- 38. Lust: Okt/Nov 96
- Jugend ist in
- Es wurde eine ,,junge Schwulengruppe"
gegründet. In den Kontaktanzeigen suchen zumeist Erwachsene
nach schwulen Jugendlichen, zumindest Jüngeren. Die erste
Frage ist oft: ,,Wie alt bist du denn?" Und wenn dir ein
Mißgeschick geschieht, dann ,,siehst du aber alt aus".
Was wir in der Schwulenszene beklagen, ist ein allgemeines gesellschaftliches
Phänomen. In ZEIT und SPIEGEL wurden dazu schon wissenschaftliche
Untersuchungen geschrieben, auch in der LUST standen dazu schon
eine Reihe von Abhandlungen, oftmals zum Ärger derer, die
die Dinge so benannt haben wollen, wie sie sie gerne hätten,
und nicht, wie sie sind. Was ist das besondere am Jugendkult?
Wo liegen die Hintergründe?
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- Zuerst einmal, es handelt sich um ein allgemeines
gesellschaftliches Phänomen. Und weil es allgemein gesellschaftlich
ist, betrifft es alle gesellschaftlichen Bereiche und auch alle
Altersgruppen. Sowohl die jungen wie die alten Menschen unterliegen
heutzutage dem Jugendkult. Um erklären zu können, was
der Jugendkult denn nun eigentlich ist, müssen wir erst
einmal das genauer analysieren, was mit "Alter" im
Sinne von Age (engl.) gemeint ist.
Man spricht in den Sozialwissenschaften von einem biologischen
und einem sozialen Alter. Wir kennen auch noch das kalendarische
Lebensalter. Und wir kennen auch noch die Altersrollen. Sie sind
Verhaltensanweisungen nach ungeschriebenen gesellschaftlichen
und moralischen Vorgaben. Sie schreiben vor, wie sich ein Mensch
altersgemäß zu verhalten hat. Verhält er sich
anders, bekommt er mit seiner Umgebung Konflikte, denn wenn jemand
ungeschriebene Normen verletzt, bestrafen die Mitmenschen sein
außergewöhnliches Verhalten.
Wenn zum Beispiel jemand 14 Jahre alt ist, sich kleidet wie ein
Geschäftsmann, Herrschaftsgebärden und Managerverhalten
drauf hat, dann sagt man ihm, er sähe älter aus, als
er ist.
Solche Verhalten widersprechen der Rolle des schutzbedürftigen
Jugendlichen. Sein kalendarisches Alter und seine Altersrolle
sind nicht in Übereinstimmung. Wenn ein Mann im Alter von
70 sich einige Verhaltensweisen erlaubt, die man bei Kindern
nachsieht, sagt man, er sei kindisch.
Und wenn ein Kind an der Vergreisungskrankheit leidet, dann ist
seine biologische Uhr deutlich schneller abgelaufen, sein kalendarisches
Lebensalter ist damit nicht identisch, sofern man von einer allgemein
verbindlichen Norm in diesen Fragen ausgeht. Das soziale Alter
ist an das Erreichen eines bestimmten gesellschaftlichen Status
geknüpft, zum Beispiel Unabhängigkeit von den Eltern
und eigenes Geld verdienen. Wollen wir uns nun also inhaltlich
und wissenschaftlich korrekt ausdrücken, dann müssen
wir zwischen dem biologischen Alter, dem kalendarischen Alter,
dem sozialen Alter und dem ,,altersgemäßen Verhalten",
der Altersrolle also, unterscheiden
.
1. Das biologische Alter
Das biologische Alter hat etwas mit der körperlichen Reife
und dem im höheren alter eintretenden körperlichen
Zerfallsprozeß zu tun. Für die Zeugungsfähigkeit
beziehungsweise Gebärfähigkeit ist die körperliche
Pubertät die Grundvoraussetzung. Diese tritt heutzutage
früher auf als noch vor zwei Generationen ein, woraus man
den Schluß ziehen könnte, daß es offensichtlich
Bedingungen gibt, die das Reifen und Altern beschleunigen oder
Abkürzen.
Da die Pubertät aber vom 10. bis zum 15. Lebensjahr (kalendarisch
gerechnet) beginnen kann, ist hier schon zu erkennen, daß
das biologische Alter von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist.
Es gibt 16-Jährige, bei denen der Knochenbau schon seine
Stämmigkeit ausgebildet hat, andere, bei denen noch nicht
der Bartwuchs begonnen hat. Es gibt Körperorgane, bei denen
mit dem ca. 20. Lebensjahr schon der Zerfallsprozeß beginnt.
Jener Muskel im Ohr, der das Ohr vor allzu großer Lautstärke
schützt, indem er das Schwingen des Ohrknöchelchen
dämpft, ist der als erster erschlaffende Muskel des menschlichen
Körpers. Er stellt in der Regel schon mit dem 25. Lebensjahr
seine Funktion ein.
Der Höhepunkt des hormonell verursachten sexuellen Vollzugsdranges
soll nach dem 35. Lebensjahr überschritten sein. Man wird
zugeben, daß es auch hier eine große Bandbreite von
Beobachtungen auf diesem Gebiet gibt. Starre Altersgrenzen im
Sinne von kalendarischen Lebensjahren tragen der biologischen
Vielfalt der Möglichkeiten nicht Rechnung.
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- 2. Das kalendarische Alter
Es dient als Orientierungshilfe und ist doch das unzuverlässigste
Merkmal, wenn man daraus irgendwelche Hinweise für das Aussehen,
die körperliche oder soziale Reife, für das Verhalten
z.B. in Beziehung und Sexualität ableiten möchte. Ein
junger Mann, der sehr stark an einer sexuellen Begegnung mit
mir interessiert war, glaubte, mich mit dem Hinweis interessieren
zu können, er sei 18 Jahre alt.
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- Meine erotischen Empfindungen ihm gegenüber
vergrößerten sich dadurch nicht. Das kalendarische
Alter scheint zur Zeit zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal
zwischen den Menschen geworden zu sein, besonders was den erotischen
Kontaktmarkt angeht. Die Altersfixierung nach den bisher gelebten
Kalenderjahren als wichtigstes Schubladenmerkmal für das
Sortieren von Menschen in gut und schlecht ist so wichtig geworden,
daß es Aggressionen erzeugt, wenn man bestimmte dieser
Strukturen infrage stellt. In Wirklichkeit garantiert das kalendarische
Alter nichts.
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- 3. Das soziale Alter
Heute lebe man in einer Dorian-Gray-Gesellschaft, schreibt Wolfgang
Pauser in der ZEIT-Magazin-Ausgabe ZEIT-Punkte 1/96, ,,Keine
Angst vor dem Alter", in der ,,der Erwachsene" als
soziales Alter verschwunden sei. Früher sei nach der Kindheit
die Jugend gekommen, bis höchstens zum 25. Lebensjahr, die
als Vorbereitungszeit zum Erwachsenenstatus definiert war. Erwachsen
war man vom 25. bis zum 65. Lebensjahr, eine Zeit mit gleichbleibendem
sozialen Altersstatus: Berufsleben, Ehe und feste Strukturen.
Das soziale Alter des Erwachsenen wollte man damals möglichst
spät beginnen lassen. Erst wenn man in der Lage war, eine
Familie zu ernähren, hatte Sexualität einen straflosen
Platz im Leben. Heute gebe es flexible Berufszeiten, die Zeit
der Arbeitsplatzbewerbung, in der man jugendliche Tugenden aufzuweisen
habe, vergehe das ganze Leben nicht. Man habe auch in der Realität
Lebensabschnittspartner, das jugendhafte Verhalten des erotischen
Partnerwerbens sei auch über das ganze Leben verteilt.
Er schreibt dazu die Merksätze: "Jung ist man kollektiv,
alt wird man individuell. Jung ist man in guter Gesellschaft,
alt wird man allein. Jungsein ist ein permanent zu pflegendes
Image - auf dem Arbeits- wie auf dem Liebesmarkt".
Das soziale Altern ist also heutzutage das Abgedrängtwerden
in die berufliche und sexuelle Isolation, was in nahezu jedem
kalendarischen Lebensalter passieren kann, während es früher
etwas mit dem Rentenalter zu tun hatte. Und da Frauen heutzutage
immer häufiger wirtschaftlich selbständig sind, ist
das Bankkonto kein erotischer Ausgleich für das höhere
Alter des Mannes. Ein weiterer Merksatz von ihm lautet: ,,Frauen
sehen immer länger jung aus, Männer sehen immer jünger
alt aus".
Was ,,jugendlich" ist, das ist an das Aussehen und den Habitus
geknüpft, nicht an das kalendarische Alter. ,,Erfahrungen",
der Schatz älterer Menschen, seien durch den schnellebigen
Wandel in der Produktion entwertet. Die Entwertung der Erfahrungen
habe ältere Menschen zu funktional Jungen mit geringeren
Veränderungskapazitäten werden lassen. Jeder müsse
heute in jedem Alter damit rechnen, ganz von vorn beginnen zu
müssen. Der ausgefallene Sinn des Alters, Erfahrungen, werde
heute durch Aktivitäten älter Menschen ersetzt, die
auf die symbolische Rückgewinnung von Jugendlichkeit zielen.
Was Erfahrungen betrifft, so kann ich dem Autor nur bezüglich
technischer Änderungen im Berufsleben folgen. ,,Erfahrungen",
das ist auch das Verlöschen von Illusionen, was zu einem
reiferen, menschlich ausgewogenem Verhalten führen kann,
eine gute Voraussetzung für realistische Beziehungsformen
und Freundschaften, eine gute Voraussetzung auch für realistischere
Einschätzungen in Hinblick auf Anforderungen in der Arbeitswelt
und die beruflichen Chancen.
In fünfzig Jahren, zitiert der Autor die Demoskopen, werden
etwa 50% der Menschen über 50 Jahre alt sein. Man werde
sich trennen müssen von vielen alten Vorstellungen vom Alter,
denn die Alten würde immer jünger, was ihre Gesundheit,
Aktivität und Haltung betrifft. In der historischen Entwicklung
zur hochgradig arbeitslosen Gesellschaft haben nicht mehr die
Jungen, sondern die Alten die Nase vorn. Der Jugendkult sei nur
die ästhetische Kompensation der Verhältnisse, meint
der Autor.
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- 3. Schlußfolgerung
Das Trennen der Menschen nach dem scheinbar objektiven Kriterium
des kalendarischen Alters ist schon jetzt überholt, hat
nur noch eine Funktion in Szenen mit konservativen Vorurteilen
und in Bereichen ohne nennenswerten intellektuellen Zugang.
Für die soziale Reife ist eine gewisse Menge an Lebenserfahrung
und intellektuellem Wissen über Zusammenhänge nötig,
bei gleichzeitiger ,,Jugendlichkeit", also der Fähigkeit,
sich kreativ, intuitiv ,,richtig", flexibel und charmant
zu verhalten, und das bei gleichbleibend guter Gesundheit, grenzenlosem
Leistungsvermögen und einem gewissen Schuß Naivität
und Gutgläubigkeit beziehungsweise enthusiastischer Aufopferungsbereitschaft
und der Anpassungsbereitschaft gegenüber den jeweils gültigen
Vorurteilen der Gesellschaft. Es sind dies alles Eigenschaften,
wie sie in einer unmenschlichen Gesellschaft von einem Arbeitnehmer
erwartet werden.
Auch das altersgemäße Rollenverhalten gerät dadurch
aus seinen traditionellen Bahnen. Für jemand Älteres
ist es nicht so einfach, erfahren zu sein und sich trotzdem anzupassen.
Und in Peer-Groups mit künstlichem Altersausschluß
entstehen eben dort alle altersbezogenen Verhaltensrollen, unabhängig
vom kalendarischen Alter der Mitglieder. Sind nur Ältere
zusammen, entstehen auch unter ihnen die ,,Jugendlichen".
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- Sind nur Jugendliche zusammen, entstehen
auch dort die ,,Erfahrenen". Die ,,Jugendlichen" aus
einer Gruppe Älterer, können es in Sachen Jugendlichkeit
nicht mit den Jugendlichen aufnehmen, die sich in einer Szene
ohne künstlichen Trennungen finden. Sie sind dann oft nur
verkleidete oder schauspielernde Ältere. Die ,,Erfahrenen"
aus einer Gruppe Jüngerer können es in Sachen Erfahrung
nicht mit den Erfahrenen aufnehmen, die sich in einer Szene ohne
künstlichen Trennungen finden. Sie sind dann oft nur Angeber.
Künstliche Altersgrenzen schaffen also einen Schutzraum
für Inkompetenz. Bewegungen können sich Inkompetenz
eigentlich nicht leisten. Aber sie lassen sich mit angeblichen
Generationskonflikten gut aufspalten.
Die Ideologie der Generationsspaltung (Leute des gleichen Alters
verstehen sich besser) ist auch bei Licht betrachtet nicht aufrechtzuerhalten,
denn es handelt sich bei diesen ,,Gemeinsamkeiten" lediglich
um das Anpassen an oberflächliche Unterschiede wie Modeströmungen,
die genauso künstlich sind wie die Altersgrenzen. Lediglich
das vom kalendarischen Alter unabhängige biologische Alter
schafft nicht wegzudiskutierende Unterschiede. Aber die sind
wohl individuelle genauso unterschiedlich wie Erfahrungen, Wissen,
Zärtlichkeit und menschliche Güte.
(Joachim Schönert)
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