- 108. Print-Ausgabe, Herbst-LUST 2011
-
- Solidarität mit Christopher!
Im neusten gay Magazin der Schweiz fand ich einen Hinweis auf
George Michael, der sich über mangelnde Solidarität
unter den Schwulen beklagt haben soll. G. Michael vermutete den
Grund in der Kinderlosigkeit von schwulen Männern.
Ich habe keine Ahnung, wie er auf sowas kommen konnte. Heterosexuelle
Eltern haben auch Kinder und sind untereinander unsolidarisch.
Eine Erfahrung hat sich für mich in den Jahrzehnten des
schwulen Buchladens allerdings immer mehr konkretisiert: Schwule
lesen im Allgemeinen ganz gerne Jugendbücher, worin ein
coming out, oder die (schwule) Jugendliebe thematisiert wird.
In der letzten Zeit habe ich eine ganze Reihe von Kinder- und
Jugendbüchern über schwule Jungs gelesen. Mit dieser
Literatur versuchen sich auch immer wieder Frauen als Autorinnen.
Dann allerdings begegne ich darin dem Schwulen ohne Unterleib".
Das hat wohl seine anatomischen und erzieherischen Gründe.
Und während Leser solcher Bücher sehr schnell in den
Verdacht der Pädophilie geraten, bleiben auffälligerweise
die AutorINNen davon verschont.
Es sind meistens - nicht immer - einsame" Geschichten,
voller Enttäuschungen, Hoffnungen und Sehnsüchte. Darin
vermisse ich die Solidaritätserfahrung ganz stark - mit
anderen Jungs (es geht halt oft um Konkurrenz), oder von Heteros
mit schwulen Jungs. In diesen Geschichten wird das höchstens
mittels einer besten Freundin" thematisiert.
Solidarität heisst sinngemäss, seine solitäre
Situation herzugeben (soli dare). Auf Kosten des eigenen und
besseren Status, sich mit Einem oder mehreren Anderen verbinden
...
In der Realität kämpft meistens Jeder gegen Jeden.
Oft gilt der Kampf mit dem Anderen symbolisch den eigenen Gefühlen
(z.B. Homophobie), oder entspricht nach der heterosexuellen Moral
dem Hahn, der möglichst viele - oder die Schönsten
- unter seine Fittiche nehmen möchte.
Nach dieser Methode gibt es keine solidarischen Gruppen, nur
solche, die wie Banden" sich einem Führer unterwerfen,
um für ihn, oder gegen alle Anderen" zu kämpfen
... Das ist heterosexuelle Tradition. Aber müssen wir das
übernehmen?
Homosexuelle Tradition" habe ich in der Schwulenbewegung
auch noch erlebt als Bettverwandtschaften". Das heißt,
dass ich in einem von mir selbst gewählten Kreis von anderen
Schwulen Erfahrungen sammeln konnte, ohne immer gleich mit der
Liebe für das ganze Leben" zu spielen.
Ich habe auch bald einmal gemerkt, dass mir der Herzschmerz viel
eher vergeht, wenn ich mich von Anderen und/oder von einem meiner
Ex-Sexpartner emotional und auch sexuell trösten lasse(n
kann). (Eben nicht von der "besten Freundin"!)
Das schlechte Gefühl bei einer Trennung hatte für mich
also nichts mit einer falschen Liebe, sondern mit meinem Minderwertigkeitskomlex
zu tun. Wenn Lover uns fallen lassen (das kann akzeptable objektive
Gründe haben!), dann müssen andere Freunde an deren
Stelle treten und uns wie in einem gewebten Netz gefühlsmässig
auffangen. (Auch solche, die bereits vergeben" sind
könnten das!) Dadurch erlebe ich Solidarität!
Wer seine wichtigsten emotionalen und sexuellen Kontakte immer
nur erlebt, als sei er an einer einzigen Nabelschnur aufgehängt,
der wird sich dauernd verletzen", enttäuschen",
etc. Damit verbindet sich der Titel eines Buches zum Thema AIDS:
Wenn ich nicht lieben kann, dann dürfens Andere auch
nicht!" (S. R. Dunde)
So hängen sich viele Jungs an irgendeinen dominanten Führer
(sozial), oder an die große Liebe mit dem Richtigen"
(emotional), dem sie dann meistens nur dienen" (oder
sich von ihm wie von einer männlichen Mutter bedienen lassen),
bis sie schnell wieder ersetzt werden können! Es kommt immer
wieder vor, dass wir selber nur einen temporären wichtigen
Teil im Leben eines Anderen sein können. Das ist auch zu
akzeptieren. (Gilt für alle Drama-Queens hier!)
Viele kleine bedeutende Augenblicke im Leben anderer zu sein,
ist auf die Länge lebenserhaltender und psychisch gesünder,
als der heilige Vulkanausbruch mit dem grossen Desaster hinterher
... oder dann wenigstens nebeneinander und sich ergänzend.
Und ich schwöre Euch bei allen schwulen Heiligen, davon
profitiere ich bis in mein aktuelles Alter hinein! AMEN.
Ich führe meine Gedanken noch etwas ins Politische"
aus: Als wir in den 70er Jahren als politisch bewusste Schwule
am 1. Mai-Umzug neben den Ausländern und Frauen auftauchten,
kam mir das Geschrei Hoch die Internationale Solidarität
mit der Arbeiterklasse" etwas schräg vor. Ich konnte
mir nicht vorstellen, dass diese schreienden Männer solidarisch
sein könnten, wenn sie sich nicht mal getrauten, einander
die Hand zu geben. Die schauten dann wohl lieber nach der Demo
ins Décolleté von Frauen ...
Ich kann mich erinnern, dass neu auftauchende Türken, damals
auch Händchen hielten" untereinander. Später
dann auch die Tamilen. Das dauerte aber nicht lange, weil sie
von den Heterosexuellen hier als schwul" denunziert
wurden. Und es ist sehr selten, dass junge Männer sich spontan
freundschaftlich zu berühren wagen. (In dem Buch von Levithan:
Noahs Kuss... bekommt der Hetero die Krise, weil seine Zärtlichkeiten
nach dem coming out des liebsten Freundes eine neue Bedeutung
für ihn bekommen ...)
Womit historisch und ethnologisch dokumentiert ist, dass es nicht
mal des Schwulseins bedarf, um Gefühle füreinander
zu haben und sich solidarisch zu fühlen. Ich komme nicht
umhin, das Problem damit dem allgemeinen Heterror unserer Kultur
anzulasten, der die gleichgeschlechtliche Solidarität zu
einer Kumpel-haftigkeit" und zum Hahnenkampf"
untereinander um irgendwelche Frauen pervertiert hat. Allerdings
wird sich unter der Hetero-Dominanz der Sexualkontakte, gerade
wegen der Eifersucht der Frauen, daran bei den Männern vorläufig
nichts ändern. Die Frauen hingegen haben sich im Patriarchat
noch viel Wärme" erhalten können untereinander,
trotzdem es bei ihnen um den Mann" geht. (Foucault
weist in ein einem Text darauf hin, wie viel mehr Nähe Frauen
gegenseitig zulassen/dürfen und für wie abartig es
bei Männern betrachtet wird) - ausgenommen natürlich
im Fußballsport ...
Wir Schwulen wären somit ein Teil der gesamten Männerkultur.
Stattdessen wird diese vom ausschliesslichen Bezug auf die Frauen
völlig dominiert. Und diese Frauen und Mütter tragen
daran eine pädagogische und gesellschaftspolitische Mitverantwortung.
Denn wie mir klar geworden ist in der letzten Zeit, geht es nicht
nur um die Emanzipation der Homosexualität, oder der Schwulen,
sondern auch darum, alle anderen heterosexuellen Männer
und Macker davor zu bewahren". Unser Kampf gilt nicht
nur für die Homosexualität" sondern auch
für deren Zugänglichkeit für alle anderen
Männer". Aber sie sollen den natürlichen
Gebrauch des Weibes" (Bibel) eben nicht verlassen ...
Solidarität kann nicht auf Befehl verordnet werden. Daher
ist es unsinnig, von immer mehr Minderheiten, die sich jetzt
von der Heterosexualität abspalten (LGBTAQG...), zu erwarten,
plötzlich untereinander solidarisch" zu sein.
Dazu kommt die neue" Moral, bei der jeder nur für
sich selber verantwortlich sei - besonders bei HIV. Jeder soll
auf den Richtigen" warten, der irgendwo im Leben versteckt
sei, oder viele Junghomos wollen nur diesen Richtigen an sich
binden und dann in der schönen Wohnung und bis ans Ende
in den Sarg - verschwinden. So eine Einstellung erzeugt keine
Solidarität.
Früher waren viele Schwule übers Bett" miteinander
verwandt, weil man - schon verletzt von der Repression - sich
nicht auch noch hinterher fertig machen" konnte. Diese
gemeinsame Nähe meine ich, wenn ich von Solidarität
schreibe. Sie ist mit vielen tausend Zweierkisten nicht zu erzwingen.
Wenn Junghomos für ältere Schwule nur Verachtung übrig
haben, dann ist das ein grosses Hindernis für Alle. Denn
die Diskriminierung der Älteren ist zugleich die Diskriminierung
der eigenen Zukunft der Jüngeren. Und dies hängt nicht
nur davon ab, dass angeblich alle Älteren mit Jungs
ins Bett wollen - und die Jungs nicht mit ihnen. Denn darüber
lässt sich reden.
So mancher Junge, der früher in den 70ern auf die Älteren
herabsah, kann heute nicht solidarisch sein, wenn er selber alt
geworden ist. Er hat also nichts gelernt. Und so tun es auch
heute die Junghomos in gleichem Maße nicht. Und sie werden
auch wieder nichts lernen, aus Verachtung gegenüber den
Anderen - aber letztlich gegenüber der eigenen Zukunft,
die noch unsichtbar ist.
Nicht zuletzt ist es die Aufgabe von Angehörigen von Mehrheiten,
mit Angehörigen einer Minderheit solidarisch zu sein, nicht
umgekehrt! Und es gibt auch Jungs, die mit Älteren keine
Probleme haben, weil sie mit ihnen reden, oder weil sie diese
sogar geiler finden als die Gleichaltrigen. Aber da finden auch
keine Gespräche und kein Erfahrungsaustausch darüber
innerhalb der schwulen Generationen statt!
Dass die Solidarität besonders in den letzten Jahren abhanden
kam, ist dem Zeitgeist zuzuschreiben und nicht spezifisch der
Homo-Szene. Der Ansatz aber müsste lauten: Da die Homos
sich in einem gewissen Ghetto-Freiraum bewegen können, hätten
sie das Potenzial, wenigstens etwas in der Homoszene zu ändern,
statt nur für sich selber zu schauen. Der Zeitgeist ist
der Geist der Anderen und nicht des Ghettos, um das auch mal
positiv zu werten!
Vielleicht können sich einige Junghomos die Zweierkiste
zwischen 16 und 26 verklemmen und alternative Erfahrungen untereinander
im Sex und in den emotionalen Erlebnissen machen. (Statt bis
30 auf den Richtigen zu warten!) Erfahrungen die sie dann auch
für eine spätere Zweierkiste gut gebrauchen könnten.
Aber es ist einfacher, von der einen Familie zu kommen und sogleich
eine neue zu gründen, die wieder die gleichen Gesetze und
Abläufe etabliert, wie mann sie schon gehabt hat. Jetzt
einfach nur auf homo"!
So hat Solidarität nichts damit zu tun, ob wir Kinder haben
oder nicht. Aber sehr viel damit, wie diese kinderproduzierende
Familie und Gesellschaft unser homosexuelles Leben täglich
mitbestimmt! Und die angeblich so toleranten schwulen oder lesbischen
Regenbogenfamilien" werden mit ihren heterosexuellen
Kindern eh vollauf selber beschäftigt sein! ;)
Peter Thommen, Schwulenaktivist_61, Basel
(Überarbeitet am 18.8.11 für die LUST)
- Dein Kommentar zum Artikel: hier
-