105. Print-Ausgabe, Winter-LUST 2010/2011
 
Meinungsfreiheit
ist deshalb eine uralte Forderung, weil Obrigkeiten häufig die Eigenschaft haben, ihre Machenschaften zu verbergen und das Volk abzuhören und Auszuspionieren. Bestimme eigene Meinungen zu vertreten, ist den unteren Schichten nicht nur verboten, sie sollen es auch wissen, dass es ihnen verboten ist, damit sie darüber schweigen.

Immer wenn ein neues Medium technisch möglich wurde, bemühten sich die Obrigkeiten, dieses Medium zu unterbinden oder auch über diese Anwendungen eine möglichst intensive Kontrolle zu bekommen, um es nur zu ihren eigenen Nutzen einzusetzen, und zwar, um echte Kommunikation zu verhindern und die Distribution von oben nach unten aufrechtzuerhalten bzw. jetzt erst richtig zu ermöglichen.

Denken wir an die „Erfindung“ des Buchdrucks, die Buchdrucker mussten anfänglich erleben, wie ihre Geräte mehrfach zerstört wurden.

Das Radio wurde als neues Medium auch für die Obrigkeiten sehr wichtig. Über den Umgang mit diesem neuen Medium und seinen Möglichkeiten entstand eine neue „Radiotheorie“. Eine der ersten Radiotheorien entwickelte Bertolt Brecht: seine Vorstellungen aus der Radiopraxis (unvergleichbar mit vorhandenen Medientheorien) sind den Ansätzen der rationalisierten Praxis zuzuordnen. Sie entstanden zwischen 1927 und 1932; entsprechend sind sie über verschiedene Arbeiten verstreut.

Brecht ironisiert: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen. [...] Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ Dies sei auch der tiefere Grund, so mutmaßt Brecht, dass der Hörfunk nichts Neues übertrage, sondern nur Vorhandenes imitiere.

Basierend auf dieser Analyse überlegt er, wie sich das vorhandene Medium nutzbringend einsetzen ließe: „Um nun positiv zu werden: das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Der Hörfunk könne den Austausch, Gespräche, Debatten und Dispute ermöglichen.

Brecht wünschte sich: „Hörer sollen zum Mitspieler werden“, und: „Das Radio wird zum Sprecher und Medium in einem: es kommuniziert mit den Hörern “. Sein Ziel war es, Höreraktivität zu erreichen und so den Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Die Hörfunksendung fasste er als Radiolehrstück zur Einübung in eine neue Gesellschaftsform auf. Brecht war also überzeugt, dass Medien positive gesellschaftliche Veränderungen hervorrufen können.

„Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Form dieser anderen Ordnung. [...] Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.“

Brecht meinte u.a., dass gerade die Obrigkeiten, die uns politisch und wirtschaftlich bestimmen wollen, wo es lang geht, ständige und ununterbrochen von ihren Untertanen beobachtet werden sollten, um die Lügen und den Verrat unmöglich oder allen offenbar zu machen. Dies sei weit besser beziehungsweise demokratischer als im Auftrag der Obrigkeiten die Untertanen auszuspionieren.

Natürlich wäre es für uns alle politisch wünschenswert, alles unserer Obrigkeiten zu erfahren, und dies wäre durch ein neues uns zur Verfügung stehendes Medium, dem Internet, nun auch zunehmend technisch möglich. Nicht ohne Grund gibt es zunehmend neue Vorschläge, das Internet schrittweise zu zensieren.

Und dann passiert es, dass Wikileaks auftaucht und die Supermacht USA brüskiert.
Nenryk M. Broder schreibt in der Welt u.a. auch über Menschen, denen der alternative Nobelpreis zustünde: „Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch Julian Assange, dem Gründer von Wikileaks, diese Ehre zuteil wird. Die Laudatio für den Festakt kann jetzt schon geschrieben werden: Assange hat sich um die Meinungsfreiheit, die Transparenz in der Politik und den freien Zugang zu Informationen verdient gemacht. Und genau das ist es, was ihm viele Journalisten übel nehmen. ...

Natürlich bedeutet der "Verrat von Geheimnissen", den Wikileaks betreibt, einen Super-GAU für die Politik. Aber erstens ist es kein Verrat im klassischen Sinne, bei dem ein bezahlter Verräter eine Konfliktpartei mit Informationen bedient, um einer anderen Konfliktpartei zu schaden; und zweitens trifft es keine Unschuldigen. Wir wissen, dass Politiker nicht das sagen, was Sache ist, sondern das, was sie uns glauben machen wollen. Es gehört ordentlich viel Chuzpe dazu, nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen zu behaupten, man sei "ein gutes Stück vorangekommen". Und es wäre auch interessant zu erfahren, was Angela Merkel wirklich gesagt hat, nachdem sie einem Grönland-Gletscher beim Kalben zusehen konnte. "Kommt das noch in die 'Tagesschau'" oder "Jetzt brauch ich einen doppelten Wodka!"
 
Jedesmal, wenn zwei Politiker vor die Kameras treten und erklären, man habe gerade einen positiven und konstruktiven Gedankenaustausch hinter sich, liegt der Geruch von Schweiß, Blut und Heuchelei in der Luft. Dank Wikileaks haben wir nun begriffen, dass sich in der Politik seit dem Wiener Kongress praktisch nichts geändert hat. Es wird gleichzeitig auf und hinter der Bühne agiert.“

Vielleicht hat Broder recht, der so gerne provoziert, müsste man nicht auch noch Anderes bedenken: „Der frühere malaysische Vize-Premierminister Anwar Ibrahim wehrt sich gegen Vorwürfe der Homosexualität, die auf veröffentlichte US-Dokumente zurückgehen. Die Unterlagen sollen aus dem Fundus der Onlineplattform Wikileaks stammen.“ In Malaysia steht auf Homosexualität die Todesstrafe.

Je offener alles in einem Teil der Welt wird, umso besser können sich Diktatoren im anderen Teil der Welt gegen ihre Rivalen wappnen, und gleichzeitig verwehren sie der Bevölkerung den Zugang zu solchen Informationen.

Da würde schon auch noch dazugehören, dass auch dort die Bevölkerung alles von ihrer Obrigkeit erfahren würde. Die Bevölkerung könnte dann an deren Ehrlichkeit nicht mehr glauben.
Übrigens: Das Informationsrecht und die Meinungsfreiheit für alle sind die Grundlagen für Demokratie in einer Gesellschaft. (js)
 
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