40. Lust: Febr./März 97
Über unsere politische Vergangenheit
Es gibt schon bizarre Vorgänge im Bereich der Lesben- und Schwulenpolitik. In zwei Vorgängen Iäßt sich eine gewisse politische Unfähigkeit unserer Szene, vielleicht auch Desinteresse erkennen, und die schwulen Medien nahmen kaum Notiz davon. Aber wer den Anspruch hat, einseitig nur auf die Bedürfnisse von Disco-Besucherlnnen einzugehen, und es dabei bewenden Iäßt, kann nicht über ernste Zusammenhänge schreiben, die für unsere Szene von entscheidender Bedeutung sind.
 
In Saarbrücken gab es einen internationalen Kongreß, der sich mit der Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich und der unterbliebenen Wiedergutmachung auseinandersetzte. ,,Schwuler Historikerstreit" überschreibt Dirk Ruder in der lesenswerten Tageszeitung ,,Junge Welt" einen Bericht darüber.
 
Unter anderem wurde auch die politische Naivität der Schwulen in der Nazizeit besprochen. Viele Schwulen seien anfänglich den Nazis sogar nachgelaufen und hätten sich von den Männlichkeitsritualen faszinieren lassen. Nahezu 50 % der schwulen KZ-Häftlinge seien selbst Mitglied der NSDAP gewesen. In den einzelnen Regionen seien Schwule unterschiedlich intensiv verfolgt worden. Es gebe auch Hinweise über kastrierte Homosexuelle, die in psychiatrische ,,Heilanstalten" eingeliefert und der Euthanasie zum Opfer gefallen seien.
 
Zwischen 40.000 und 50.000 Häftlinge mit dem rosa Winkel soll es gegeben haben. Es wurde auch die Frage der unterbliebenen Entschädigung im Nachkriegsdeutschland behandelt. Eine Stiftung des öffentlichen Rechtes solle gegründet werden, so SVD-Sprecher Beck, sie soll die geschichtlich-politische Aufarbeitung der Lesben- und Schwulenverfolgung vorantreiben. Die Verfolgung und Ermordung der Schwulen in den Konzentrationslagern als speziell nationalsozialistisches Unrecht anzuerkennen, das werde von der Bundesregierung noch immer verweigert.
 
Der von D. Ruder so genannte Historikerstreit aber fand über die Einschätzung der Rolle der DDR statt. Einzelne Redner erklärten, daß die DDR ganz in die Tradition des NS-Staates eingetreten sei. Die ehemalige Kultusministerin von Rheinland-Pfalz und Berlin und ehemalige Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Hanna-Renate Laurin war als Sprecherin ihrer Organisation ,,Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V." eine der Geldgeberinnen und forderte,,...wir müssen uns mit beiden Diktaturen befassen, die in unserem Land geherrscht haben." Diese Forderung und die Behauptungen über die DDR im Bereich der Schwulenverfolgung erschien dann doch vielen Anwesenden als kurios.
 
1950 hatte die DDR den § 175, der jegliche homosexuelle Handlung zwischen Männern bestrafte, als typisches NS-Unrecht eingestuft und abgeschafft, während er in der Bundesrepublik bis Ende der 60er Jahre fortbestand.
 
In der Adenauer-Ära seien ca. 45.000 Schwule verurteilt worden, während in der DDR insgesamt ca. 2.500 Schwule verurteilt wurden. Stellt man die unterschiedliche Anzahl der Bewohner die Quote verurteilter männlicher Homosexueller in der Bundesrepublik dennoch 5 mal höher als in der DDR.
 
Es gab zwar in der DDR auch keine Wiedergutmachung an den schwulen KZ-Opfern, aber bei der Wiedervereinigung arbeiteten die Schwulenverbände der Bundesrepublik und der DDR zusammen, um zu erreichen, daß der unterdessen gemilderte § 175 StGB im Westen abgeschafft und nicht im Zuge der Rechtsangleichung in dem Gebiet der DDR eingeführt würde.
 
Die nicht ganz informierten Schwulen der Tagung und Frau Laurin konnten also nicht überzeugen. In Berlin gibt es einen schwuleninternen Streit, der zum Teil auch als Streit zwischen Schwulen und Lesben interpretiert wird, über ein Mahnmal für homosexuelle NS-Opfer.
 
Der Historiker Joachim Müller sagte seine Teilnahme in der ,,Gedenkstätte des deutschen Widerstands" ab, weil er sich der Auffassung der gleichartigen Verfolgung von Lesben und Schwulen nicht anschließen wollte. ,,Mythen dürfen in der geschichtlichen Aufarbeitung keine Rolle spielen", äußerte er.
 
Richtig ist, daß eine systematische Verfolgung der Lesben, weil sie Lesben sind, nicht stattfand, daß das Strafgesetz § 175, das jegliche Homosexualität verbot, nur für Schwule galt. Bevor Österreich 1938 an Deutschland angegliedert wurde, galt dort ein antihomosexuelles Gesetz gegen Lesben und Schwule. Für die Lesben fiel diese staatliche Verfolgung nach dem Anschluß weg.
 
Man kann diesen Umstand nur verstehen, wenn man sich die Absichten der Nazis vor Augen hält. Es ging ihnen um das Geschlechtsrollenbild, das sie von Männern und Frauen hatten und für angeboren hielten. Frauen hatten sanft und mütterlich zu sein, Männer hart und soldatisch. Schwule waren ,,bevölkerungspolitische Blindgänger" und die,,Reichszentrale gegen Abtreibung und Homosexualität" hatte Frauen zu verfolgen, die ihre Mutterschaftspflicht nicht erfüllen wollten und Männer, die nicht fähig seien, Kinder zu zeugen. Das brachte Schwule, weil sie schwul sind, in die Konzentrationslager, wobei mit ihnen Experimente gemacht wurden, zum Beispiel daß sie Sex mit Prostituierten oder zur Prostitution gezwungenen Frauen durchführen mußten, um ihre ,,Männlichkeit" zu beweisen, was zur Entlassung nötig war.
 
Schwule Männer wurden zum Teil auch dadurch ,,geheilt", daß sie kastriert wurden, damit sie ,,die krankhafte Entartung des Mannes", (heute gibt es schon wieder ,,Wissenschaftler", die ,,das schwule Gen" für möglich halten) nicht weiter vererben könnten. Bei Lesben seien Maßnahmen nicht nötig, glaubten die Nazi-Wissenschaftler, da sie zur Mutterschaft taugten und viele Lesben auch Mütter seien, so daß diese Spielereien zwischen Frauen nicht ernst zu nehmen seien. (Die zeitgenössischen ,,Entdecker" des ,,schwulen Gens" haben etwas vergleichbar Lesbisches nicht entdecken können.)
 
Viele schwule Männer überlebten die Konzentrationslager nicht. Das hat damit zu tun, daß sie im Lager auf der untersten Stufe der Hierarchie standen. So berichtet Heger in ,,Die Männer mit dem rosa Winkel", daß es Rivalität zwischen den Politischen (roter Winkel) und den Kriminellen (grüner Winkel) gab und daß es für Rosa·Winkel-Häftlinge lebensnotwendig sein konnte, einen Beschützer mit grünem Winkel zu haben.
 
Nun darf nicht vergessen werden, daß der Nazistaat generell unerträglich war, nicht nur für die Menschen, die als Sündenböcke für irgend etwas herhalten mußten, sondern auch für alle Menschen, die mit dem Mainstream nicht mitschwimmen konnten und wollten; aber auch für die Mitläufer verlor er besonders schnell seinen ,,Charme". Die Nazis hatten außerdem die Eigenart, bestimmte Infrastrukturen entweder für ihre Zwecke zu nutzen oder zu zerstören. So haben sie die Jugendbünde in ihre Hitlerjugend integriert, einen Teil der Frauenbünde hatten sich derart gewandelt, daß sie nutzbar waren, bestimmte esoterische Organisationen pflegten ihren Germanenkult. Die Infrastruktur der Lesbenszene und der Schwulenszene wurde natürlich zerschlagen.
 
Warum sind diese Dinge von essentieller Bedeutung für uns? Weil es darauf ankommt, daß unsere Szene nicht noch einmal derart politisch naiv ist wie damals. Außerdem, daß in der gesamten Bevölkerung klar ist, Schwule und Lesben zu unterdrücken ist mit dem Nazi-Terror gleichzusetzen. In unserer Gruppe war zum Beispiel manchmal ein jüngerer Schwuler, der forderte, daß man sich von ,,rosa" verabschieden solle. Das hätte vielleicht für ältere Schwule eine gewisse Bedeutung, die das miterlebt haben. Junge Schwule wollten aber einfach nur Spaß. Da er außerdem öfter noch biologistisch argumentiert und religiös ist (was oft zusammenfällt), da er außerdem auch in anderen Zusammenhängen sehr konservativ argumentiert und auch noch ein Sendungsbedürfnis hat, wird in seiner Person vielleicht exemplarisch, was ich meine.
 
In unsere Gruppe kommt auch ein achtzigjähriger Mann. Von ihm haben wir vieles erfahren, zum Beispiel darüber, daß schwule Männer (in Wiesbaden) täglich zwischen 18 und 19 Uhr in der Kirchgasse zwischen Michelsberg und Rheinstraße spazieren gingen und sich so treffen konnten. Wir erfuhren auch von einen Bäcker, bei dem sich immer einige Hitlerjungen sexuell austobten.
 
Dies wurde wohl verraten und ein hoher Nazi-Führer (der dann Selbstmord verübt hat), der seinen Sitz dort hatte, wo heute in Wiesbaden die Augenklinik ist, warnte den Bäcker vor der Razzia. Dann seien an einem Tag Polizeiwagen durch die Kirchgasse und die angrenzenden Straßen gefahren, um dort Schwule zu verhaften.
 
In den Wagen saßen auch Stricher und junge (schwule ?) Nazis, die Passanten als schwul identifizierten: ,,Das ist auch einer!". Unser Freund war an diesem Tag von einem Bekannten gewarnt worden, was ihm wohl sein Leben gerettet hat. Es gehört zum Wissen über diese Zusammenhänge eben auch, daß die Dinge nicht so gradlinig verlaufen, wie es viele gerne hätten. Es gehört aber auch zum politischen selbstbewußten Coming-out, daß wir dies alles als Teil unserer Geschichte und Identität akzeptieren. Nicht nur, weil dies unsere Geschichte ist, sondern, wie Brecht am Ende des Schauspiels Arturo Ui über den Faschismus sagen Iäßt: ,,Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch". (Joachim Schönert)
 
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