen, müssen sich an die Szene-Normen halten, um dort anerkannt zu sein, das heißt, sich nicht anmerken zu lassen, wenn man Geldschwierigkeiten hat. Wieviel verdienen die ganzen schwulen Friseure, Krankenpfleger, Kaufhaus-Verkäufer, usw. wirklich?

Selbstverständlich geben Schwule dort, wo sie einen großen Teil ihres "wirklichen Lebens" verbringen, vergleichsweise mehr Geld aus als an anderen Orten, wo sie seltener anzutreffen sind. Da ist natürlich schon ein Markt. Die "Familie" der Schwulen, so schreibt Martin Dannecker in "Der gewöhnliche Homosexuelle", ist die Kneipenszene. Die begrenzten Möglichkeiten der Kommunikation im unbegrenzten Unterhaltungsangebot unserer Szene suggerieren Frohsinn, Unbeschwertheit, Spaß.
 
Je greller der Frohsinn, um so bersser ist er in der Lage, Einsamkeit, Unbefriedigtsein, tiefe Frustration, Selbstunterdrückung, Schuldgefühle usw. zu überdecken. Tiefer ins wirkliche Leben einzusteigen, verbietet das ungeschriebene Gesetz, daß man ausgeht, um sich zu vergnügen. Ein ernstes Gespräch zieht runter, führt nicht zum Erfolg.
 
Erfolg bei der Partnerwahl durch das Zeigen von Ernsthaftigkeit und Problemen hat nur, wer es sich vom Alter und Aussehen her leisten kann, mit der Rolle der/des hilflosen Schutzsuchenden dann zahlungskräftige oder solche Frauen und Männer anzusprechen, die sich gut dabei fühlen, ihrerseits die Rolle des Helfers und Ratgebers, der Rertgeberin und Helferin zu spielen. Ratgeber(inen) zahlen dabei zumeist drauf. Wer die Rolle des/der Hilflosen in unserer Szene nicht (mehr) zu spielen erlaubt bekommt, kann beim Hilfesuchen eher mit schadenfrohem Gelächter rechnen, denn warm ist unsere Szene eher nicht. Das wissen alle und verhalten sich entsprechend ähnlich kalt (oder interessengebunden berechnend zugänglich).

Das Image der wohlhabenden erfolgreichen Szene haben sich lesbische und schwule Geschäftsleute und Politiker selbst aufgebaut, weil es für sie so oder so einträglich ist. Was für die lesbischen und schwulen Personen in Punkto Reichtum nicht stimmt, für die Szene stimmt es ja. Sie strahlt Wohlhabenheit aus.

Dieses Image ist nicht gerade förderlich für emanzipatorische Bestrebungen. Aber die hegen ja die entsprechenden Macher, Geschäftsleute und Politiker sowie die Vergnügungssuchenden Gäste in den Lokalen auch gar nicht.

Die Lesben und Schwule lernen, wie sie sich zu geben haben, damit sie einigermaßen erfolgreich sind und eine entsprechende Anerkennung erhalten. Zu wem oder zu was kann man stehen, in der Szene? Zu sich, wie man ist und welche Neigungen, Wünsche und Sehnsüchte man hat? Oder steht man eher zu dem, wie man zu sein hat, und schämt sich sogar, wenn man es nicht ganz erreicht? Auf was ist das Bestreben gerichtet?
 
Sich frei zu machen von Zwängen und Normen, um sich selbst so zu finden, wie man ist? Oder vielleicht das beste Stiling, die trainiertesten Körper, die effektvollsten Smal-Talk-Elemente und die vorteilhafteste Kleidung einzusetzen, um sich an die vorgegebenen Normen anzupassen? Das wäre das Bestreben nach den besten Täuschungen und Tricks, hinter denen man egoistisch seine direkten Ziele zu erreichen sucht. Die lesbisch-schwule Szene wird normal. Sie will so normal sein, wie es jene heterosexuellen Singels schon sind, die es nicht nötig haben, an den Normen und Werten dieser Gesellschaft zu zweifeln. Und was ist heutzutage in der Vergnügungsindustrie aller sexuellen Neigungen normal?

Früher definierten sich viele Leute über ihren Beruf, ihre Arbeitskraft. Das ist zunehmend problematisch geworden. Heute definieren sich die Leute über ihre Kaufkraft. Niemanden interessiert, woher sie kommt. Überhaupt ist man ja nur an oberflächlichen gesellschaftlich angelegten und nicht hinterfragten Kenngrößen interessiert. Und wer monatlich nur eine geringe Kaufkraft hat, der kann vielleicht ein Mal im Monat das Gefühl großer Kaufkraft empfinden.
 
3. Warum tun wir so, als ob wir mehr Geld haben?
Geld zu haben, das ist in einer Gesellschaft, die Menschen nach ihrem Marktwert bewertet und Menschlichkeit nach der Kaufkraft verteilt, schlicht ein Stärke- und Machtfaktor. Lesben und Schwule sind eine Minderheit, die eigentlich nicht akzeptiert ist, sondern eher "großzügig" toleriert, was beinhaltet, daß man uns auch jederzeit nicht mehr tolerieren kann. Wenn es opportun erscheint, wäre es ein Leichtes, irgend etwas aus unserem Leben in der Disco, der Sauna, der Kneipe usw. zu nutzen, um eine Kampagne gegen uns zu führen. Das befürchteten schon viele damals bei der Wörner-Kießling-Affäre.
 
Verteidigungsminister Wörner entließ damals den Bundeswehrgeneral Kießling, weil der verdächtigt wurde, schwul zu sein. Wegen der Erpreßbarkeit (es könnte rauskommen, daß es schwul sei) könne ein Schwuler kein militärischer Führer sein, argumentierte damals Wörner und zwang damit viele Schwule beim Militär, sich zu verstecken und damit erpreßbar zu sein, damit nicht ihre Karriere durch den CDU-Minister beendet wird.
 
Die Gauweilereien beim Ausbrechen der Aids-Katastrophe wurde von vielen als Anzeichen der kommenden "geistig-moralischen Wende" angesehen, die die Kohlregierung der Bevölkerung androhte, nachdem Kohl durch das Überlaufen der FDP den SPD-Kanzler beerben konnte. Unterdessen erleben wir, daß die nachgewachsenen Schwulen in der Lage sind, selbst miese Kampagnen gegen solche Schwule zu führen, die sich mit dem ihnen von der Szene zugewiesenen Platz nicht abzuifinden bereit sind. Die schwulen Mobbing-Spezialisten können sich da der gesellschaftlichen Vorurteile auf ihrer Seite sicher sein.

Was uns junge Schwule über miese Mobbing-Methoden durch ihre Mitschüler erzählen, die ja ihre pubertären und spätpubertären Profilspielchen zunehmend wieder auf Kosten von Menschen erproben, welche sich schlecht wehren können, widerlegt, daß es erreicht sei, das Ziel der Gleichheit. Haben wir wirklich das Ziel der Gleichheit? Ja, wenn es ums Abtauchen geht. Aber wir wollen ja durchaus auch einer Minderheit angehören, wir Lesben und Schwulen, allerdings nicht einer stigmatisierten, sondern einer besonders angesehenen, z.B. der Minderheit der Besserverdienenden. In der Masse unerkannt sein, das wollen wir ja auch nicht immer gerade. Oder?

Gleichheit wollen wir also eigentlich nicht. Wenn schon anders, dann herausragend, und das geht am besten mit Geld. Nur leider, wir haben auch nicht mehr davon als andere. Man kann diesen Eindruck des Reichtums nur erwecken, wenn man zum Beispiel den Gay-Manager mir dem Hetero-Industriearbeiter vergleicht, und nicht den heterosexuellen BDI-Präsidenten mit der Lesbe im Kindergarten und dem schwulen Krankenpfleger. Und Frauen verdienen, außer im öffentlichen Dienst, bei gleicher Arbeit immer noch sehr oft weniger als Männer, auch wenn sie Lesben sind.
 
4. politische Wertung
Wir wollen also stark erscheinen, mit Mitteln, wie sie in der Gersellschaft als Stärkezeichen üblich sind, damit unsere Schwäche nicht offenbar wird. Es sind dies aber individuelle Stärkezeichen, Reichtum und Schönheit, die am meisten in der eigenen Szene konkurrierend wirken und nicht solidarisierend.

Aber das Mittel der scheinbaren Stärke ist auch gegenüber außen ein gefährlicher Drahrseilakt. Sind wir wirlich so stark? Wir sind nach wie vor eine stigmatisierte Minderheit, was in unserer Szene nicht direkt spürbar ist. In Schule und Beruf, in allen Bereichen, in denen wir mit uns relativ fremden Heterosexuellen zusammenkommen, haben wir uns Verhaltensweisen angewöhnt, die uns von den erwarteten oder angenommen Erklärungs- oder Rechtfertigungszwängen entlasten sollen. Sie haben etwas von Selbstzensur und fallen uns im täglichen Umgang kaum mehr auf, so sehr haben wir uns an sie gewöhnt.

Wir sind nicht Mindeheit aufgrund des Geminsamkeitsgefühles, denn das geht uns ja ab. Viele schmuggeln sich ja auch in die Reihen der Verfolger des nicht-normgerechten Geschlechtsverkehrs. Doch als stigmatisierte Minderheit kommen "die Schwulen" direkt hinter den Juden und noch vor den Ausländern, was Umfragen betrifft. Das wußtet Ihr nicht? Der relativ freundliche Umgang der Behörden mit uns (aber es gibt auch noch die direkte Verfolgung durch Behörden) ist nur ein Reflex auf diese Situation.

Viele möchten nicht gerne verfolgt werden und ignorieren deshalb die Verfolgung ganz gerne. Und wer sich weitgehend angepaßt hat und als Teil einer angesehenen Elite wähnt, findet letztlich die Solidarität mit den "perversen Verhaltensweisen" der "bösen Schwulen", die sich eben nicht anpassen wollen, entbehrlich.

Die Juden werden und wurden nicht wie z.B. die Ausländer verfolgt, weil sie so arm seien und uns massenhaft Arbeitsplätze und Wohnungen wegnehmen würden, sondern weil sie so reich seien, sich gegen uns Deutsche weltweit verschworen hätten, alle unter einer Decke stecken würden und somit am persönlichen Nachteil des treu sorgenden deutschen Familienvaters profitieren würden, wie auch an der wirtschaftlichen Schwäche des Vaterlandes. Dadurch, daß wir als Gruppe öffentlich so tun, wir seien wirtschaftlich stark, unsere Szene halte zusammen und habe Einfluß, rücken wir auch noch in die Nähe des Stigmas, das ich bei den Juden beschrieben habe, denn lieben tun sie uns nicht, die Heteros.

Ein jüdischer Unternehmer gilt im Krisenfall als dreckiger Jude, der den deutschen Arbeiter rausschmeißt, und ein schwuler Personalchef ist dann ein dreckiger Schwuler, der einen Vater von drei Kindern rausschmeißt und sich einen schwulen Freund an die Seite holt. Solche Verschwörungsvorwürfe sind nämlich auch gelegentlich zu hören, sogar von Schwulen und Lesben gegenüber anderen Schwulen und Lesben, wie man auch antijüdische und fermdenfeindliche Töne in unserer Zzene hören kann. Tja, wir werden eben das, was man "normal" nennt.
(Joachim Schönert, 42.LUST)
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