42. Lust: Juni/Juli 97
Integration olé?
100 Jahre Schwulenbewegung - und trotzdem nix gelernt. Ist die selbsternannte schwule "Bürgerrechtsbewegung" nun der Anfang, das Ende oder was? Eine Polemik.
 
Dem ehemaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow kann man nun wirklich nicht vorwerfen, er sei am Niedergang des radikal-emanzipatorischen Teils der deutschen Schwulenbewegung Schuld. Dennoch: Die 1989 durch seine Umbaupolitik ("Perestroika") ausgelösten weltpolitischen Veränderungen wirkten sich hierzulande auch im Kleinen aus. Wo linke, emanzipatorische Strukturen (vor allem außerparlamentarisch) wegbrachen, verschoben sich Gesamtgesellschaftlich die Koordinaten nach rechts. Brennende Asylantenheime waren nur ein äußerliches Zeichen dieser Entwicklung.
 
Die Perestroika in den Farben der Bundesrepublik machte um die rosarote Homobewegung keinen Bogen. Seit sich vor fast genau hundert Jahren, am 15. Mai 1897, mit dem "Wissenschaftlich-Humanitären Komitee" (WhK) um den Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld die weltweit erste offen für gleiche Rechte eintretende Homosexuellenorganisation gegründet hatte, stehen sich bürgerlich-integrationistisches und radikal-emanzipatorisches Lager dieser Bewegung mal mehr mal weniger feindlich gegenüber: Tönte in den vor faschistischen 30ern das braunen Rassentheorien beileibe nicht abgeneigte Schwulen(!)blatt "Der Eigene", Hirschfelds WhK werde "von Juden kontrolliert" und stünde "politisch links", so sorgte in den 70er Jahren der sogenannte Tuntenstreit zwischen Bürgerlichen und "Feministen" für Krach in der Familie.
 
Mit Zusammenbrechen des schwulenpolitisch linken FIügels starteten die Integrationisten um SVD - "Schwulenverband in Deutschland" ("Wir wollen das Schwule ihr Recht bekommen") und Bündnis 90/Die Grünen ("Er ist mein Mann") den Durchmarsch.
 
"Es kann nicht darum gehen, an der Alltagserfahrung von Schwulen vorbei Diskriminierung als "richtiges Bewußtsein" zu predigen, Schwule zu permanenten Opfern zu machen und miesepetrig Weltverbesserung zu fordern. Daß dies nicht dem schwulen Lebensgefühl entspricht, hat nicht zuletzt die geringe Beteiligung an den CSDs der 80erJahre gezeigt. Erst als sich die CSDs zum Gay Pride, zum Fest schwuler Lebensfreude entwickelten, wurden sie auch zu Großveranstaltungen (···)
 
Die Politverbände sind über das schmale gesellschaftliche Spektrum der Studentenbewegung hinausgewachsen und zur Bürgerrechtsbewegung geworden", rief jüngst Stefan Zacharias, grüner Schwulenreferent im NRW-Landtag und SVD-Sprecher in Personalunion, zur Ordnung ("Diskriminierung ade?", in: rosa zone 4/97, S.1). Das politische Credo schwuler Bürgerrechtspolitik der 90er erschöpft sich somit in der gewinnträchtigen Organisierung "schwuler Lbensfreude", denn "Streß mit heterofixierten Versicherern erübrigt sich, in dem man sich über den SVD versichert" (Zacharias).

Wessen Interessen vertritt schwule "Bürgerrechtspolitik" eigentlich? Wohl wissend, daß "der Eigene" knapp an die 1000 heranreichende Mitgliederstamm der "größten Schwulenorganisation in der Geschichte der Bundesrepublik" noch lange keine schwule, schon gar keine lesbische Majorität ausmacht (der lesbisch-schwule "Bund für Menschenrechte" brachte es in der Weimarer Republik immerhin auf über 40.000 Mitglieder), ist es hier die "schweigende Mehrheit", da sind es "alle, die sich durch uns vertreten fühlen" (O-Ton SVD-Chefsprecher und grüner MdB Volker Beck), derer man sich angenommen zu haben vorgibt.
 
Eine erstaunliche Definition von Bürgerrechtspolitik und überdies eine rhetorische Glanzleistung, der zweifellos kaum eine "Altagserfahrung von Schwulen" entkommen kann: "Richtiges Bewußtsein" und "schwules Lebensgefühl" haben demnach dem zu "entsprechen", was schwule Bürgerrechtler festzulegen belieben. Politikansätze und Lebensentwürfe jenseits ihres sich an die bestehende, heterosexuell normierte Gesellschaft anbiedernden "Wir sind-doch-genauso-normal-wie-ihr"-Aktionismus (siehe "Aktion Standesamt"), so behaupten die Integrationisten dreist, schadeten sowieso nur der Bewegung.
 
Hier spiegeln sich durchaus nationale Verhältnisse wieder: Herleitung und Motivation radikal-emanzipatorischer (Schwulen-)Politik wollen oder können sich einige Integrationisten offenbar nur mit individuell-psychischen Defiziten ihrer Wortführer erklären: Wer es heute noch wagt, "Weltverbesserung" zu fordern, muß einfach "miesepetrig" sein. Wer Gluck hat, kommt noch mal als "frustrierte Politschwester" davon. Könnte man sich heute eine stolze Tunte als SVD-Chefin vorstellen?

Die "klare Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit" intergationistischer Prägung erlaubt keine gesellschaftlichen Utopien und führt zu grob entstellten Wahrnehmungen der Vergangenheit. So war das WhK der 20er und 30er Jahre weder "die" Schwulenbewegung, wie Zacharias in seinem bereits zitierten Artikel behauptet - die mühelose Art der nachträglichen Vereinnahmung spricht allerdings für sich -, noch waren deren Kritiker (wie oben gezeigt) "schwule NSDAP-Mitglieder", also außerhalb der Bewegung zu finden.
 
Feinsinnige Unterscheidungen wie diese haben anderswo zu heftigsten Historikerstreits geführt, in der Schwulenbewegung bleiben sie unwidersprochen Der eigene Stall muß schließlich sauber bleiben, fehlendes Geschichtsbewußtsein läßt sich durch markige Worte allemal wett machen.
 
Doch die "geringe Beteiligung an den CSDs der 80er Jahre" hat durchaus Ursachen jenseits Zacharias'scher Vorstellungen. Das es sich bei ihnen nicht um "Fehl"einschätzungen eines Einzelnen handelt, zeigt sich im Kontext weitgehender Entpolitisierung und Geschichtsentsorgung.
 
Das heute weltweit als lesbisch-schwuler Feiertag namens "Christopher Street-Day" (CSD) begangene, auf einen Vorfall 1969 im Schwulenviertel New Yorks zurückgehende Ereignis, mag Ausgangspunkt der modernen Schwulenbewegung in den westlichen Industriestaaten gewesen sein, aber ein feuchtfröhliches Straßenfest schwuler Kneipenwirte, wie man heute glauben machen will, war "Stonewall Riot" keinesfalls: Als Reaktion auf ständige Schikanen und Razzien in Schwulenkneipen wie dem "Stonewall Inn", verteidigten sich erstmals Schwule und Lesben und schlugen zurück.
 
Die Folge war eine - im Gegensatz zu heutigen CSDs - höchst unangemeldete mehrtägige Straßenschlacht mit der Polizei. Nicht die weiße schwule Mittelschicht hat damals für die homosexuellen Bürgerrechte ein blaues Auge riskiert, sondern die, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hatten. An vorderster Stelle Latino- Trans(vestit)en, nicht selten "illegale Asylbewerber" im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und selbst in der schwulen Hierarchie ganz unten stehend.
 
Wen wundert's, daß man heute so emsig bemüht ist, den doch wohl eher an die jüngsten Castor-Transporte erinnernden Vorfall als "bewährte Mischung aus Karnevalsstimmung und politischer Demonstration" (so die druckfrische Info-Broschüre "SVD von A-Z") zu deklarieren. Bei so viel guter Laune landet dann auch schon mal ein Kranz zur Erinnerung an die homosexuellen NS-Opfer in des Kanzler Kohls Berliner nationaler Gedenkstätte "Neue Wache" -gleich neben dem der Republikaner. Polithomos, die sich partout nicht an die Karnevalsvorschriften halten wollen und ganz unpassend Freiheit für RAF-Gefangene fordern, werden kurzerhand mit -hopsa! - polizeigewalt von der Parade entfernt. Die CSDs Berlin und Bremen 1994 lassen grüßen.
 
Die Radikalen seien ja selbst schuld, hört man. Gewiß doch. Erinnern wir uns an den Auftritt Karl Heinrich Ulrichs, des Vater der Schwulenbewegung, auf dem deutschen Juristentag 1867. Mutig forderte Ulrich als erster öffentlich Gleichberechtigung für Homosexuelle - unerhört für die damalige Zeit. Der Saal tobte, nach wenigen Sätzen mußte UIrichs seine Rede abbrechen. Die Gegner in Politik und Medien ließen anschließend nichts unversucht, Ulrichs bürgerliche Existenz zu zerstören. Der freche Anwalt der Homos sollte, bevor die Aktion womöglich Nachahmer findet, mundtot gemacht werden.
 
War Ulrichs Auftritt etwa kein radikaler, gegen die bestehende staatliche Ordnung gerichteter Akt? Und was ist mit jenen CSDs "geringer Beteiligung", die den Aufbruch der bundesdeutschen Schwulenbewegung signalisierten? Etwa Anfang der 70er in Münster, als Lesben und Schwule mit der Parole "Ob hetero, homo oder nicht - Kapitalismus behämpfen ist unsere Pflicht!" durch die Straßen der erzkatholischen Stadt zogen, während sich bürgerliche Homos noch ängstlich hinter den Gardinen ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer versteckten? Es war schon immer so: Kaum haben die einen "radikale" Erfolge erzielt, kommen die anderen, setzen sich ins gemachte Nest und behaupten, sie seien es gewesen
 
Die Kritik an integrationistischer Schwulenpolitik muß aufzeigen, für was diese Politik steht und von welchen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen sie ausgeht. Genau diese Frage klammert sie nämlich weitgehend aus, die Systemgrenzen bleiben in jedem Fall unangetastet. "Was nützt uns ein Antidiskriminierungsgesetz, wenn wir als arbeitslose, kranke, alte (oder sonstwie von diesem System diskreditierte) Homosexuelle sowieso ausgegrenzt werden?", fragte jüngst die Oldenburger Lesben- und Schwulenzeitschrift "Rosige Zeiten" (RZ 4/5-97) in die richtige Richtung.
 
Dem radikalen Teil der Schwulenbewegung sind vorerst die Strukturen, aber keineswegs die Utopien abhanden gekommen. Der integrationistische Teil hat seine an der Garderobe etablierter Parteien abgegeben, wie Ex-DDR-Bürgerrechtlerlnnen beim Überlaufen in die CDU. Schwule "Bürgerrechtspolitik" beschränkt sich per Definition auf das Machbare, nicht das Denkbare. Zu Lebenzeiten fragte der britische Filmemacher Derek Jarmar größter Kritiker schwuler Lobby-Vereine: "Vertreten Sie wirklich unsere Interessen in der Heterowelt?" Eine Frage, die zu beantworten ist.
Dirk Ruder, SCHLIPS
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