107. Print-Ausgabe, Sommer-LUST 2011
 
Homophobie, Gay Pride, die Szene und ihr Umfeld
Die Szene wird unpolitischer und smarte Leute entdecken die CSD-Gay-Events als Möglichkeit der Einflussnahme. Alte Aktivisten unserer Bewegung ziehen sich zurück, haben sich schon zurückgezogen, sofern sie nicht zu den Opfern von AIDS gehören und manche fühlen sich durch die Aktivitäten junger leute ihrerseits wieder aufgerufen. Dennoch, ihr lieben mitälterwerdende Aktivistinnen, ob es uns gefällt oder auch nicht, es ist unverkennbar, der Generationswandel klopft an unsere Türe.
 
Es gibt nicht mehr viele von uns, den Schwulenaktivisten, die aus der 68er Sexrevolte ihr persönliches Coming-out vielleicht, zumindest ihr schwulenpolitisches Coming-out gewinnen konnten. Die Schwulenbewegung in der Bundesrepublik hatte, wie auch die Frauenbewegung in der 68er Revolte ihr entscheidendes Coming-out.
 
Aktivistengenerationen
Manchmal laufen sich einige alt gewordenen Aktivisten der frühen Jahre noch über den Weg. Böse Zungen behaupten, dass die Überlebenden die sind, die von der homosexuellen Befreiung selber privat wenig Gebrauch machten oder machen konnten und daher von AIDS nicht betroffen waren, in einer Zeit, in der man daran starb.

Andere wissen sich wunderliche Geschichten über das Privatleben der alten Aktivisten erzählen, besonders der alten, die noch immer Aktivisten sind. Das ist der Schwulenhass (oder die Homophobie, wie das heute genannt wird) in Zeiten, in denen man nicht mehr gut offen homophob argumentieren kann, in der schwulen Szene und der linken Szene.

Man ist als alter Aktivist erst einmal erschrocken und reagiert immer erst einmal hilflos darauf, wenn man sieht, dass damit wieder mal etwas zerstört wird, woran man gerade baut. Doch dann erinnert man sich an frühere Begebenheiten dieser Art und beruhigt sich damit, dass dies eben die Homophobie unserer Tage ist.

Da ist etwas Witziges dran, an solchen Hinrichtungen hinter vorgehaltener Hand: was so erzählt wird entspricht immer dem, was sie Gesellschaft im Moment als besonders schlimm empfindet.
Die älteren Aktivisten kennen das schon, sind aber immer wieder erneut sprachlos, wenn sie mal wieder dann aufgespießt werden, wenn sie es am wenigsten vertragen können.

Die überlebenden Aktivisten haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Ein Teil von ihnen hat sich ein schwules Unternehmen aufgebaut. Ein anderer Teil hat sich irgendwann entnervt zurückgezogen. Andere machen halt immer weiter und haben für eine zweite Generation von Aktivisten gesorgt. Denen geht und ginge es beinahe genauso wie den Alten. Und nun erleben die Alten, dass sich die Enkel regen und dass sich schon die zweite Generation von AktivistInnen zurückzieht.

Ein solcher Aktivist der 2. Bewegungsgeneration ist Bruno Gmünder, ein Großverleger unserer Szene, der seinen Verlag nun nach 30 Jahren abgegeben hat, aber, so sagt er der taz, weiter umtriebig sein will. In der Wochenend-Ausgabe 18./19. Juni 2011ist ein zweiseitiges Interview mit ihm, das mehr als ein Interview ist, weil hier auch allegemeine Erkenntnisse und Wahrheiten unserer Bewegung zur Sprache kommen, zumindest solche, die sich mit den Erfahrungen der alten Aktivisten decken.

Brunos damaliger älterer Freund, der Schwulenaktivist der 1. Generation Christan von Malzahn, hatte den Prinz Eisenherz Buchladen in Berlin mitgegründet. Und Bruno dann später seinen Verlag. Auf die Frage, ob es schlimm sei, dass die „Junghomos“ heute davon ausgingen, dass die Kämpfe längst gekämpft sind, antwortet Bruno: „Es wäre ja schön, wenn heute die Jungen mit sich versöhnt sind. Ich glaube es nur nicht“. Er war damals nicht schwul, sondern links, sagt er. Was sein spätes Coming-out betrifft meint er: „Erst später habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, eine Identität zu haben“.

taz: „Im Dorf zu sein mit den Regenbogenfahnen. Und sie sind dann ein großer schwuler Gartenzwerg, oder?“
Bruno: „Es macht schon Spaß, einer der Gartenzwerge in dem Lustgarten zu sein. Und es ist toll, wenn einem immer mal wieder, jetzt gehe ich auf die 60 zu, ein Praktikant einen bläst. Man kann in der Community sehr viel Spaß haben. Sie ist sehr menschlich. Nicht so wie die Linken, verzehrend, brutal, gehässig“.

taz: „Schwul und links geht nicht?“
Bruno: „Das geht nicht. Die Linken missbrauchen dich immer. Als Köder, als Verräter, sehr gerne. Zu gegebener Zeit lassen sie dich dann hochgehen. Das Spiel kennen wir zu Genüge. Die Linken haben immer mit den Schwulen gespielt. Vom Grundsatz haben sie einen humanistischen Ansatz, in wesentlichen Punkten aber haben sie dies Schwulen im Stich gelassen“.

Dann wird darüber gesprochen, dass schwule Geschäftsleute und Literaten letztlich isoliert bleiben. In Frankreich seien schwule Themen auch im intellektuellen Mainstream verankert. Und in den USA seien im Gegensatz zu Deutschland gute schwule Autoren bei den großen Verlagen. Dass das hier anders ist, war für ihn gut, weil gute schwule Autoren ihm zugeflossen wären. Aus all dem geht für mich hervor, dass Bruno nicht davon überzeugt ist, dass wir alles erreicht hätten und unsere Aktivitäten ein zufriedenstellendes Ende gefunden haben.

Er meint, mit 55 könne er sich nicht mehr in die jungen aktiven Leute von 20 - 40 hineindenken. Daher gebe er seinen Verlag ab.
Aber mit ihm müsse man weiter rechnen. Nun habe er viel Geld an die Initiative für die Proteste gegen den Papstbesuch gegeben.
Er habe zwar irgendwie die Verpflichtung, sich zurückzuziehen und die Kinder sich austoben zu lassen. Das müssten die 68er alle lernen. Auch die Schwarzer solle ruhig den jüngeren Mädels den Vortritt lassen.

„Ich halte es nicht für sinnvoll, Jüngere zu belehren. Jeder muss seine eigenen Antworten finden“.
Also ich selber, der Joachim, der diesen Beitrag schreibt, gehe nicht mit 55 auf die 60 zu, sondern mit 67 auf die 70. Vom Alter her gehöre ich zu den Alten der Schwulenbewegung. Doch mein Coming-out als Linker und als Schwuler war auch später, sodass ich in die 68er Szene und ins schwule Leben vom Alter her der 1. und der 2. Generation begegnete bzw. daran teilnahm und teilnehme.
Ich kann Brunos Aussage über die menschliche schwule Community und die verzehrende, brutale und gehässige linke Szene so nicht akzeptieren, obwohl durchaus auch etwas dran ist. Es kommt eher darauf an, zu hinterfragen, was man sucht: ein politisches Handlungsfeld für notwendige gesellschaftliche Veränderungen oder eine politische Heimat beziehungsweise überhaupt eine Art Heimat.
 
Wer jedoch vorrangig eine Heimat im Rahmen der vorherrschenden gesellschaftlichen Realität sucht, sollte vielleicht in einen Kirchenchor gehen und dort Familienfreundschaften suchen. Gruppen in unserer Szene von Sportvereinen über Gesang- und z.B. Fastnachtsvereinen bis hin zu den Regenbogenreitern usw. erfüllen solche Sehnsüchte sicher, ebenso wie kurzzeitig vielleicht sogenannte Coming-out-Gruppen, die sich schnell wieder verflüchtigen. Da war schon in den 70er Jahren mein Vorschlag, dass eine gute politische Schwulengruppe oder Lesben- und Schwulengruppe eben beides im Programm haben müsste, also das Politische mit dem Familiären bzw. Freundschaftlichen verknüpft. Das hat aber allzuzoft nicht geklappt, besonders wenn die Freundschaften bzw. politischen Ansichten in Konflikt miteinander kamen.

Aber eine Alternative links oder schwul gibt es so nicht. Das sieht ja so aus, als habe man die Wahl: schwul oder links. Und es sieht so aus, als ob es ausschließlich auf den Umgang miteinander ankomme und nicht auf die Inhalte.
Ob ich links oder schwul bin, kann ich mir beides nicht einfach so aussuchen. Und in meinen Analysen sieht auch das miteinander Umgehen in der schwulen und der linken Szene nicht so aus, wie es Bruno erlebt hat.
Er würde sich eine bürgerliche heile Welt wünschen, und mit diesem Wunsch trifft er sich mit den nachwachsenden junge Schwulen der 3. Generation, von der wir hier sprachen: die neuen, die nun die Sachen in die Hände nehmen. Manchmal winden sie es den Aktivisten der 2. Genretion aus den Händen.

Ich habe Menschen in der linken Szene erlebt, die verzehrend, brutal, gehässig waren und sind, und deren Angriffe auf mich kamen von einem solchen bürgerlichen Selbstverständnis her. Und dass Praktikanten Lust haben, dem Bruno immer mal einen zu blasen, würde in der linken Szene nicht verständnisvoll gesehen, sondern wäre Grund, ihn als "sexausbeuterisches Schwein" anzusehen, denn sie kennen es ja nicht, wie junge schwule Männer in ihrer Promiskuität ticken, wenn sie erst einmal in die schwule Szene eintauchen und diese nutzen. Ich musste mir von Linken immer Vorträge anhören, dass es auch „anständige Schwule“ gibt, die ihrem Partner ein Leben lang treu seien. Und ich gebe ihnen da recht, es gibt sie auch unter den Schwulen, solche, die von sich sagen, wie anständig sie sind, besonders, wenn sie noch im Coming-out sind und die Moral des heterosexuellen monogamen und dualistischen Denkens als Maßstab ihrer Selbstwahrnehmung noch nicht hinterfragt haben.

Also: ich bin schwul, weil ich mich als solchen erkannt habe und mich vor einer Heten-Moral nicht mehr dafür schäme, sondern deren Moral als fragwürdige Konstruktion verstanden habe. Und an einer solchen Konstruktion leiden sie alle, die bürgerlichen und die linken Heten und viele Schwule, die sich danach sehnen ebenso wie Schwule im Coming-out oder solche Schwule, die den heterosexuellen Maßstab deshalb vorgeben, damit sie in der linken Szene besser zum Zuge kommen.

Das hatten wir schon in den 70er Jahren erkannt, dass besonders die linken Frauen eher die bürgerlichen Schwulen mochten, die von der heilen bürgerlichen Welt träumten und sich nach außen hin entsprechend verhielten (und was im Darkroom passierte, ging keiner was an), und die linken Schwulen nicht wollten, die die bürgerliche Idylle nicht nur hinterfragten, sondern auch tätig, selbstbewusst und offen unterliefen. Und wie die Frauen denken und empfinden, das ist sowohl in der linken Szene wichtig, weil heterosexuelle Männer dagegen nicht offen verstoßen dürfen, und auch in der schwulen Szene haben Frauen viel zu sagen, die ganze Rudel von „Freunden“ um sich haben und glauben, sie wissen wie das schwule Leben ist.

Und ebenso, wie man sich nicht aussuchen kann, ob man schwul ist, sondern höchsten wie man sein schwules Leben zu gestalten versucht, ebenso kann man sich nicht aussuchen, ob man links ist. Man benötigt nur die Begegnung mit den zynischen BetreiberInnen der bewussten Verarmung und Deklassierung unterer sozialer Schichten, braucht nur zu erleben, wie sie ihre Privilegien rechtfertigen und ausspielen, um zu verstehen, dass man auf die Seite des Mitmenschen und nicht auf die Seite des Unmenschen gehört. (Die würde natürlich sagen, dass sie auf die Seite des Gewinners und nicht der Verlierer gehören.)

Wenn man offenen Auges mit bekommt, mit welchem Zynismus Menschen zu Nutztieren anderer Menschen gemacht werden, wie die menschlichen Nutztiere auf den Weiden und in ihren Verschlägen auf ihre Aufgaben abgerichtet und die „schwarzen Schafe“ auszusortiert und sozial isoliert werden, dann kann man nicht anders, dann muss man links sein oder werden, auch wenn die unterschiedlichen Wege von unterschiedlichen Linken nicht immer zu den eigenen Wegen werden können und wenn man auch unter Linken sich nicht immer sicher und menschlich behandelt fühlen kann.

Die unterschiedlichen linken Szenen, Milieus oder Organisationen sehen sich übrigens als Teil einer großen Auseinandersetzung und streben andere gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen an, während die unterschiedlichen schwulen Männer eher nach Wegen suchen, unter den vorgefundenen Bedingungen unbehelligt leben zu können, aus ihrer Lage das bestmöglichste zu machen versuchen, auf Inseln innerhalb der bestehenden Gesellschaft, die sie zu finden hoffen. Und finden sie ihre Inseln nicht, halten viele von ihnen die anderen Schwulen daran für schuldig. Sie können nicht anders, denn die große gute Zeit, in der alles besser ist, lässt länger auf sich warten als die Zeit der sexuellen Aktivität eines Menschen andauert.

Also: als Schwuler suche ich etwas völlig anderes, nämlich Vieles auf einer zwischenmenschlichen Gefühlsebene, die ich allerdings eingedenk vieler menschlicher Rückschläge nicht romantisch verklären kann. Als Linker versuche ich eher die Rahmenbedingungen des menschlichen Daseins zu ändern, zu verbessern, um für kommende Zeiten bessere Bedingungen zu schaffen, wenn gute Bedingungen derzeit an Grenzen stoßen und nicht erreichbar zu sein scheinen.

Als schwuler Linker dominiert die gesellschaftliche Auseinandersetzung, was zu großen Verlusten auf den Weg zur derzeitigen zwischenmenschlichen Erfüllung führt, und als linker Schwuler will ich vor allem meine Insel erringen und verteidigen, und diese dann vielleicht in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld erleben, wobei das Inselleben dazu führt, wenn es überhaupt in Ansätzen klappt, dass ich dies lieber nicht so genau hinterfrage.
 
Ich ertappe mich, wie ich ständig hin und herfliehe, von der linken in die schwule Szene und von der schwulen in die linke Szene. Ich fliehe entsetzt aus der Welt schwuler Inselbesitzer und -sucher in die Welt der Leute, die gerne alles infrage stellen. Und von dort fliehe ich entsetzt über ihre zwischenmenschliche Härte wieder in die Arme einer oberflächlichen Szene. Genau genommen will ich beides, und das klappt dann schon gar nicht.
 
Also lebe ich in Wirklichkeit das sogenannte Hin- und-Her-Leben, abwechselnd linker Schwuler und schwuler Linker zu sein, wobei mir von beiden Szenen, die abwechselnd dominieren, mir die menschlich zufriedenstellenden Aspekte fehlen und die unzufrieden machenden Aspekte sich potenzieren. Und dies besonders, weil ich älter werde und aus diesem Grund für so manches von so manchem keine Rolle mehr spiele.
 
Was da nachwächst
Klar, die Nachwachsenden, die nicht nur zur Kenntnis nehmen, was da ist, und die immerhin sich einsetzen, um zu ändern, was ihnen nicht passt, sind immerhin auch Aktivisten, und das heißt schon was, in einer Feierszene.

Oft sind es auch engagierte junge Frauen, die im lesbisch-schwulen Umfeld die Initiative ergreifen, Feste oder gar den örtlichen CSD organisieren. Was früher schwule Männer selbstverständlich für Lesben mittaten, ist nun keine schwule Domäne mehr.
 
Es gibt ja auch nicht den vereinzelt vorkommenden früheren Widerstandswillen mehr gegen die real existierende staatliche Schwulendiskriminierung und Verfolgung durch den § 175 StGB und den Polizei- und Verwaltungsapparat. Und nun sind Lesben und Schwule vor dem Gesetz gleich. Die Bindungskraft der auch homosexuelle Männer angreifenden Frauenbewegung hat nachgelassen, so dass sich zunehmend engagierte Frauen in lesbisch-schwulen Zusammenhängen eingliedern.

Manchmal sind einige schwule Männer dabei, oftmals aber auch nicht. Klar, vielen jungen Männern reicht es schon, solche Feste aufzusuchen und dort nach Traumprinzen Ausschau zu halten. Sie beklagen, dass nichts da ist und begrüßen, wenn etwas entsteht. Und wenn was entsteht: Lesben und Schwule arbeiten hier mehr oder weniger gemeinsam, oft sind es aber Lesben, die hier an vorderer Stelle sind.

Und wenn in manchen Städten derzeit gerade kein CSD stattfindet, dann ist dies eine Marktlücke, die von solchen Kräften rasch gefüllt wird. Bald also wird es wohl keine Stadt mehr ohne CSD geben, besonders, wenn dort eine Uni oder Fachhochschule existiert.

Was sind das für junge Leute, die wollen, das auch in ihrer Stadt „etwas los ist“. Erfüllen die alle Erwartungen, die wir als 1. oder 2. Generation der Schwulebewegung für notwendig halten? Sind das die Leute, auf die wir getrost setzen können, denen wir unsere erarbeiteten Positionen, unsere Altlasten und Kampferfahrungen vertrauensvoll in ihre Hände legen können? Ich glaube kaum, dass sie daran interessiert sind. Sie werden sich wohl eher überlegen, ob und wozu wir ihnen eigentlich ständig im Wege stehen un wizu wir noch irgrndwie nützlich erscheinen.
 
Ihnen geht es vorrangig darum, dass sie Feste feiern können oder organisieren können. Das kan ndan schnell als Erfolg verbucht werden und manchmal kann man sich damit auch kommerzielle selbständig mchen. Die immer alles hinterfragenden Alten stören nur mit ihrem Genörgel und halten nur auf.

Das sind eher die Wunschträume alter Menschen, vielleicht sogar alter Männer, dass sie jemanden finden, der (die) sich in die alte Arbeit reinarbeitet, die privaten Bibliotheken und Archive für die nachfolgenden Generationen mitschleppt und das aus ihnen lernt, was frühere Generationen lernen mussten, weshalb man mit Respekt behandelt werden will, statt einfach abgeschoben zu werden.
 
Man braucht nicht zu glauben, dass uns jemand zuläuft und in unsere Fußstapfen tritt. Wenn jemand uns zuläuft, dann will er uns möglich schnell überholen und uns zurücklassen und aus unserer Arbeit nur das nehmen, was in ihre Absichten passt. Diese jungen Leute wollen einfach ihren Spaß haben, erfolgreich sein, vielleicht damit auch Geld verdienen. Und dass das ganze auch ein Politikum ist, das lernen sie vieleicht auch während ihres Engagements. Sie wollen sich nichts von uns sagen lassen, weil sie sich selber wissend vorkommen und uns überhaupt nicht zutrauen, darauf eine für sie akzeptable Antwort zu haben.

Große gefüllte Bücherregale mit den angehäuften Schätzen der Auseinandersetzungen der 68er und folgenden Jahre belasten nur, wozu solle man sich damit auseinandersetzen? Was man vielleicht noch wissen muss, steht im Internet. Angst davor, dass man vielleicht auch wieder eine Gegenöffentlichkeit gegen die gleichgeschaltete Öffentlichkeit brauchen könnte, gibt es wohl nicht, ob wohl die Anzeichen durchaus voerhanden sind.

Tja, wir alten, wir nehmen uns und unsere Arbeit für sehr wichtig, denn das brauchen wir für unsere Selbstachtung, und wichtig war unsere Arbeit auch, in ihrer Zeit. Und die Jungen, die finden alles schon vor, was wir schrittweise und voller Rückschläge ertrotzt und manchmal auch ohne unser Zutun erhalten haben, was eben jetzt so geworden ist wie es ist.

Ein Glück, dass die Städte unser Demonstrationsrecht ernst nehmen und daher für Straßenreinigung usw. sorgen, sodass eine kleine CSD-Parade nicht noch zusätzliche Kosten nach sich zieht, sofern man eine politische Parole hat und diese dann auch glaubhaft vertritt, denn sonst würde bei so manchen lesbisch-schwulen Festen glatt vergessen werden, dass dies nicht nur eine Party für die Jüngeren der Szene ist, wo man als Jüngerer, der mit Jüngeren zusammensein möchte, das Gefühl hat, dass „was los“ ist.

Die Leute, die schwul sind und irgendwo irgendwie eine Karriere machen wollen, wissen heute auch, dass ein öffentliches Outing ihnen noch immer dabei im Wege stehen würde. Es ist alles viel doppelmoralischer geworden, und das Dogma, dass Sex in eine längere Beziehung gehört, ist wieder zum öffentlichen Maßstab geworden, wie es vor den 68ern war, während es für wilde und spontane anonyme sexuelle Begegnungen längst Einrichtungen gibt, von der Sauna über die Cruising-Area in den Pornoläden, vom Outside-Cruising in Parks und auf Raststätten über Internet-Absprachen, und je doppelmoralischer dies alles läuft, statt offen dazu stehen zu können, umso besser klappt es, aber um so gefährlicher ist dies dann auch: von möglichen Überfällen über Erpressungen bis hin zu den erhöhten Infektionsrisiken, wenn dabei, davor und danach nicht sinnvoll miteinander gesprochen wird.

Was sind eigentlich die Aufgaben von schwulen Aktivisten? Gehört dazu nicht auch, die Doppelmoral zu hinterfragen? Das kommt aber bei den meisten Leuten unserer Szene gar nicht gut an. Der Grund für das Festhalten an Doppelmoral ist, dass man glaubt, mit Möglichkeiten und Moralitäten spielen zu können, dass man selber mehr Möglichkeiten in allen Bereichen hat.

Man kann sich als moralischer darstellen, was sonst geschieht ist geheim, und so steht man dann besser da als andere Rivale um den gleichen Mann. Man bekommt dafür auch noch den Applaus von Frauen, die durchaus moralgebend auch in Teilen der schwulen Szene tätig sind. Dies ist übrigens einer der Gründe, warum so manche Schwule ablehnend gegenüber der Zusammenarbeit mit Frauen sind. Darüber an anderer Stelle mehr.
 
Man kann jederzeit trotzdem an allen sogenannten „unmoralischen Exzessen“ teilnehmen und dafür von den anwesenden noch Bewunderung einholen. Man kann vor allem auch am Tratsch über Unmoralitäten anderer teilnehmen, und so besonders gegen Aktivisten der Schwulenbewegung vorgehen, die gegen die Doppelmoral vorgehen wollen, und schon sind wir wieder bei den Anfangssätzen dieses Artikels, in denen ich beklagt habe, dass dies wieder gehäufter vorkommt.

Dass diese Doppelmoral wieder gehäufter vorkommt, ist kein Zufall. Der geglückte 68er Einbruch in die konservative Sexualmoral der 50er Jahre, der sich in den 70er und 80er Jahren positiv auswirkte und zu zahlreihen Gegenreaktionen führte, ist weitgehend wieder zurückgedrängt und so ist ein anderes Selbstverständnis über sexuelle Verhaltensweise entstanden und besonders unter den nachwachsenden Jugendlichen ergänzt sich dies auch durch verstärkte Anlehnung von Homosexualität und Homosexuellen, während man sich öffentlich noch „tolerant“ gibt.

Werden die nachwachsenden Lesben und Schwulen diesem neuen homophoben Zeitgeist, der da zunehmend in Erscheinung tritt, widerstehen können?
 
Homophobie und Gay Pride
Im Grunde ist es das Misstrauen den jungen Nachwachsenden gegenüber, dass vieles Erarbeitete schnell wieder verloren geht, wenn sie nicht aufpassen, und zwar die Erkenntnis, dass es dann den Lesben und die Schwulen dann entsprechend gut gehen kann, wenn die Sexualität möglichst wenig in vorgeschriebene Strukturen eingebunden ist und wenn die Struktur von Beziehungen möglichst offen ist. Daher geht es nicht nur um das gegenwärtige Leben von Schwulen Lesben, Bisexuellen Tarns- und Intersexuellen, ob alle auch schön glücklich feiern können, sondern um das Umfeld.

„Selbst ein Wollhändler muss, außer billig einkaufen und teuer verkaufen, auch noch darum besorgt sein, dass der Handel mit Wolle unbehindert vor sich gehen kann.“ B. Brecht, Leben des Galilei. Also: was die AktivistInnen der 3. Genetation nicht aus dem Auge verlieren dürfen, sind die längst erarbeiteten gesellschaftlichen bzw. soziologischen Zusammenhänge, die Homophobie betreffend.

Was bewirkt das Auftauchen von Wellen der Homophobie in der Gesellschaft, welche politischen und gesellschaftlichen Kräfte sind es, von denen solche Wellen immer wieder ausgehen, die also solche antihomosexuellen Kampagnen für ihre Zwecke benötigen?
Wir hatten doch in der Bundesrepublik nach 1968 eine ganze Reihe von Ansätzen gegen das unbehelligte Leben sowie sexuelle Leben homosexueller Menschen. Manche der älteren Menschen unserer Szene können sich vielleicht noch daran erinnern, was los war.

Denken wir zum Beispiel an die Angriffe aus dem US-Generalstab auf den deutschen General Kiesling, der unter Verteidigungsminister Wörner der Homosexualität beschuldigt wurde. Und Wörner sagte nicht schulterzuckend „na und?“, sondern erklärte, dass homosexuelle Vorgesetzte erpressbar seien, und dass deshalb Homosexuelle kein Führungspositionen einnehmen dürften. Dies enthielt alles, was eine neue Kampagne gegen Homosexuelle in Führungsposionen allgemein ermöglichte.

Das Auftauchen der Krankheit AIDS besonders unter männlichen Homosexuellen, ermöglichte Kampagnen gegen männliche Homosexualität, und das lief ja auch schon an, nämlich als Gauweiler das Tätowieren von Infizierten verlangte, die Emma verbreitete: die schwulen Männer stecken die Frauen an und der Spiegel serienweise Artikel über die „Schwulenseuche“ schieb. Wir erhielten über das Beratungstelefon Drohanrufe, dass man sich das nicht gerfallen lasse, wegen der Schwulen wolle man nicht Kondome benutzen müssen. usw. Dass dies anders kam hatten wir dem Umstand zu verdanken, dass Frau Sümuth vom Vorberuf her Ärztin war und sich also in diesen Zusammenhängen auskannte.

Also die Kampagne gegen Kindesmissbrauch in Bewegung kam, konnten wir erst enmal froh sein, dass die Stoßrichtung die Familienväter und nicht die schwulen Männer waren. Und wir waren in dieser Frage höchst verwundbar, weil wir glaubten, mit den pädosexuellen Männern und Frauen eine gewisse Solidarität halten zu müssen. Außerdem waren da ja unsere trotzigen Selbstbehauptungen im Zusammenhang mit unserem befreiten Sexleben, der ganz schnell auf Päderatie uminterpretiert werden kann. Durch die Stoßrichtung auf die „heilige“ Familie entgingen wir erst einmal dieser Schuldzuweisung.

Als aber die sexuellen Übergriffe in besonders der katholischen Kirche und die brutale Kindererziehung durch Nonnen in kirchlichen Kinderheimen offenbar wurden, versuchte die katholische Kirche, die homosexuellen unter den Priestern dafür verantwortlich zu machen und gesamtgesellschaftlich die Homosexuellen allgemein.

Es gab noch eine ganze Reihe solcher Angriffe, zum Beispiel gegen den CSD usw., die aber deshalb nicht (mehr) wirksam werden konnten, weil in der Bevölkerung das Klima gegenüber homosexuellen Männern und durch Martin Dannecker und die Fernsehdiskussionen im Zusammenhang mir Rosa von Praunheims Film sowie sein Auftreten ein großes Umdenken bei vielen Menschen ermöglichte und die Kampagne um die sogenannte Homo-Ehe für homosexuelle Frauen und Männer Verständnis aufkommen ließ.

Es ist richtig, dass der Schlüssel zu unserer Kraft, widerstand leisten zu können, das Erkennen der eigenen Identität ist. Und daher habe ich in diesem Artikel nicht grundsätzlich von der Lesben- und Schwulenbewegung geschrieben, sondern als Schwuler von meiner Bezugsbewegung, der Schwulenbewegung.

Und wenn die Emma in einige Beiträgen meint, man könnte aufhören, lesbische Frauen lesbisch zu nennen, sondern alle Frauen einfach Frauen, dann ist dies eine sanft anmutende Kampagne aber deutlich gegen das Erkennen und Akzeptieren der eigenen lesbischen Identität gerichtet.

LSBT auf deutsch oder LGBT auf englisch usw. versucht, homosexuelle, bisexuelle und transsexuelle Menschen zusammenzufassen. Dies ist aber nicht „eine Bewegung“, sondern der Zusammenschluss der Bewegungen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transmännern wie Transfrauen. Da meine ich, dass ich nicht LSBT bin, sondern schwul, und dass in der Schwulenbewegung und in Teilen der Frauenbewegung endlich daran gearbeitet wurde und wird, die Kategorien männlich und weblich als gesellschaftliche Kunstprodukte, als Gender, nämlich als Rollen, wie wir 68er dies nannten, in ihren Formen in Frage zu stellen.

Was geht mir im Kopf rum, wie man als alt gewordener Aktivist noch zu einen sinnvollen Beitrag auf die Entwicklung der gegenseitigen Akzeptanz in der Gesellschaft beitragen kann, die als 2. Faktor beiträgt, unsere Bemühungen für ein unbehelligtes Leben von Lesben und Schwulen dauerhaft zu erreichen?

Ein Schwulen- und Lesbenzentrum wäre auch in jeder Stadt wichtig, und nicht nur für die lustigen Feste der Zeit. Das wäre so etwas wie ein Gewerkschaftshaus in jeder Stadt, eben nur für einen anderen Zweck.

Es geht um die jeweils aktuelle Beratung in Fragen des schwulen oder lesbischen Lebens in dieser Stadt, um eine schwul- lesbische Stadtgeschichte und die entsprechenden Dokumentationen dazu und natürlich auch, sofern das machbar ist, um das aktuelle Leben homosexueller Menschen, wo die einzelnen Gruppen ihre Info-Veranstaltungen machen können, wo eine Kultur homosexueller Menschen gepflegt wird und werden kann.

Andererseits wäre es sicher wichtig, auch anderen Gruppen des gesellschaftlichen Lebens Zugang zu diesen Einrichtungen zu geben, sowie selber auch in anderen Einrichtungen dann aufzutreten, wenn damit gerechnet werden konnte, dass von dort Interessierte zuhören oder teilnehmen könnten, damit keine Isolation entsteht.

Das sind Wunschträume, die besonders in kleineren Städten erfolgversprechend sein könnten, in denen kein so überwältigendes Kulturangebot bzw. gesellschaftspolitisches Bildungsangebot vorhanden ist.

So würde ich mir versprechen, homophobe Strukturen in der Gesellschaft zu unterlaufen und stattdessen mit einem gewissen Stolz ein gutes Selbstbewusstsein entwickeln zu können, das es möglich macht, eine akzeptierbare Kultur ohne Verleugnung und Selbstbescheidung zu entfalten.
 
Kling das gut? In meinem Kopf ist dies auf jeden Fall so angesiedelt. Und hätte ich das Geld für eine entsprechende Immobilie sowie einen kleinen ständigen Zufluss an Unterhaltskosten, würde ich das in meinen alten Tagen noch in meiner Heimatstadt einrichten wollen. Aber was dann daraus würde, kann man ja im Alter kaum noch beeinflussen. (js)
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite