35. Lust: April/Mai 96
 
Akzeptanz und Toleranz der Lesben und Schwulen sowie von Lesben und Schwulen
Kontinuierlich haben Schwule und Lesben in der Vergangenheit gegen Diskriminierung gekämpft. Dies dürfte wohl ausreichend bekannt sein und muß nicht weiter ausgeführt werden. Wesentlich interessanter und unklarer jedoch ist, wie stehen wir Schwulen und Lesben heute in der Gesellschaft, sind wir akzeptiert oder toleriert?
 
Die Bedeutung des Begriffes Akzeptanz:
Akzeptanz legt den Zustand fest, der ein Gleichwertiges dastehen bzw. existieren unterschiedlicher Zustände oder Interessen ermöglicht. A und B stehen auf gleicher Ebene nebeneinander. Derjenige, der von Akzeptanz spricht, verzichtet deswegen automatisch auf eine hierarchische Anordnung! Das Handeln und Agieren des Akzeptierenden, das in Form von Kritik auf die andere Partei gerichtet ist, räumt in einem Akzeptanz-Verhältnis automatisch dem Gegenüber das Recht auf Gegenkritik in gleicher Form ein! Akzeptanz kann nur das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Gegenüber sein. Ist dies nicht der Fall, kann nur von einer indifferenten Haltung die Rede sein! (Indifferenz = Egal-Haltung)
 
Zur Bedeutung des Begriffes Toleranz:
Anders sieht es bei dem Begriff Toleranz aus. Hier stehen eben beide Parteien nicht auf gleicher Ebene, sondern sie sind hierarchisch angeordnet. Tolerieren heißt dulden! Demnach ist der Tolerierende der Machtausübende und der Tolerierte der Unterlegene. Der Tolerierende hat folglich die Möglichkeit, diesen Zustand jederzeit zu ändern und dem Tolerierten den scheinbar gewährten Freiraum zu nehmen. Deswegen ist es nur scheinbar, wenn eine tolerierte Gruppe/Minderheit glaubt, durch Toleranz mehr Freiheit zu haben.
 
Betrachten wir die Medien:
In den letzten Jahren hat sich außer dem Paragraphen 175 scheinbar sehr viel getan. Offensichtlich ist, daß der Schwule und die Lesbe in den Medien häufiger aufgegriffen wird. Wir werden sogar von der Wirtschaft als bedeutende und separat anzusprechende Zielgruppe erkannt. Produkte wie West-Zigaretten, Versicherungen usw. richten ihre Werbung inzwischen direkt an Schwule und Lesben. Es wird aber auch allgemein mit schwulen Inhalten geworben, die hier jedoch an äußerlichen Erscheinungsbildern und Merkmalen festhalten, z.B. "Paul ist jetzt Paula und Du weißt von nichts" wirbt TeLMI mit der Skurrilität eines Transvestiten.
 
Viele Schwule und Lesben fühlen sich durch solche Phänomene integriert und akzeptiert. Aber gerade was die Medien betrifft, sollte klar sein, daß es hier nicht darum geht, Schwule und Lesben in ihrer Lebensform zu verstehen, sondern darum, wie neue, kaufkräftige Zielgruppen gefunden werden. Von Akzeptanz kann hier keine Rede sein. Und wenn, nur soweit, daß eine Firma es nicht mehr als rufschädigend einschätzt, mit Schwulen oder Lesben zu werben oder an diese gerichtete Werbung zu schalten. Unumstritten ist, daß wir gesellschaftlich noch nicht auf gleicher Ebene stehen, also nicht akzeptiert sind. Eventuell werden wir bedingt toleriert, wenn nicht sogar große Teile der Gesellschaft uns gegenüber eine indifferente Position einnehmen.
 
Natürlich können wir uns heute ungehindert bewegen (aber auch nur sehr bedingt). Schwule und Lesben haben es immer noch schwerer mit Partner eine Wohnung zu finden, offen am Arbeitsplatz über ihre Partnerschaft zu sprechen. Wir sind immer noch die Verführer, vor denen Eltern ihre Kinder schützen. Wir haben für viele Menschen immer noch eine gestörte Sexualität. Sind immer noch die anderen, die nicht normal sind. Werden nicht in unserer Gesamtheit als Mensch wahrgenomnen.
 
"Dafür, daß er schwul ist, ist er aber ganz nett", -oder "Ich habe nichts gegen Schwule, ich kenne sogar welche", sind nur scheinbar nett gemeinte Aussagen. Wir stehen immer noch in einer Dankbarkeitshaltung wenn Mann/Frau einmal "nett" zu uns sind.
 
Mario Wirz beschreibt dies sehr schön in seinem Buch "Es ist spät, ich kann nicht atmen": "Schwule müssen immer noch sauberer sein als andere, sie müssen mehr leisten um gleiche Achtung zu finden."
 
Ganz abgesehen davon, daß Gewalt gegen Schwule und Lesben immer noch zur Tagesordnung gehört. Wenn ich darüber mit anderen Schwulen spreche, stoße ich nicht selten auf Unverständnis, es wird mir sogar Verfolgungswahn nachgesagt. Ich höre leider zu oft: "Wenn man sich ein wenig arrangiert mit den Mitmenschen, braucht man auch keine Angst mehr vor Gewalt und Diskriminierung zu haben." Denke ich genauer über diese Einwände nach, so wird für mich klar, daß das bedingt richtig ist.
 
Denn wenn ich den braven, sauberen Schwulen spiele, der nicht auffällt, seinem Chef oder Arbeitgeber dankt, daß er ihn trotz seiner perversen Veranlagung beschäftigt, regelmäßig die Treppe putzt, durch eheähnliche Beziehungen sittsam, moralisch unbedenklich, unauffällig bleibt, dann kann es mir damit wohl sehr gut gehen. Hier liegt nämlich der Punkt auf den alles herausläuft ! Wir haben es aufgegeben, dafür zu kämpfen, daß wir so sind wie wir sind und auch so akzeptiert werden wollen!
 
Mario Wirz drückt es inhaltlich folgendermaßen aus: "Wir leben nicht mehr gegen den Gartenzwerg, sondern wir wollen endlich auch Gartenzwerge sein!"
 
Das hat automatisch zur Folge, daß der bewegte Schwule, die bewegte Lesbe selbst in den eigenen Kreisen, in denen er/sie akzeptiert wurde, anfängt zu stören. Nun werden Tunten, Ältere, nicht der ästhetischen Norm entsprechende Schwule, maskuline Frauen auch von Schwulen und Lesben diskriminiert. Denn die Auffälligen scheinen schuld daran zu sein, daß Schwule und Lesben solch ein schlechtes Image haben, sie werden auch in der Szene ausgegrenzt.
 
Auch Schwule und Lesben wollen den normalen Mann, die normale Frau! Fakt ist: Es stimmt, daß z.B. die Tunte stört, ein "normales" Bild vom Schwulen aufzubauen. Sie schadet dem Ruf, sie verhindert das ungestörte Leben! Aber das ist gut so und wichtig. Sind diese Minderheiten in der Gay Bewegung doch noch die einzigen, die sich emanzipieren, die die Hetero-Gesellschaft hinterfragen und parodieren.
 
Auch die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare dient nicht der Akzeptanz, sondern dem normgerechten Glattbügeln alternativer Lebensformen. Vielmehr sollten wir dieses System des Staates hinterfragen und juristisch gesicherte Alternativen fordern, um das Ehe-Monopol abzuschaffen. Passe dich an und du fällst nicht mehr auf! Fordert mein Gegenüber von mir so zu werden wie er/sie selbst ist, damit er/sie mich akzeptiert, kann von Akzeptanz nicht mehr die Rede sein. Das heißt Auflösung jeder Individualität.
Akzeptanz gegenüber Schwulen und Lesben ist deswegen nur bei Menschen zu erwarten, die die gesellschaftlichen Verhaltensmuster hinterfragen und anzweifeln.
 
Toleranz darf nur ein vorübergehender Zustand sein, der letzten Endes in Akzeptanz übergeht, da sonst von tatsächlicher Gleichstellung nicht die Rede sein kann.
 
Schwule und Lesben müssen sich ihrer momentanen Situation bewußt werden und verstehen, daß sie die an ihnen ausgeübte Ausgrenzung nicht weiterleiten dürfen an Minderheiten innerhalb der Schwulen- und Lesbenszene. Sie sollten sich fragen ob das, was sie unter Integration und Akzeptanz verstehen, nicht in Wirklichkeit das Ignorieren und Negieren ihrer ganzen Persönlichkeit ist.
 
Ob sie nicht, um scheinbar akzeptiert zu sein, das Wesentliche ihrer schwulen und lesbischen Identität haben fallen lassen. An diesem Punkt ist meines Erachtens letztendlich die Schwulen- und Lesbenbewegung gescheitert. Es gibt sie nicht mehr, die Gay Bewegung. Es gibt keinen Interessenkampf mehr. Es gibt keinen mehr, der gegen die Mißachtung der Rechte arbeitet. Es gibt nur noch Schwule und Lesben die Schuldige suchen. Schuldige, die man verantwortlich machen kann für den Druck von außen und für das eigene Versagen an Loyalität und Kollegialität. (Alexander Marcus Schiemann)
 
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