40. Lust: Febr./März 97
 
Wo bleibt unsere befreite Sexualität?
Zu diesem Thema veranstaltete die Rosa Lüste einen Gesprächsabend, hier das Referat dazu:
 
Die Sexualität brauche nicht mehr befreit zu werden, höre ich, alles sei überall voller sexueller Symbolik. Im Gegenteil. Man könne sich kaum mehr retten vor lauter anzüglichen Darstellungen in den Medien, in der Werbung. Ganz junge Leute würden schon sexualisiert, bevor sie in der Lage seien, zu überschauen, welche Auswirkungen das alles habe, bevor sie in der Lage seien, den Wert einer echten Beziehung einschätzen zu können.

Gegenüber wen könnnte unsere Sexualität befreit werden? Da wäre zuerst einmal die staatliche Bettenguckerei, wie z.B. sowohl im Kuppeleiparagraph wie im Homosexuellenparaph und anderen Bereichen des Sexualstrafrechtes. Doch die von mir benannten Gesetze sind zum Teil abgeschafft, zum Teil gemildert oder werden zum Teil kaum angewendet, wie zum Beispiel der Pornographieparagraph.
Befreiung vor Bevormundung durch Eltern? Eltern bevormunden eigentlich ihre jugendlichen Familienangehörigen kaum noch. Durch die Aids-Aufklärung wissen die Eltern längst, daß moralisierender Einfluß kontraproduktiv ist. Eher ist es so, daß viele Jugendliche ihre Eltern kaum verstehen, die sich noch immer miteinander sexuell ergötzen, was den Jugendlichen peinlich ist.

Befreiung vor Schuldgefühlen, die durch kirchliche und religiöse Moralisten erzeugt wurden. Dazu ist zu sagen, daß in Kirchen unterdessen die Homosexualität immer mehr toleriert wird und die Kirchen zunehmend ihre eigentliche Aufgabe, nämlich auf die Moral der Bevölkerung zu achten, vernachlässigen. Pfarrer wollen neuerdings sogar heiraten.

Befreiung der Sexualität aus ihrer ethischen und kulturellen Einbindung? Dazu wäre zu sagen, daß viel zu viel Menschen bindungsloser Sexualität nachgehen, worüber die gesamte Porno-Industrie wie die Sexindustrie beredtes Zeugnis ablegen. Niemand wird behaupten können, daß er die sexuellen Gefühle, die er dadurch empfindet, in das Gefühl der reinen wahren Liebe eingebettet hat.

Es ist aber in den Medien tatsächlich bisweilen zu hören, daß sich herausgestellt habe, daß die bindungslose Sexualität der 68er diese nicht glücklich gemacht hätten, sie seien reumütig in die Ehe zurückgekehrt und nun glücklich. Außerdem sei die "befreite Sexualität" schuld an Aids, lasen wir in einem Leserbrief an die LUST.

Diese Aussagen, die ich hier zusammengefaßt habe, setzen sich aus Antworten zusammen, die wir erhalten haben. Es ist an ihnen Wahres dran und sie sind gleichzeitig unwahr. In der Realität und im Konkreten ist unsere Sexualität so befreit nicht, wie wir gerne vorgeben.

Mir scheint, daß wir nicht den freien Umgang mit Sexualität erleben. Aber wir erleben die verschärfte kommerzielle Nutzung des sexuellen Notstandes in der Gesellschaft. Die Geschäfte der Telefon-Stöhn-Anbieter könnten nicht laufen, wenn die Leute mit ihrer Sexualität zufrieden wären. Der gesamte Sexmarkt würde in sich zusammenbrechen, wären alle befriedigt.
 
Viel wird aufgrund heimlicher sexueller Hintergedanken gemacht: das Anschauen von Teeny-Bands, der Besuch von Diskos, bestimmte modischen Kleidung kaufen, ausgehen usw. Das alles könnte so nicht klappen, wenn Menschen sexuell saturiert wären. Das wissen die Sexnot-Gewinnler natürlich auch. Und deshalb müssen sie uns in einer Weise moralisieren, daß wir mit dem kostenlosen lustvollen Begegnen immer sparsamer umgehen. Je sparsamer wir sind, um so besser ihre Geschäfte.

Im Werbebereich werden Trends kreiert. Die Jeans-Reklame zum Beispiel zeigt einen wundervoll geil aussenden Arsch in eng anliegenden Jeans. Die absolut makellos aussehenden männlichen und weiblichen Models sind in der Lage, ein Gefühl des Mangels aufkommen zu lassen, wenn wir "nur" Sex mit Menschen wie du und ich erleben. Etwas fehlt, das Besondere. Natürlich ist diese Unzufriedenheit erwünscht, denn dann laufen die Jeans-Geschäfte und die Jeff-Striker-Diuldo-Geschäfte.
 
Natürlich begegnen sich junge Menschen sexuell. Aber sie haben das Gefühl, daß sie etwas verpassen, denn irgend etwas ist nicht optimal. Mal ist der Arsch zu flach oder zu dick, manchmal ist der Schwanz zu klein und zu groß, der Bauch zu dick oder zu dünn, usw. Und nicht alle haben gute Chancen. Die Partner müssen jung und jünger sein, das Kindchen-Schema wird als Sexualsymbol angeboten, die Körper der Männer schlank und etwas muskulös, wie es Menschen, die längere Zeit im Beruf sind, einfach nicht sein können. Die Frauen treten mit riesigen künstlichen Busen auf, geben sich als Girlies, ein bißchen doof, damit kann und will so manche Frau nicht konkurrieren.

Wenn also Menschen manchmal Moralwünsche entwickeln, geschieht dies oft auch unbewußt aus Hilflosigkeit und Unmut gegenüber diesen Zuständen, gegenüber diesen Anforderungen. Doch ist Moral nicht der Weg, dem ständigen Unzufriedenmachen zu entgehen. Moralisierung würde nämlich den Geschäftsinteressen nur noch mehr entgegenkommen. Die ausgelebte Sexualität würde dadurch nämlich noch mehr getroffen und die Märkte der Ersatzbefriedigung würden größer. Wenn ich das künstliche Unzufriedenmachen kritisiere, will ich natürlich nicht für Verzicht eintreten oder für Enthaltsamkeit. Im Gegenteil.

Die Lösung liegt hier wirklich im "Zurück zur Natur". Die künstlichen Grenzen und Mauern, die zwischen uns immer zahlreicher werden, nutzen der Vermarktung. Gegen wen oder was müssen wir also unsere Sexualität befreien? Gegen die Marktstrukturen.
Vielleicht gibt es doch noch andere Werte als kommerziell nützliche Höchstleistungen. Wir müssen untereinander Grenzen einreißen, freigiebig mit gegenseitigen sexuellen Zuwendungen werden, eine solche Fülle von gegenseitigen Sex geben und nehmen, daß kein Mangel einen Markt entstehen läßt. Von Sexualität hat doch jeder von uns eine ganze Menge.
 
Sie bräuchte niemanden von uns zum Mangel werden. Und siehe da, es kann wundervoll sein, auch wenn der Bauch und der Arsch ein wenig anders aussieht als die Reklame-Models zeigen. Vielleicht sogar gerade deshalb. Hier geht es menschlich zu und hier darf man selbst auch Mensch sein. Wenn nur die gestilten Körper als schön angesehen werden, dann kommt man bei Leni Riefenstahl raus, die das Elitäre des angeblich Allerschönsten vergötternd darstellte und gegen das angeblich "Kranke und Schwache" stellte.

Der so supergeile Typ in dieser Anzeige, den du so schön findest. ist der wirklich so viel erstrebenswerter als dein Nachbar, mit dem du vielleicht jetzt Sex erleben könntest, wenn du nur wolltest, auch wenn zum Beispiel das Aussehen oder das Alter nicht der Jeans-Reklame entspricht? Weißt du, ob er nicht vielleicht ein Angeber, ein Arsch oder Charakterschwein, ein Schwulenhasser oder Jugendkult- und Schönheitsfetischist Typ in Wirklichkeit ist?
 
Würde er dich nicht in Wirklichkeit nur erniedrigen wollen, wenn er dich so, wie du bist, sehen würde, wenn er sehen würde, wie du durch sein Foto geil wirst? Ist es da nicht schade, wenn man Gefühle der Verliebtheit und der erotischen Anziehung gerade ihm gegenüber kultiviert und dem Mitmenschen die Aufmerksamkeit entzieht, der dir in Wirklichkeit zugetan ist?
(Joachim Schönert)
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