101. Print-Ausgabe, Winter-LUST 09/10
 
Warum sind wir so?
Menschen werden von klein auf boshaften Situationen ausgesetzt. Und wenn sie dann entsprechend geprägt wurden, fragt man sich: Warum sind wir so?

Und wie wir sind, das kommt angeblich aus unseren Genen. Ja, da kannste gar nix manchen, wir sind eben so. Ach ja, die Prägung aus der Umwelt, die gibts auch noch, das wird heutzutage von den Vertretern der Psychobiologie und der Soziobiologie nicht mehr bestritten. Aber wieviel von wem macht den Menschen in seinem Verhalten aus?

Prägen die Gene das Verhalten eines Menschen? Oder hat er einen mehr oder weniger freien Willen? Oder wird der freie Wille auch durch die gesellschaftliche Prägung bzw. die Erziehung eingeschränkt?

Man weiß, dass besonders in der Nazi-Zeit soziale Verhaltensweisen als angeboren angesehen wurden, und dass es deshalb höher oder niedriger stehende Menschenrassen geben sollte. Und die niederen Rassen sollten ausgerottet werden. Und in der Gesellschaft gab es auch höhere und niedrigere Menschen, und die niedrigeren hatten für die höheren zu dienen. Alles ist angeboren, es gibt keinen Grund, sich zu beschweren, wenn man zu dienen hat.

„Gut und gierig - Warum sind wir so?“ fragt das konservative Blatt FOCUS in seiner 52. Ausgabe. Nu? Natürlich ist es genetisch angelegt. Und „Forscher (?) fahnden nach den Wurzeln der Moral und zeichen ein neues Bild vom Homo Sapiens als einzigem moraiischen Wesen der Erde“. Dabei wird eifrig Moral, Ethik und Religion vermischt. Kein erhellender Beitrag zur Diskussion um „die Suche nach dem Guten“. Es wird hier u.a. vom „Christlichen Wirtschaften“ geredet. Und „Aus dem Fressen kommt die Moral?“

Brechts Satz „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ wird hier frech verdreht, aber keine Antwort auf die selbst gestellte Frage.

Das Buch „Egoismus, Macht und Strategien - Soziobiologie im Alltag“ (Siehe auch S. 22 in diesem Heft) von Andreas Kilian überrascht erst in seinen klaren und differenzierenden Aussagen: „Das, was wir als unseren Körper ausmachen, ist eine Hülle, die mit Hilfe der genetisch hergestellten Enzyme permanent auf- und wieder abgebaut wird, um den Organismus durch Reparaturen betriebsbereit und somit am Leben erhalten. Eine Reparatur in voller Fahrt, weil Stillstand Tod bedeuten würde.
 
Der Zustand des Körpers ist eine Anpassung an die aktuelle Umwelt innerhalb der Grenzen, die uns die Gene dabei setzen. Ob wir körperlich oder gesitig fit sind, verdanken wir den Möglichkeiten zum Auf- und Abbau von Materie. (...) Aus „Das Ego aus der Sicht des Körpers“, S- 29 f. Weiter: „Wir sollten den Stolz unseres Egos nicht allzusehr strapazieren, bevor unser Körper nicht auch noch den Rest unseres Lebens hinter sich gebracht hat. All Ihre Schönheit und all Intelligenz kann durch ein einziges geplatztes Äderchen im Gehirn Ihren ganzen Triumumph über andere zunichte machen. Betrachten Sie Ihr körperliches Ego als das, was es ist: Ein Begleiter, den Sie hegen und Pflegen sollten, damit er Sie gut durch die Zeit bringt, und ein Hilfsmittel, um Spaß zu haben. Denn zu etwas anderem haben ihn Ihre Gene nicht geschaffen.“ A. a. O. S. 31.

Unter der Überschrift „Das Ego aus der Sicht der Psyche“ las ich: „Wie bereits erwähnt, gibt es keine Gene für den Egoismus, sondern nur ein Verhalten zur Vortilsnahme, welches vom Menschen im Nachhinein als egoistisch bezeichnet wird. Während die Vorteilsnahme der Individuen biologisch real ist, liegt die Wertung im Auge des Betrachters. Der Betrachter ist daher auch geneigt, dem Individuum nicht nur einen Egoismus, sondern auch ein Ego, als Kern und Ausgangspunkt der vermeintlichen Absichten, zu unterstellen.“ (S. 25)

Der Autor beschreibt auch die Chancen der Selektion, bei dem Wunsch, seine „guten Gene“ weitergeben zu wollen. „Einem anderen den Antrag ablehnen bedeutet biologish nichts anderes, als ihm mitzuteilen, dass man sich mit ihm nicht fortzupflanzen gedenkt (Ein glück, dass wil Lesben und Schwule dies ohnehin nicht wollen). Ein nein bedeutet: `Du bist mir zu dumm und hässlich! Kurz: Von Dir (!) will ich keine Kinder haben!`
 
Viele Menschcen bleiben partner- und kinderlos. Mit ihnen enden nicht nur ihre Lebensläufe, sondern auch fast vier Milliarden Jahre ununterbrochener Genfluss. ... Und mit dieser Genlinie sterben auch Mutationen und Anpassungen aus, die unsere Nachfahren später eventuell einmal brauchen könnten.) (S. 40 f)

Doch lasse einen Biologen ein Buch schreiben, und Du stolperst unweigerlich über solche Stellen, wo er das, was er aus irgendeinem Grunde gut findet, unter nicht immer nachvollziehbaren Argumenten biologisch rechtfertigt. So rechtfertigt er hier die traditionelle Ehe mit der „biologischen Notwendigkeit“ in der Kindererziehung, das kind von Vater und Mutter erziehen zu lassen. Überhaupt scheint er beim biologischen Ableiten von Sexpraktiken usw. ein bisschen den Witz verloren zu haben.

Das biologische Ableiten von gewünschten Verhaltensformen usw. ist aber nicht nur witzlos, sondern völlig unsinnig. Es lässt sich leicht als Ideologie erkennen und verleidet dem Leser die Lust am weiterlesen, obwohl er sich vorher durchaus angesprochen fühlte und es schade findet, wenn er gerade hier derart angesprochen wird. (js)
 
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