105. Print-Ausgabe, Winter-LUST 2010/2011
 
Zugeguckt, als die Entführer kamen?
Schwere Vorwürfe von Russlands bekanntestem Schwulen-Aktivisten, Nikolaj Aleksejew, gegen die Swiss International Air Lines.

Am vergangenen Freitag passierte in Moskau Unerhörtes. Das erste Mal seit den 1990er Jahren durften Schwule und Lesben im Zentrum von Moskau eine genehmigte Kundgebung abhalten.
Anlass des Protestes waren diesmal jedoch nicht homophobe Äußerungen russischer Politiker sondern das angeblich rechtswidrige Verhalten der Fluggesellschaft Swiss International Air Lines.
Die etwa 15 Demonstranten hielten aufblasbare Flugzeuge mit dem Emblem der Fluggesellschaft und riefen zum Boykott der Airline auf.

Die Schweizer Fluglinie – so die Demonstranten – hätten es zugelassen, dass Russlands bekanntester Schwulenaktivist, Nikolaj Aleksejew am 15. September aus dem Sicherheitsbereich des Moskauer Flughafen Domodedowo von Unbekannten entführt wurde.
Der Aktivist wollte seinen Freund in Genf besuchen.

Doch nachdem er bereits die Pass-, Körper- und Gepäckkontrolle passiert hatte, sei er von fünf Unbekannten, die aussahen “wie Ermittlungsbeamte” zwei Tage lang entführt worden.

Die Fluggesellschaft habe nichts unternommen. Sein Gepäck, eine blaue Reisetasche, sei ihm bis heute nicht wiedergegeben worden, erklärte der Aktivist. Man werde zum Boykott der Lufthansa aufrufen, wenn er sein Gepäck nicht bis Dienstag 18 Uhr (05.10.10) zurückbekomme, gab Aleksejew auf seinem Livejournal–Blog bekannt. Die Schweizer Fluggesellschaft gehört seit 2007 der Lufthansa.

Die Vorwürfe klingen ungeheuerlich. In der Zentrale der Fluggesellschaft in Zürich gibt man sich nun alle Mühe, den Verdacht zu entkräften, man habe einfach zugesehen, wie ein bekannter Aktivist entführt wurde.

Unternehmenssprecherin Andrea Kreuzer erklärte gegenüber dieser Zeitung, “Herr Aleksejew ist bei uns nach wie vor ein gern gesehener Kunde”.

Bei dem Passagier habe es aber “ein Problem bei der Sicherheits-kontrolle gegeben. Das liegt außerhalb unseres Verantwortungsbereichs.”

Herr Aleksejew müsse sich sein Gepäck bei der Flughafenverwaltung persönlich abholen. “So sind in Moskau die Vorschriften.”

Nikolaj Aleksejew sieht das ganz anders. Er habe bereits einen Ausreisestempel im Pass gehabt und sich im Sicherheitsbereich des Flughafens befunden. Dort trage die Fluggesellschaft für ihn die Verantwortung.

Freunde konnten den Aktivisten zwei Tage lang telephonisch nicht erreichen. In der Presse tauchten Meldungen auf, Aleksejew habe seine Klage gegen das Verbot des Gay Pride in Moskau beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zurückgezogen und Asyl in Weißrussland beantragt.
Nach seinem Wiederauftauchen in Moskau widersprach Aleksejew diesen Meldungen. Die Entführer – so der Aktivist – hätten Falschmeldungen von seinem Telefon aus verschickt.
Er sei in Polizeiwachen der Städte Kaschin und Tula festgehalten worden. Man habe ihn als “Kinderschänder” beschimpft und verlangt, er solle die Klage gegen das Verbot des Moskauer Gay Pride beim Men-schenrechtsgerichtshof in Straßburg zurückziehen. Wo er sich eigentlich befand, habe er nur durch sein iPad herausgefunden.

Nikolai Aleksejew selbst hält es für möglich, dass er von Leuten entführt wurde, die Bürgermeister Luschkow diskreditieren wollten.

Möglich sei aber auch, dass die Entführer aus dem Umfeld des ex-Bürgermeisters kommen.
Luschkow hatte damls die Demonstrationen von Schwulen und Lesben als “satanisches Treiben” bezeichnet.

Der Aktivist will nicht ausschließen, dass der russische Geheimdienst bei der Entführung die Hand mit im Spiel hatte. Es wäre nicht das erste Mal. Im Januar 2000 verschwand der Radio Svoboda-Korrespondent Andrej Babitzki in Tschetschenien spurlos.

Damals bestritten russische Sicherheitsstrukturen zunächst, dass sie mit dem Verschwinden etwas zu tun hatten. Nach Protesten der Öffentlichkeit gestand man dann ein, dass Babizki wegen “Missachtung der Vorschriften” festgehalten werde.
Ulrich Heyden, Moskau,
05.10.10, 14:10
 
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