- 35. Lust: April/Mai 96
- Wirtschaftliche Entwicklung und die Arbeitsplätze
Ob die Betriebe unserer Szene am Leben
bleiben, hängt im wesentlichen von der sogenannten Kaufkraft
der potentiellen Kunden unserer Szene ab. Diese wiederum ist
davon abhängig, ob sie überhaupt eine Arbeitsstelle
haben, ob das "soziale Netz" noch trägt. Und das
beides hat wiederum im Rahmen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
seine Grundlage, in der wirtschaftlichen Entwicklung.
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- Es könnte nämlich bei einer weiteren
Entwicklung der Wirtschaft in die zur Zeit vorherrschende Richtung
zu Fragestellungen des elementaren Lebens kommen, die die Frage,
ob es unsere Szene in einigen Jahren noch geben wird, in den
Hintergrund treten lassen könnte.
Über die Zukunft unserer weltweiten Wirtschaft macht sich
der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin Gedanken,
dessen Aufsatz "Das Ende der Arbeitswelt" in der
Psychologie Heute, 12/95 veröffentlicht wurde. Ich fasse
hier die wichtigsten Thesen zusammen.
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- Der Autor beginnt mit einer Analyse der wirtschaftlichen
Lage, in der sich die Welt zur Zeit befinden würde. Wirtschaftswachstum
könne nur noch ein Aufschwung ohne Arbeitsplätze sein,
die Computerisierung der Dritten Industriellen Revolution ersetze
menschliche Arbeit in allen Bereichen: den Arbeiter am Fließband
genauso wie Dienstleistungen in Büro, Entwicklung, Forschung
und Verkauf.
Seit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre war die Arbeitslosigkeit
nicht mehr so hoch wie heute. Bis zur Jahrtausendwende wird sich
diese Zahl noch erheblich erhöhen, meint der Autor. Wenn
in der Vergangenheit Arbeitskräfte durch neue Technologien
freigesetzt wurden, gab es andere Bereiche, in denen diese Menschen
Arbeit fanden. Heute macht der technische Fortschritt Millionen
von Menschen arbeitslos. Nur einer dünnen Schicht von Unternehmern,
Wissenschaftlern und anderen Fach- und Führungskräften
bietet der Wissensbereich zusätzliche Arbeit.
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- Das Wirtschaftsleben wird sich radikal ändern,
in den nächsten Jahrzehnten wir die Arbeitslosigkeit ungeheure
Ausmaße annehmen. Wie in den 20er Jahren stehen wir kurz
vor einer Katastrophe, die weitreichende Konsequenzen für
unsere Zivilisation haben wird. Kein Politiker scheint sich auf
ein Zeitalter ohne Arbeit vorzubereiten.
Die Hoffnungen auf den Dienstleistungsbereich werden sich schon
bald als Seifenblasen erweisen, denn schon längst gehen
auch in vielen Dienstleistungsbereichen Arbeitsplätze durch
Automatisierung und Umstrukturierung verloren.
Im selben Maße wie die menschliche Arbeit verliert auch
die staatliche Politik an Bedeutung. Multinationale Konzerne
eignen sich die Macht der einzelnen Länder an. Sie übernehmen
die früheren Funktionen des Staates und kontrollieren globale
Ressourcen, Absatz und Arbeitsmärkten.
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- Die Basis des Staates, seine bewaffnete Macht,
durch die er sich die wichtigsten Rohstoffe aneignet und sich
der arbeitsfähigen Bevölkerung bemächtigen kann,
gerät in die Hände der Konzerne, da nun Energie, Arbeitskräfte
und Ressourcen gegenüber Information, Kommunikation usw.
für die Produktion an Bedeutung verlieren. Wie aus der internationalen
Politik so zieht sich auch der Staat aus dem Arbeitsmarkt zurück.
Angesichts wachsender Staatsschulden ist keine Regierung mehr
bereit, staatliche Programme aufzulegen, um Arbeitsplätze
zu schaffen und die Kaufkraft zu heben
Der Wert des Menschen bemißt sich zur Zeit nach seinem
Marktwert. Da es nur noch wenig einbringt, seine Arbeitskraft
zu verkaufen, droht das gesamte auf dieser Struktur aufgebaute
Gerüst ökonomischer Beziehungen einzustürzen.
Mit dem Rückzug des Staates verlieren Teile des Regierungsapparates
ihre Grundlage und müssen versuchen, ihre Aufgaben neu zu
bestimmen. Die Orientierung des Staates auf eine andere Perspektive
statt auf den Markt wird zur vordringlichen Aufgabe aller Nationen.
Soweit also die Analyse des renommierten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers.
Er beklagt, daß die Politik davon keine Kenntnis zu nehmen
scheint. Als Lösung für das Problem schlägt er
vor, die Zukunftshoffnungen auf den Ausbau des sogenannten "Dritten
Sektors" zu setzen
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- Der Dritte Sektor
Was das ist? Der dritte Sektor ist keine neue Erfindung, sondern
er ist der Bereich, der in allen Gesellschaften schon existiert,
ohne den vielleicht Vieles noch unerträglicher wäre.
Es ist der Sektor der Initiativen, Selbsthilfegruppen, der aufopfernden
Sozialdienste usw.
Und hier, so finde ich, wird der Autor irrational. Er biegt sich
Möglichkeiten zurecht, um zu belegen, daß es ohne
große Wandlungen für die gesellschaftlichen Eliten
noch einen Ausweg gäbe. Er berichtet von riesigen Leistungen
und Zugewinnen in diesem Bereich.
Nun gut, die Leute müssen ja irgend etwas machen. Aber,
wo soll das Geld dafür herkommen? Und wer soll es eintreiben?
Er meint, es müsse von den Riesengewinnen der Konzerne kommen,
die nun ohne Arbeit verdienen können."Da der Wirtschaftssektor
aufgrund des technischen Fortschritts immer weniger Menschen
beschäftigen wird, können die freigesetzten Arbeitnehmer
nur über den Weg eines wie auch immer gearteten staatlich
garantierten Mindesteinkommens zu ihrem Anteil an den Produktivitätszuwächsen
kommen.(...)
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- Zu den Maßnahmen mit deren Hilfe der
dritte Sektor ebenfalls gestärkt werden könnte zählen
die Einführung von Schattenlöhnen für freiwillige
Arbeiten, die Einführung einer Mehrwertsteuer auf High-Tech-Produkte
und Dienstleistungen, welche allein zur Finanzierung eines Sozialeinkommens
für gemeinnützige Arbeiten verwendet werden müßte,
und die Erhöhung der Steuerabzugsfähigkeit für
Produktivitätsgewinne, die von den Unternehmen in den dritten
Sektor tranferiert werden".
Diese Thesen müssen genauer untersucht werden. Von wo kommen
denn zur Zeit die Gelder des dritten Sektors? Der größte
Teil dieser Gelder kommen aus den Gehältern, die Menschen
auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt verdienen. Beispiel:
Rosa Lüste und LUST, alle arbeiten unentgeltlich und werden
über die Arbeitswelt finanziert, wo sie vorhanden ist Dies
wird in allen selbstausbeuterischen privaten Initiativen der
Fall sein
Den größten Teil der Gelder des dritten Sektors bringen
also die dort Arbeitenden auf. Ein weiterer Teil wird über
öffentliche Gelder finanziert, die aber immer weniger zu
Verfügung stehen. Ein weiterer Teil wird durch Sponsoring
finanziert, was zum Beispiel (zu wenig) den Aidshilfen zugute
kommt, solchen Gruppen wie uns eher nicht. Der letzte Teil schließllich
durch Spenden, dies kommt wieder aus den Gehältern, die
im ersten und zweiten Sektor verdient wurden
Wer sollte nun den Konzern-Herren die Gelder wegnehmen können,
wenn sie schon die Regierungen aushebeln können? Würden
irgendwelche Regierungen dies überhaupt tun wollen oder
können, oder einen Bürgerkrieg zu provozieren? Hat
man je gehört, daß sich die gut verdienenden Konzernherren
real etwas wegnehmen ließen, ohne daß sie zur Keule
der rechtsgerichteten Diktatur griffen und die "Sozialromantiker"
einsperren oder von verhetzten Menschen und Gruppen umbringen
ließen?
Wenn der Staat die Gelder über Steuern (und nun nicht die
Besteuerung der Arbeitnehmer, sondern der Großverdieser)
einnimmt und in soziale Projekte steckt, dann ist dies nicht
der "Dritte Sektor", sondern in Wirklichkeit der zweite
Sektor, die zur zeit vielkritisierte Staatsquote, die alleine
(wie auch die angeblich zu hohen Abgaben) schuld an der Arbeitslosigkeit
seien. Und bekanntermaße produzieren die Hersteller dort,
wo die Menschen am wenigsten abgesichert sind.
Es scheint für die Unternehmen am effizientesten zu sein,
dort zu produzieren, wo rechtsgerichtete Diktaturen oder sogenannte
autoritäre Staaten Gewekschaften verbieten, staatliche und
private Sozialprogramme verhindern, stattdessen Feindbilder anbieten
und Menschen wie Jeremy Rifkin als Kommunisten beschimpfen.
(Joachim Schönert, 35. LUST)
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