38. Lust: Okt/Nov 96
Vorwärts in die 50er
Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch an die 50er Jahre erinnern, als die ersten zaghaften Aufklärungsschriften, das Zeigen einer weiblichen Brust in einem Film, eine erotische Anspielung in einem Roman oder das positive Bewerten von Sexualität, die nicht innerhalb einer Ehe zum Zeugen eines Kindes dient (also auch der Homosexualität) zu wilden Proteststürmen aus der Bevölkerung führten.
 
Aufgebrachte Spießer und Tugendwächter blockierten Kinos, plünderten Buchläden, warfen Zeitschriften in den Dreck und schrieben Anzeigen wegen Pornographie. Und die Staatsanwaltschaft ging solchen Anzeigen nach, denn der Staat verstand sich ja als Bettengucker und Moralwächter über seine unmündigen Bürger. Die sexuelle Revolte drängte solche Vorstellungen in den Hintergrund, ließ uns freier atmen und sexuell unverkrampfter miteinander verkehren.

Noch werden Tugendwächter wie z.B. Herr Brenner in Talk-Shows einem grinsenden Publikum vorgeführt, das noch nicht verstanden hat, daß es Iängst ernst ist. Man mag zu Ralf König stehen, wie man will. Wenn die Staatsanwaltschaft ermittelt, wenn die Bundesprüfstelle wirksam wird, dann geht es den Verlagen, Vertrieben und Ladenbesitzern an den Kragen.
 
Und es hängt von der Definition ab, ob es sich bei einem Buch z.B. um ein erotisches Kultobjekt handelt oder um ,,Pornographie".

"Mein heimliches Auge" ist ein Werk der erotischen Kultur, vielleicht sogar das" Werk der erotischen Kultur, das der kleine kesse engagierte Konkursbuchverlag der Claudia Gehrke dankenswerterweise herausgibt. In diesem Jahrbuch finden sich kurze Geschichten, Essays, Gedichte, Zeichnungen und Fotos.
 
Erotik sowie Sexualität werden nicht pornographisch verschwitzt und voller Doppelmoral dem Konsumenten unter die Bettdecke gelegt, sondern die Beiträge ermutigen zu ehrlichem und selbstbewußtem Umgehen mit Sexualität in ihrer Vielfalt, so werden zum Beispiel Heterosexualität und Homosexualität gleichwertig behandelt.
 
Pro Familia bot es in ihrem Versandhandel mit an, was ja auch etwas aussagt.
 
Da Herr Brenner nun sehr rührig ist, hat er doch eine Staatsanwaltschaft gefunden, die dem Fall nachgeht. Und entscheidet man sich dort für die Definition, daß es sich hier um Pornographie handeln würde, dann darf das Buch nicht mehr im Versand verkauft werden und dem Versand von Pro Familia drohen sogar strafrechtliche Konsequenzen.
 
Wer Erotik und Sexualität nicht will, der sollte sich dies eben einfach nicht ansehen. Aber es ist anmaßend, sich zum moralischen Vormund anderer Menschen machen zu wollen. Ich glaube, wir Schwulen und Lesben sollten mit dem Gewicht unserer Verbände und Strukturen gegen moralisierende Tendenzen eintreten, denn für uns und unsere Szene ist es von existentieller Bedeutung, ob tatsächlich die 50er Einzug halten. (Joachim Schönert)
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